Kapitel 31
»Du hast schon lange nicht mehr über die Arbeit gejammert«, meinte Eve. »Gefällt es dir dort jetzt besser?«
Sie hatte die Jungs für ein sonntägliches Mittagessen nach dem Kirchgang mitgebracht. Lincolns Mutter hatte einen Kartoffelauflauf mit Eiern, Truthahn, Tomaten, Pilzen, Löwenzahnblättern und drei Sorten Käse gemacht.
»Bei der Arbeit läuft’s gut«, antwortete Lincoln.
»Langweilst du dich nicht mehr?«, fragte Eve.
»Wahrscheinlich hab ich mich inzwischen daran gewöhnt«, vermutete er und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.
»Schaust du dich noch immer nach einem Job mit besseren Arbeitszeiten um?«
Er zuckte mit den Achseln. »Wenn ich wirklich wieder zur Uni gehen will, sind diese Zeiten doch ideal.«
Eve runzelte die Stirn. Sie war an diesem Nachmittag besonders gereizt. Als sie zur Tür hereinkamen, hatte ihre Mutter die Jungen gefragt, ob sie sich gut mit ihrer höheren Macht unterhalten hatten.
»Jesus«, hatte Eve korrigiert, »wir nennen ihn Jesus.«
»Das ist einer der Namen, auf die die höhere Macht hört«, hatte ihre Mutter entgegnet.
»Also« – Eve wandte sich jetzt wieder an Lincoln und spießte einen Pilz auf – »dann hast du wohl genug Geld gespart, um dir eine Bleibe näher am Campus zu suchen?«
»Da kann man doch von hier aus gut hinfahren«, erklärte er ruhig.
Ihre Mutter fing an, jedem noch eine zweite Portion Auflauf aufzulegen. Er konnte sehen, dass sie hin- und hergerissen war. Auf der einen Seite fand sie es immer noch nicht gut, dass er wieder zur Uni gehen wollte, auf der anderen Seite hasste sie es, wenn Eve ihn so unter Druck setzte.
»Warum macht ihr das?«, fragte ihre Mutter und sah ihre Enkel stirnrunzelnd an. Die Jungen sortierten den Auflauf auf ihrem Teller in kleine Häufchen.
»Was denn?«, fragte Eve.
»Warum essen sie ihr Essen nicht?«
»Sie mögen es nicht, wenn sich die Sachen vermischen.«
»Was denn für Sachen?«, wollte ihre Mutter wissen.
»Ihr Essen. Sie mögen es nicht, wenn verschiedene Lebensmittel gemischt sind.«
»Wie servierst du ihnen denn ihr Essen, in Eiswürfelschalen?«
»Wir essen immer nur zwei Sachen, Grandma«, erklärte Eves ältester Sohn, der sechsjährige Jake jr.
»Wie jetzt, zwei Sachen?«
»Zum Beispiel Hotdogs und Nudeln«, führte Jake aus. »Oder Hamburger und Mais.«
»Ich mag keinen Ketchup auf meinem Hamburger«, verkündete der vierjährige Ben.
»Ich mag Ketchup, aber daneben«, fügte Jake hinzu.
»Gut«, sagte Lincolns Mum, griff nach ihren Tellern und kratzte das Essen auf ihren eigenen. »Habt ihr Jungs noch Hunger? Es gibt Obst, ich hab Bananen da, esst ihr gerne Bananen?«
»Also bleibst du hier?« Eve nahm Lincoln mit neuer Unerbittlichkeit wieder aufs Korn. »Du bleibst einfach hier wohnen?«
»Im Moment ja«, erwiderte er.
»Lincoln ist hier immer willkommen«, warf ihre Mutter ein.
»Na, das glaube ich gerne«, grummelte Eve. »Du heißt ihn dazu willkommen, hier für den Rest seines Lebens zu verrotten.«
Lincoln ließ seine Gabel sinken.
»Grandma«, maulte Ben, »die Banane ist schmutzig.«
»Die ist nicht schmutzig«, widersprach sie.
»Sie ist braun«, bekräftigte er.
»Das ist bananenfarben.«
»Bananen sind doch gelb«, protestierte Ben.
»Lincoln verrottet doch nicht«, sagte seine Großmutter.
»Aber er lebt auch nicht«, versetzte Eve.
»Erzähl mir nicht, wie ich meinen Sohn zu erziehen habe.«
»Er ist achtundzwanzig Jahre alt«, knurrte Eve. »Die Sache ist längst gegessen. Dein Beitrag reicht vollkommen.«
»Vollkommen, wie Jesus«, sagte Jake.
»Nein, nicht wie Jesus«, stellte Eve klar.
Lincoln stand vom Tisch auf. »Möchte noch jemand Saft? Ben? Jake?« Seine Neffen ignorierten ihn.
»Man ist nie damit fertig, seine Kinder zu erziehen«, erklärte Eves Mutter. »Das wirst du schon noch begreifen. Damit bist du nie fertig, bis sie irgendwann tot sind.«
»Jesus ist mit dreiunddreißig gestorben«, sagte Jake.
»Jetzt lass es gut sein mit Jesus«, rief Eve.
»Jesus!«, quietschte Ben.
»Ich bin immer noch Lincolns Mutter. Und ich bin auch immer noch deine Mutter. Ob es dir nun passt oder nicht, ich bin noch längst nicht damit fertig, euch beide zu erziehen.«
»Damit hast du doch nie auch nur angefangen«, fauchte Eve.
»Eve …«, flehte Lincoln.
»Jungs, ihr dürft aufstehen«, sagte Eve.
»Ich hab aber immer noch Hunger«, wandte Ben ein.
»Können wir nicht zu Wendy’s gehen?«, fragte Jake.
»Erzähl mir doch mehr darüber, wie man eine gute Mutter ist«, spöttelte ihre Mutter.
»Eines kann ich dir auf jeden Fall sagen«, verkündete Eve, »meine Jungen werden ihr eigenes Leben leben. Sie werden sich zu Dates verabreden und heiraten und ausziehen. Ich werde ihnen nicht das Gefühl vermitteln, dass sie mich nicht alleinlassen dürfen.«
»Das hab ich nie getan.«
»Du bist den ganzen ersten Monat mit mir in den Kindergarten gekommen.«
»Darum hast du mich doch gebeten.«
»Ich war fünf«, entrüstete sich Eve. »Du hättest nein sagen müssen.«
»Du hattest Angst.«
»Ich war fünf.«
»Lincoln hab ich zu Hause behalten, bis er sieben war, und darüber bin ich froh. Da war er einfach viel besser gerüstet.«
Lincoln war auch für den Kindergarten gerüstet gewesen. Er konnte bereits lesen und ein wenig addieren und multiplizieren. Letztendlich hatte er dann die erste Klasse übersprungen.
»O mein Gott!« Eve warf ihre Gabel auf den Tisch. »Du solltest dich mal reden hören!«
»Rede nicht über Jesus, Mommy«, flüsterte Ben.
»Kommt mit, Jungs«, rief Lincoln. »Wir gehen nach draußen, Fußball spielen.«
»Du spielst aber total schlecht«, nörgelte Jake.
»Ich weiß«, sagte Lincoln, »aber ihr könnt es mir ja beibringen.«
Die Küchenfenster waren offen. Nachdem Lincoln seine Neffen mit nach draußen genommen hatte, konnte er immer noch hören, wie sich seine Schwester und seine Mutter stritten.
»Beim Essen vermischen sich die Sachen nun mal«, hörte Lincoln seine Mutter sagen. »Auf der Welt vermischen sich die Sachen nun mal!«
Nach etwa zwanzig Minuten erschien Eve an der Hintertür und rief die Jungs, sie sollten sich von Grandma verabschieden. Eve sah frustriert und wütend aus, und sie hatte geweint.
»Wir fahren zu Wendy’s«, sagte sie zu Lincoln. »Willst du mitkommen?«
»Nein, ich bin satt.«
»Es tut mir nicht leid, dass ich das alles gesagt habe«, erklärte sie. »Denn das stimmt ja alles. Du verrottest hier nur.«
»Vielleicht«, sagte er. »Aber vielleicht ist es auch nur ein Reifungsprozess.«
Eve knallte die Hintertür zu.