Kapitel 4

Nur fürs Protokoll – sein persönliches, internes Protokoll –, Lincoln hätte sich niemals um diesen Job beworben, wenn in der Anzeige gestanden hätte: »Wir suchen für unser Unternehmen jemanden, der die E-Mails anderer Leute liest. Spätschicht.«

Die Anzeige des Courier lautete stattdessen: »Vollzeitangebot, Beauftragter für Internetsicherheit, $ 40.000+, Kranken- und Zahnzusatzversicherung.«

Beauftragter für Internetsicherheit. In seiner Vorstellung installierte Lincoln Firewalls und schützte die Zeitung vor gefährlichen Hackern – da ging es nie darum, jedes Mal Alarm zu schlagen, wenn in der Buchhaltung jemand dem Nachbarn am nächsten Arbeitsplatz einen fiesen Witz schickte.

Der Courier war vermutlich die letzte Zeitung in ganz Amerika, die sich dazu durchgerungen hatte, ihren Mitarbeitern Zugang zum Internet zu gewähren. Das sagte zumindest Greg. Greg war Lincolns Boss, der Chef der Informatikabteilung. Er konnte sich noch an die Zeit erinnern, als die Reporter elektrische Schreibmaschinen benutzten. »Und zwar deshalb«, erklärte er, »weil das noch gar nicht lange her ist – 1992. Wir sind nur auf Computer umgestiegen, weil die Farbbänder nicht mehr verkauft wurden. Ohne Scheiß.«

Greg meinte, dass diese ganze Online-Sache sich gegen den Willen der Geschäftsführung durchsetzte. In den Augen des Verlegers bedeutete die Einführung des Internets am Arbeitsplatz, dass man den Angestellten die Wahl ließ zu arbeiten, wenn ihnen der Sinn danach stand, oder sich Pornos anzugucken, wenn sie dazu Lust hatten.

Aber langsam wurde es einfach albern, kein Internet zu haben.

Als die Zeitung letztes Jahr ihre Online-Version ins Netz stellte, hatten die Reporter nicht einmal die Möglichkeit, ihre eigenen Artikel dort zu lesen. Und außerdem wollte inzwischen jeder seine Leserbriefe per E-Mail schicken, selbst Drittklässler und Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg.

Als Lincoln seinen Job beim Courier antrat, brach für das Internetexperiment bereits der dritte Monat an. Alle Mitarbeiter hatten jetzt interne E-Mail-Adressen. Wichtige Angestellte, und beinahe jeder in der Nachrichtenredaktion, hatten zumindest eingeschränkten Zugang zum World Wide Web.

Wenn man Greg fragte, lief eigentlich alles prima.

Wenn man jemanden in der Geschäftsführung fragte, herrschte heilloses Chaos.

Es wurde online getratscht und geshoppt, die Leute meldeten sich in Internetforen an oder machten bei imaginären Fußball-Ligen mit. Es gab sogar das eine oder andere Glücksspiel. Und ein wenig Schweinkram. »Das ist aber eigentlich gar nicht so schlimm«, lautete Gregs Argument. »Auf die Art und Weise können wir die Perverslinge leicht herausfiltern.«

Gregs Vorgesetzten zufolge war jedoch das Schlimmste am Internet, dass man einen Raum voller Menschen, die angestrengt arbeiteten, jetzt nicht mehr von einem Raum voller Mitarbeiter unterscheiden konnte, die gerade mit dem Was-für-eine-Hunderasse-bin-ich-Online-Quiz beschäftigt waren.

Und daher … Lincoln.

An seinem ersten Abend hatte Lincoln Greg dabei geholfen, im Netzwerk ein neues Programm namens WebShark zu installieren. WebShark überwachte alles, was die Leute im Internet oder Intranet so trieben. Jede E-Mail. Jede besuchte Webseite. Jedes Wort.

Und Lincoln wiederum überwachte WebShark.

Jemand mit einer besonders schmutzigen Fantasie (vermutlich Greg) hatte die Filter der E-Mail-Überwachung des Programms erstellt. Es gab eine ganze Liste von Begriffen, die die Alarmglocken schrillen ließen: fiese Ausdrücke, rassistische Beleidigungen, die Namen von Vorgesetzten und Wörter wie »geheim« und »privat«.

Dieses Wort, »privat«, hatte beim ersten Einsatz von WebShark das gesamte Netzwerk innerhalb einer Stunde auflaufen lassen, weil es jede einzelne Mail an die oder von der Abteilung für private Kleinanzeigen markiert und gespeichert hatte.

Das Shark-Programm sprang auch auf große Dateianhänge, verdächtig lange Nachrichten und verdächtig häufige Mails an … Jeden Tage wurden Hunderte von möglicherweise unangemessenen E-Mails an eine sichere Mailbox geschickt, und es war Lincolns Job, sie eine nach der anderen unter die Lupe zu nehmen. Was bedeutete, dass er sie lesen musste, also las er sie eben. Aber es machte ihm keinen Spaß.

Vor seiner Mutter wollte er es nicht zugeben, aber was er tat, fühlte sich tatsächlich falsch an, als würde er die Kollegen belauschen. Wenn er wenigstens ein Typ wäre, der sich bei so was amüsierte … Sam, seine Exfreundin, hatte immer gerne in fremden Medizinschränkchen herumgeschnüffelt. »Hustensaft«, hatte sie dann auf dem Heimweg im Auto erklärt. »Und ganz stinknormale Pflaster. Und irgendwas, das wie eine Knoblauchpresse aussieht.«

Lincoln fand es ja sogar schon unangenehm, bei anderen Leuten das Badezimmer auch nur zu betreten.

Und dann gab es da diesen ganzen komplizierten Ablauf, den er befolgen musste, wenn er beim Courier tatsächlich jemanden bei einem Regelverstoß erwischte. Aber der Großteil der Zuwiderhandlungen ließ sich mit einer schlichten Verwarnung ahnden, und danach hatten es die Übeltäter meistens begriffen.

Ehrlich gesagt war die erste Verwarnungsrunde so effektiv gewesen, dass Lincoln allmählich nichts mehr zu tun hatte. WebShark filterte noch immer E-Mails heraus, ein paar Dutzend am Tag, aber es war meistens falscher Alarm. Greg schien das nicht zu stören. »Keine Sorge«, beruhigte er Lincoln, als WebShark zum ersten Mal keinen einzigen wirklichen Regelverstoß entdecken konnte. »Die schmeißen dich nicht raus. Die da oben finden es super, was du machst.«

»Aber ich tue doch gar nichts«, entgegnete Lincoln.

»Na, und ob. Du bist der Typ, der die E-Mails liest. Die haben alle Angst vor dir.«

»Wer hat Angst? Und wer sind denn ›die‹?«

»Na, alle. Machst du Witze? Das ganze Gebäude redet über dich.«

»Die haben doch keine Angst vor mir. Die haben Angst davor, erwischt zu werden.«

»Von dir erwischt zu werden. Zu wissen, dass du jede Nacht in ihren gesendeten Mails herumschnüffelst, reicht schon, um sie dazu zu bringen, die Regeln einzuhalten.«

»Ich schnüffele doch gar nicht herum.«

»Könntest du aber«, erwiderte Greg.

»Ach ja?«

Greg wandte sich wieder seiner vorherigen Beschäftigung zu, einer Art Laptop-Autopsie. »Hör mal, Lincoln, ich hab’s dir doch erklärt. Irgendwer muss hier nachts Wache schieben. Um ans Telefon zu gehen und sich mit ›Help Desk‹ zu melden. Ich weiß, du sitzt hier einfach nur herum. Ich weiß, du hast nicht genug zu tun. Aber das ist mir egal. Lös Kreuzworträtsel. Lern eine Fremdsprache. Wir hatten mal eine, die hat immer gehäkelt …«

Lincoln konnte nicht häkeln.

Er las die Zeitung. Er brachte sich Comics, Zeitschriften und Taschenbücher mit. Und manchmal rief er seine Schwester an, wenn es noch nicht zu spät war und wenn er sich besonders einsam fühlte.

Die meiste Zeit surfte er im Internet.

Liebe auf den zweiten Klick
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