Kapitel 8

»Das kann dir doch egal sein, wenn die dich fürs Rumsitzen bezahlen«, meinte Lincolns Schwester Eve.

Er hatte Eve angerufen, weil ihm langweilig war. Und weil er schon alles im WebShark-Ordner gelesen hatte. Manches sogar zweimal …

Beth und Jennifer mal wieder. Er hatte ihnen keine Verwarnung geschickt. Immer noch nicht. Allmählich kam es ihm so vor, als würde er sie kennen, als wären sie befreundete Kollegen. Seltsam. Und noch ein weiterer Grund zu kündigen.

»Das ist mir ja auch egal«, erklärte er.

»Kommt mir nicht so vor. Du hast mich immerhin angerufen, um mir deshalb was vorzujammern.«

»Ich jammere doch gar nicht«, widersprach Lincoln ein wenig zu heftig.

»Das sollte doch nur dein Übergangsjob werden. Du hast gesagt, du wolltest eine Arbeit, bei der du nicht groß nachdenken musst, um all deine Energie auf die Frage zu verwenden, was du als Nächstes tun sollst.«

»Das stimmt.«

»Also, was schert es dich, wenn sie dich fürs Nichtstun bezahlen? Das klingt doch ideal. Lies Durchstarten zum Traumjob. Arbeite an deinem Fünfjahresplan.« Sie schrie beinahe in den Hörer, um das Geräusch irgendeiner Maschine zu übertönen.

»Ist das dein Staubsauger?«

»Mein Handstaubsauger.«

»Schalte ihn aus. Deine Stimme klingt so laut.«

»Die ist ja auch laut.«

»Na, damit klingst du jetzt aber viel zu laut«, meinte Lincoln. »Und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte.«

»Du hast rumgejammert, weil sie dich fürs Nichtstun bezahlen.« Eve stellte den Handstaubsauger ab.

»Das ist ja nur, weil mich die Tatsache, dass ich fürs Nichtstun bezahlt werde, eben ständig daran erinnert, dass ich so gar nichts mache«, erklärte Lincoln. »Und nichts zu tun ist viel anstrengender, als man meinen sollte. Ich bin ständig müde.«

»Wie kannst du denn ständig müde sein? Jedes Mal, wenn ich anrufe, schläfst du.«

»Eve, ich bin erst um ein Uhr nachts mit der Arbeit fertig.«

»Du solltest aber trotzdem gegen Mittag schon wieder wach sein.«

»Ich komme um halb zwei nach Hause. Dann sitze ich noch eine Stunde oder so vor dem Computer. Ich schlafe so gegen vier Uhr ein. Ich stehe um eins oder halb zwei auf. Und dann verbringe ich die nächsten drei Stunden damit, darüber nachzudenken, dass ich nicht mehr genug Zeit habe, um noch irgendwas zu unternehmen, bevor ich zur Arbeit muss. Ich schaue mir die Wiederholung von Zurück in die Vergangenheit an und sitze noch ein bisschen am Computer. Ich gehe zum Arbeiten. Spülen und Wiederholen. Zweite Strophe: wie die erste.«

»Das klingt übel, Lincoln.«

»Das ist übel.«

»Du solltest kündigen, Lincoln.«

»Ich sollte kündigen …«, stimmte Lincoln zu, »aber wenn ich diesen Job behalte, kann ich bei Mom ausziehen.«

»Wann?«

»Wann immer ich will. Ich werde gut bezahlt.«

»Kündige nicht«, sagte Eve mit Bestimmtheit. »Zieh aus. Find einen neuen Job. Dann kannst du kündigen.«

Er hatte gewusst, dass sie das sagen würde. Eves Ansicht nach würden sich all seine Probleme in Luft auflösen, wenn er nur bei ihrer Mutter auszog. »Du wirst nie dein eigenes Leben führen, solange du noch da wohnst«, verkündete Eve jedes Mal, wenn sie die Gelegenheit dazu hatte. Sie würde ihm auch raten, einen Job in einer Fleischfabrik zu behalten, wenn er auf die Art und Weise zu einem eigenen Apartment kommen würde.

Aber Lincoln war sich nicht so sicher, ob er ausziehen wollte. Er mochte Moms Haus. Ihm gefielen die ausgetretenen Pfade dort. Lincoln hatte die ganze obere Etage für sich allein, er hatte sogar ein eigenes Badezimmer. Und normalerweise störte seine Mutter ihn nicht. Manchmal wünschte er sich, sie würde ihm ein bisschen mehr Freiraum gönnen. Geistigen Freiraum …

»Findest du es denn nicht schrecklich, den Leuten erzählen zu müssen, dass du immer noch zu Hause wohnst?«, fragte Eve dann immer.

»Wer sollte mich denn fragen, wo ich wohne?«

»Neue Leute.«

»Ich lerne keine neuen Leute kennen.«

»Und das wirst du auch nie, wenn du weiter zu Hause wohnst.«

»Wen soll ich denn kennenlernen, wenn ich eine eigene Wohnung habe? Meinst du, ich bin der Typ, der am Pool rumhängt? Oder im Gemeinschaftsfitnessraum ein Gespräch anfängt?«

»Vielleicht«, meinte sie. »Warum denn nicht? Du kannst doch schwimmen.«

»Ich hasse diese Wohnanlagen. Ich mag den Teppichboden nicht und diese kleinen Betonbalkone und die Schränke da.«

»Was stimmt denn mit den Schränken nicht?«

»Die sind aus Faserplatten und riechen nach Mäusen.«

»Igitt, Lincoln, von was für Apartments redest du denn da?«

»Ich hab Freunde, die in solchen Wohnungen leben.«

»Na, offensichtlich ziemlich fiese Wohnungen.«

»Junggesellenwohnungen. Du weißt ja, wie die aussehen.«

Eve war mit neunzehn Jahren von zu Hause ausgezogen. Sie hatte Jake geheiratet, einen Typen, den sie an der Volkshochschule kennengelernt hatte. Er war zehn Jahre älter und in der Air Force. Er kaufte ihr ein Haus in einem Vorort, im Stil einer Ranch, und sie strich jedes Zimmer in einem anderen Pastellton.

Am Wochenende war Lincoln oft bei ihnen zu Besuch. Er war elf, und Eve hat ihm ein eigenes Zimmer bei ihnen eingerichtet. »Du bist hier immer willkommen«, hatte sie ihm damals erklärt. »Immer. Solange du willst. Das hier ist auch dein Zuhause.«

Er war gerne bei Eve und Jake, und er hatte dort nie das Bedürfnis, da rauszukommen. Und er hatte auch nicht das Bedürfnis, von seiner Mutter wegzukommen, nicht so wie Eve damals. Er verstand gar nicht, was da zwischen den beiden vorging. Wenn Eve über ihre Mutter sprach, erkannte er sie in den Geschichten nicht einmal wieder.

»Mom hatte doch nie eine Bong«, protestierte er.

»O doch, und ob. Selbst gemacht, aus einer Dr.-Pepper-Flasche, und die hat sie im Wohnzimmertisch aufbewahrt.«

»Jetzt weiß ich sicher, dass du lügst. Mom würde nämlich nie Dr. Pepper trinken.«

Als Lincoln am nächsten Nachmittag zur Arbeit kam, stritt Greg sich gerade am Telefon mit jemandem. Er hatte einen Berater von außerhalb angeheuert, um die Zeitung für die Millennium-Umstellung fit zu machen, und jetzt erklärte der Konsultant, dass er nicht vor Anfang Februar beim Courier vorbeischauen konnte. Greg nannte den Typen einen Scharlatan und einen einäugigen Streuner und legte auf.

»Ich kann euch mit dem Millennium-Zeug helfen«, erklärte Lincoln. »Ich hab auch mal ein bisschen programmiert.«

»Klar«, sagte Greg. »Das sind dann du, ich … und ein Haufen Achtklässler aus dem Matheclub. Das ist bestimmt alles gar kein Problem …« Er schaltete seinen Computer ab, indem er das Kabel aus dem Mehrfachstecker zog. Lincoln zuckte zusammen. »Despite all my rage I’m still just a rat in a cage – trotz all meiner Wut bin ich doch nur eine Ratte im Käfig«, murmelte Greg, suchte seine Unterlagen zusammen und griff nach seiner Jacke. »Bis morgen, Senator!«

Hm. Programmieren. Nach Fehlern im System suchen. Das waren zwar nicht gerade Lincolns Lieblingsbeschäftigungen, aber es war besser, als zu komprimieren und zu archivieren. Und es war ein Problem, das es zu lösen galt. Und es wäre ja nur für ein paar Monate, vielleicht sogar nicht mal.

Er warf einen Blick in den WebShark-Ordner. Nur zwei markierte E-Mails. Was bedeutete, dass er zwischen dreißig Sekunden und fünf Minuten brauchte, um heute seine tatsächliche Arbeit zu erledigen. Er hatte bereits beschlossen, sich das für nach dem Essen aufzuheben.

Denn heute Abend hatte er einen Plan.

Na ja … er hatte zumindest geplant, einen Plan zu erarbeiten. Er war heute früh aufgestanden, gegen Mittag, und in die Bibliothek gegangen, um nach dem Buch zu suchen, das Eve erwähnt hatte. Das steckte jetzt in seinem Rucksack, zusammen mit einer Kopie der heutigen Stellenanzeigen, einem gelben Textmarker, einem zehn Jahre alten Ringbuch, einer Ausgabe von Entertainment Weekly und einem Putensandwich, das so gut duftete, dass er sich nur mit Mühe und Not überhaupt auf etwas anderes konzentrieren konnte.

Um sieben Uhr war er mit der Zeitschrift und dem Sandwich durch.

Er überlegte, ob er sich als Nächstes die Anzeigen oder Durchstarten zum Traumjob vornehmen sollte – aber stattdessen griff er nach dem Ringbuch. Er legte es auf den Tisch und blätterte es vorsichtig durch, von seiner Mitschrift über den Unabhängigkeitskrieg bis hin zum Entwurf für einen Essay über Schöne neue Welt.

Lincoln wusste genau, was er suchte, irgendwo in der Mitte … und da war sie auch schon … Sams Handschrift. Lila Tinte. Viel zu viele Großbuchstaben.

DINGE, BEI DENEN LINCOLN GUT IST

Es war eine Liste. Sie hatte sie in seinem Abschlussjahr für ihn erstellt, als er versuchte, ein Hauptfach für die Uni zu finden. Lincoln wusste schon, auf welches College er gehen wollte – auf das, für das Sam sich entschied.

Seine Mutter hatte gewollt, dass er in der Nähe blieb. An der staatlichen Uni, die nur fünfundvierzig Minuten entfernt war, hatte man ihm ein Stipendium angeboten. Aber da würde Sam sich nie einschreiben. Sam wollte an eine Uni, die groß und wichtig und GANZ WEIT WEG war. Und Lincoln wollte bei ihr bleiben. Jedes Mal, wenn seine Mutter das Stipendium zur Sprache brachte, und wie nett an der staatlichen Uni der Campus war und wie er seine Wäsche mit nach Hause bringen konnte, dann stellte Lincoln sich vor, wie Sam ihre Sachen in den Bulli ihres Vaters packte und sich wie der letzte Sonnenuntergang in Richtung Westen davonmachte. Er konnte seine Wäsche auch selbst waschen.

Also überließ er Sam die Suche nach dem College. Sie schickte Anfragen nach Broschüren los und sah sich am Wochenende den Campus verschiedener Unis an. »Ich will ans Meer, Lincoln, ans Meer! Ich will die Gezeiten spüren. Ich will wie eines von diesen Beach-Girls aussehen, mit zerzaustem Haar und roten Wangen. Und ich will auch Berge, zumindest einen Berg, wenn das nicht zu viel verlangt ist. Und Bäume. Nicht unbedingt einen ganzen Wald, ein kleines Hölzchen tut es auch. Landschaft. Ich will Landschaft!« Ordentlich was zwischen den Zähnen, dachte Lincoln.

Sam suchte sich ein College in Kalifornien aus – nicht zu weit weg vom Meer, nicht zu weit weg von den Bergen –, mit einem Campus voller Bäume und einem soliden Theaterprogramm. Lincoln wurde auch angenommen, und man bot ihm ein halbes Dutzend Stipendien an.

Im Prinzip, so hatte er seiner Mutter erklärt, kam er damit etwa auf denselben Betrag wie bei der staatlichen Einrichtung. »Ja«, antwortete sie, »aber dafür sind die Studiengebühren viermal so hoch.«

»Du musst sie ja nicht bezahlen«, gab er zurück.

»Jetzt werd mal nicht frech.«

»Ich wollte nicht frech werden.« Wollte er wirklich nicht.

Er wusste, dass es ihr zu schaffen machte, ihm das College nicht zahlen zu können. Na ja, zumindest manchmal. Das College war seine Sache. Sie erwartete von ihm, dass er es sich selbst finanzierte, genauso wie sie von ihm erwartet hatte, sich die Nintendo-Konsole selbst zu kaufen. »Du kannst es gerne haben, wenn du bereit bist, es selbst zu bezahlen. Dann musst du eben sparen.«

»Ich hab doch gar kein Geld«, hatte er damals, in der neunten Klasse, widersprochen.

»Und dafür solltest du dankbar sein, Lincoln. Geld ist grausam. Es steht zwischen dir und den Dingen, die du haben willst, und den Menschen, die du liebst.«

»Wieso steht Geld denn zwischen mir und den Menschen, die ich liebe?«

»Es treibt jetzt gerade einen Keil zwischen uns beide.«

Was seine Mutter an dem College in Kalifornien Sorgen bereitete, waren nicht die Studiengebühren. Sie wollte nicht, dass er nach Kalifornien ging, weil sie nicht wollte, dass er wegging. Sie wollte nicht, dass er so weit wegging. Und sie wollte schon gar nicht, dass er mit Sam so weit wegging.

Seine Mutter mochte Sam nicht.

Sie hielt Sam für eine Egoistin, die die Menschen manipulierte. (»Ein Esel schimpft den anderen Langohr«, hatte Eves Kommentar dazu gelautet.) Seine Mutter fand Sam laut. Und aufdringlich. Und zu sehr von ihren Ideen überzeugt. Sie beschwerte sich, wenn Lincoln zu viel Zeit bei Sam verbrachte. Aber wenn er Sam mit nach Hause brachte, dann war es noch viel schlimmer. Sam tat irgendwas – ordnete die Gewürze im Regal, schaltete zu oft das Licht ein oder sagte, dass sie grüne Paprika oder Walnüsse oder Susan Sarandon nicht ausstehen konnte –, und das brachte seine Mutter auf die Palme. »Ist die immer so, Lincoln?«

»Immer wie?«

»Immer so auf Hochtouren

»Ja«, antwortete er und versuchte, nicht allzu sehr durchklingen zu lassen, wie glücklich er war. »Immer.«

Seine Mutter ertrug die Sache mit Sam beinahe stillschweigend, etwa ein Jahr lang. Dann begann sie, sich mit Lincoln darüber zu unterhalten, wie jung er doch noch war, viel zu jung, um sich schon so auf eine einzige Person festzulegen. Sie bat ihn, die Sache ruhiger anzugehen, darüber nachzudenken, sich auch mit anderen Mädchen zu treffen. Sie erklärte: »Das ist, als würdest du dir ein Hemd kaufen. Wenn du shoppen gehst, dann kaufst du doch auch nicht das erste Hemd, das du anprobiert hast, auch wenn es dir gefällt. Du guckst erst mal weiter, probierst noch andere an. Um sicherzugehen, dass du schließlich das Hemd findest, das am besten zu dir passt.«

»Aber, Mom, was wäre denn, wenn das erste Hemd gleich das beste ist? Und wenn sie es nicht mehr haben, wenn ich nach meinem Shoppingbummel wieder zurückkomme? Und wenn ich dann nie wieder ein Hemd wie das finde?«

Sie war nicht an Widerworte von ihm gewöhnt. »Es geht hier nicht um Hemden, Lincoln.«

Sie benutzte immer seinen Namen, wenn sie mit ihm sprach. Ansonsten sagte niemand seinen Namen, außer wenn jemand ihn rief. Es war, als würde sie sich selbst auf die Schulter klopfen, weil ihr so ein toller Name eingefallen war – oder vielleicht wollte sie ihn auch daran erinnern, dass sie ihn schließlich so genannt hatte. Dass er ihr Werk war. Ein einziges Mal hatte Lincoln ihr während seiner leidlich rebellischen Teenagerzeit entgegengeschleudert: »Du verstehst mich einfach nicht!«

»Und ob ich dich verstehe, Lincoln«, hatte sie entgegnet. »Ich bin deine Mutter. Niemand wird dich je wieder so gut kennen wie ich. Niemand wird dich je wieder so sehr lieben.«

Sam hatte bewiesen, dass seine Mutter falschlag.

Und dann hatte sie gezeigt, dass sie doch recht gehabt hatte.

Aber bevor das alles passiert war, hatten sie mit dem grünen Ringbuch zusammen auf seinem Bett gesessen, und Sam hatte gedrängt: »Jetzt komm schon, Lincoln, du musst dir doch irgendein Hauptfach aussuchen.«

»Such du es für mich aus«, hatte er gesagt. Er hatte seinen Kopf in ihren Schoß gebettet und weiter in seinem Taschenbuch gelesen, irgendwas mit Schwertern und Zwergenköniginnen.

»Lincoln. Im Ernst. Du musst ein Hauptfach angeben. Das ist so vorgeschrieben. Lass uns doch mal vernünftig nachdenken. Was möchtest du mit deinem Leben anfangen?«

Er ließ das Buch sinken und lächelte sie an, bis sie zurücklächelte. »Du«, verkündete er und berührte Sam mit dem Daumen am Kinn.

»Du kannst ja schlecht mich als Hauptfach wählen.«

Er wandte sich wieder seinem Buch zu. »Dann entscheide ich das eben später.«

Sie nahm ihm das Buch weg. »Können wir jetzt bitte darüber reden? Und zwar ernsthaft?«

Er seufzte und setzte sich auf. »Okay. Wir reden ja schon darüber.«

»Okay.« Sie lächelte, sie bekam ihren Willen. »Also, überleg doch mal, womit möchtest du gerne dein Geld verdienen?«

»Ich weiß nicht.«

»Was glaubst du denn, was du vielleicht wollen würdest

»Ich weiß nicht.«

»Worin bist du denn gut? Und sag jetzt bitte nicht, das weißt du nicht.«

Er sagte überhaupt nichts. Jetzt lächelte sie nicht mehr. »Na schön«, verkündete sie, »dann machen wir eben eine Liste.« Sie schlug den Block auf und schrieb DINGE, BEI DENEN LINCOLN GUT IST ganz oben auf die Seite.

»Ein freistehender Relativsatz«, murmelte er. »Ein fragwürdiger Anfang.«

Nr. 1, schrieb sie, Grammatik.

»Und Rechtschreibung«, warf er ein. »In der fünften Klasse hab ich den Buchstabierwettbewerb gewonnen.«

2. Rechtschreibung

3. Mathe

»Ich bin nicht gut in Mathe.«

»Und ob«, sagte sie. »Du hast doch Mathe als Leistungskurs.«

»Ich bin gut genug, um Mathe als Leistungskurs zu nehmen, aber im Mathe-LK bin ich nicht gut. Ich krieg nur ’ne Zwei.«

Sie unterstrich »Mathe«.

»Was noch?«, fragte sie.

»Das gefällt mir hier gar nicht«, maulte er.

»Was. Noch.« Sie piekte ihn mit dem lila Kuli.

»Ich weiß auch nicht. Geschichte. Ich bin gut in Geschichte.«

4. Geschichte

»In Physik bist du auch gut«, meinte sie. »Und in Sowi. Ich hab dein Zeugnis gesehen.«

»Du stellst das so hin, als wäre ich bei sechs verschiedenen Sachen gut, dabei ist das alles doch nur das Gleiche.« Er nahm den Stift und strich ihre Liste durch. Dann schrieb er an den Rand:

1. Schule

Sam nahm den Kuli wieder an sich.

2. Völlig zutreffende Listen ruinieren

Er griff erneut nach dem Stift. »Stopp«, knurrte sie. »Das ist nicht deine Liste, sondern meine.«

»Mir soll’s recht sein.« Er griff wieder nach seinem Buch, legte den Arm um sie und kuschelte sich an sie. Sie widmete sich erneut der Liste. Er las weiter. Etwa eine Stunde später brachte er sie zu ihrem Auto. Als er in sein Zimmer zurückkam, lag der Block offen auf seinem Kissen.

DINGE, BEI DENEN LINCOLN GUT IST

1. Schule

2. Listen ruinieren, die völlig in Ordnung sind

3. Dingen aus dem Weg gehen

4. Sich keine Gedanken über die Sachen machen, über die er WIRKLICH mal nachdenken sollte

5. Sich keine Gedanken über die Sachen machen, über die er wirklich nicht nachdenken sollte

6. Ruhig bleiben/ruhig sein/Ruhe

7. Mit einer Hand umblättern

8. Lesen

9. Schreiben

10. So ziemlich alles, was mit Wörtern zu tun hat

11. Und auch so ziemlich alles, was mit Zahlen zu tun hat

12. Erraten, was die Lehrer wollen

13. Erraten, was ich will

14. FUMMELN (Ha!)

15. Über meine Witze lachen

16. Sich an Witze erinnern

17. Sich an Songtexte erinnern

18. Singen

19. Computer wieder zum Laufen bringen/Halsketten entwirren

20. Verwirrende Dinge gut erklären/gute Wegbeschreibungen liefern

21. Bei schlechtem Wetter Auto fahren

22. An Sachen drankommen

23. Helfen

24. Niedlich sein

25. Mir das Gefühl geben, niedlich zu sein

26. Mich zu Begeisterungsstürmen hinreißen

27. Begeisterungsstürme

28. Mir das Gefühl geben, wichtig zu sein

29. und geliebt zu werden

30. Mir zuhören, wenn mich sonst niemand mehr ertragen kann

31. Mich ansehen, als wüsste er etwas, was ich nicht weiß

32. Dinge wissen, die ich nicht weiß

33. SCHLAU sein

34. SENSIBEL sein

35. LIEB sein

36. GUT sein

Als Sam ihn am nächsten Morgen zur Schule abholte, erklärte sie ihm, dass sie ein Hauptfach für ihn gefunden hatte. »Amerika-Studien«, verkündete Sam.

»Was ist das denn?«

»Irgendwie ein bisschen von allem. Es geht um alles, was in Amerika heute so passiert. Und passiert ist. Und Popkultur. Es fügt alle Teilchen zusammen, bis sie einen Sinn ergeben.«

»Das klingt ja spannend«, meinte Lincoln.

»Jetzt werd mal nicht sarkastisch«, grummelte sie.

»Werde ich gar nicht. Das klingt wirklich spannend. Es klingt perfekt.«

Es war Februar, und Sam trug eine dicke rosa Jacke und einen weißen Schal. Er zog den Schal ein wenig nach unten, um sie zu küssen. »Perfekt für mich«, erklärte er.

Im August gab Sams Familie für sie eine Abschiedsparty, nur ein paar Tage, bevor Lincoln und sie zusammen nach Kalifornien aufbrachen. Ihre Eltern veranstalteten ein Feuerwerk und liehen sich eine Karaokemaschine. Die Party war noch immer in vollem Gange, als Lincoln gegen Mitternacht auf einem Liegestuhl einschlief. Er war nicht sicher, wie spät es war, als Sam sich an ihn kuschelte. Sie roch wie der fünfte Juli, nach Schweiß und Feuerwerksraketen.

»Hast du dich von allen verabschiedet?«, fragte er.

Sam nickte. »Ja, auch in deinem Namen. Du hast alle auf den Mund geküsst. Ganz schön peinlich.«

»Wie denn?«

Sie gab ihm einen raschen Kuss. Sie kam ihm seltsam vor, so hektisch und kribbelig. Hellwach.

»Alles klar bei dir?«, fragte Lincoln.

»Hm … ja, ich denke schon. Gott, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«

Sie stand vom Liegestuhl auf und ging auf die Veranda ihrer Eltern zu, sammelte schmutzige Plastikbecher auf und stellte sie dann wieder auf den Rasen.

»Ich denke … ich bin einfach so weit.«

»Was meinst du?« Lincoln setzte sich auf und versuchte zu begreifen, was sie da sagte. Der Mond schien nur ganz schwach, er konnte ihr Gesicht nicht erkennen.

»Ich bin bereit für Veränderungen«, verkündete Sam. Sie setzte sich auf einen Klapptisch und fingerte an einer Luftschlange herum. »Es kommt mir vor, als hätte sich schon alles geändert. Ich dachte zum Beispiel, ich würde es furchtbar finden, mich von allen zu verabschieden. Ich hab geglaubt, ich würde nur noch heulen – hab ich aber gar nicht. Mir war überhaupt nicht zum Weinen zumute. Viel mehr nach Singen. Gott, es kam mir vor, wie ›Ja, macht’s gut!‹. Nicht wie ›Endlich bin ich euch los‹, einfach nur ›Macht’s gut!‹.«

»Ich hab solche Lust auf neue Gesichter«, erklärte Sam und warf die Papierschlangen in die Luft. »In zwei Tagen werde ich an einem Ort sein, wo ich herumlaufen kann und keinen einzigen Menschen wiedererkennen werde. Jede einzelne Person wird jemand völlig Neues sein. Einfach nur frisch und neu und voller Möglichkeiten. Einfach unbegrenzte Möglichkeiten. Ich kenne ihre Geschichten nicht. Und niemand raubt mir den letzten Nerv.«

Er ging zum Campingtisch hinüber und setzte sich neben sie. »Zumindest sechsunddreißig Stunden lang.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass du dir deinen letzten Nerv ziemlich schnell rauben lässt.«

Sie schob das Kinn vor. »Vielleicht wird sich das ja auch ändern. Ich bin dann nämlich ebenfalls brandneu. Vielleicht hat mein neues Ich sogar Geduld.«

»Vielleicht.« Er legte den Arm um sie. Sie war so winzig, auf einmal wollte er sie gerne in den Arm nehmen und drücken.

»Hast du nicht auch das Gefühl, Lincoln? Dass sich alles ändern wird?«

Er hielt sie ganz fest. »Nicht alles.«

Seit der Highschool hatte Lincoln diesen Block ein Dutzend Mal hervorgekramt. Er hatte ihn jedes Mal hervorgeholt, wenn er mal wieder das Hauptfach wechselte, jedes Mal, wenn er einen Plan aufstellte oder einen Abschluss machte.

Er hoffte jedes Mal, dass da etwas auf dieser Liste stand, das er all die anderen Male übersehen hatte, eine grundlegende Wahrheit über ihn selbst, ein Hinweis darauf, was er tun sollte. Oder eben nicht tun sollte. Wie konnte es sein, dass er bei Nummer 19, Computer wieder zum Laufen kriegen, hängen geblieben war?

Weil man vom Entwirren von Halsketten nicht leben konnte? Warum konnte es nicht Nummer 29 sein? Oder sogar die 27 …

Jedes Mal, wenn Lincoln wieder zu der Liste griff, dachte er letztendlich mehr über Sam nach als über seine berufliche Zukunft. In dieser Nacht kam er nicht mehr zu den Stellenanzeigen oder zum Buch aus der Bücherei oder zu seinem Plan.

Liebe auf den zweiten Klick
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