Kapitel 6

Laut Firmenverzeichnis war Jennifer Scribner-Snyder Korrektorin in der Kulturredaktion.

Beth Fremont kannte Lincoln. Jedenfalls wusste er, wer sie war. Er hatte ihre Filmkritiken gelesen. Sie war witzig, und er war meistens mit ihr einer Meinung. Ihretwegen hatte er sich Dark City, Flirting with Disaster und Ein Schweinchen namens Babe angesehen.

Als Lincoln endlich begriff, dass er Beth Fremont und Jennifer Scribner-Snyder keine Verwarnung geschickt hatte – und das nach wie vielen Verstößen? Einem halben Dutzend? –, da wusste er gar nicht so recht, warum eigentlich nicht. Vielleicht, weil ihm nie so ganz klar war, gegen welche Regel sie eigentlich verstießen. Vielleicht auch, weil sie so völlig harmlos wirkten. Und nett.

Und jetzt konnte er ihnen keine Warnung schicken, nicht heute Abend. Nicht, nachdem sie sich tatsächlich Sorgen darüber gemacht hatten, ob sie wohl verwarnt würden. Das wäre doch seltsam, oder nicht? Zu erfahren, dass jemand die E-Mail gelesen hat, in der man sich gefragt hat, ob wohl jemand diese E-Mails liest? Wenn man ganz besonders paranoid war, konnte man sich dann auch fragen, ob all die anderen Dinge, über die man sich Sorgen machte, womöglich auch zutrafen. Man könnte sogar denken: Vielleicht sind die da draußen alle hinter mir her.

Lincoln wollte auf keinen Fall der böse Typ aus Hackers sein.

Und außerdem … außerdem mochte er Beth und Jennifer, so weit man jemanden mögen kann, den man nur von seinen E-Mails her kennt, sogar nur von einigen E-Mails.

Er las die Unterhaltung noch einmal. »Dummkopf« war auf jeden Fall ein Begriff, der die Alarmglocken läuten ließ. Genauso wie »Zocker« und »Porno«. Bei »Perverser« oder »Menstruation« war er sich nicht so sicher.

Er verschob die Nachrichten in den Papierkorb und ging nach Hause.

»Du musst mir doch kein Mittagessen einpacken«, sagte Lincoln zu seiner Mutter. Obwohl er es gerne hatte, wenn sie ihm etwas zu essen mitgab. Seit er wieder zu Hause wohnte, hatte er kaum noch Fast Food gegessen. Bei seiner Mutter brutzelte stets etwas in der Pfanne, schmorte im Backofen oder kühlte auf einem Teller aus. Und wenn er sich auf den Weg zur Arbeit machte, drückte sie ihm immer noch schnell eine Tupperdose in die Hand.

»Ich packe dir doch kein Mittagessen ein«, sagte sie. »Das ist dein Abendessen.«

»Aber das musst du wirklich nicht«, wiederholte er. Es machte ihm nichts aus, bei seiner Mutter zu wohnen, aber es gab auch Grenzen. Und er war sicher, wenn er zuließ, dass sie bei jeder Mahlzeit für ihn kochte, dann hatte er damit jegliche Grenze überschritten. Sie begann bereits, ihren Tag rund um seine Fütterungszeiten zu organisieren.

»Ich muss überhaupt nichts«, erklärte sie und reichte ihm eine Einkaufstüte mit einer schweren Glasschüssel.

»Was hast du denn diesmal gezaubert?«, fragte er. Es roch nach Zimt.

»Tandoori-Hähnchen. Denke ich. Na ja, ich hab keinen von diesen Tandooris oder Tandoors, von diesen Öfen, und es war auch nicht mehr genug Joghurt da, denn die nehmen doch Joghurt, oder? Ich hab Schmand genommen. Und Paprika. Vielleicht ist es Hähnchen-Paprikasch … Weißt du, mir ist schon klar, dass ich nicht für dich kochen muss. Aber ich möchte es gerne. Ich fühle mich einfach besser, wenn du was isst – was Richtiges, nicht irgendwelches Fast Food. Ich mach mir doch so schon genug Sorgen um dich, wegen deiner Schlafgewohnheiten und weil du nie raus in die Sonne kommst …«

»Ich schlafe genug, Mama.«

»Ja, aber tagsüber. Dann solltest du eigentlich wach sein und Vitamin D in dich aufsaugen. Und nachts schlafen, wenn es dunkel ist. Als du klein warst, hab ich dir nicht einmal eine kleine Nachtlampe erlaubt, weißt du noch? Die stört nämlich bei der Melatonin-Produktion.«

»Okay.« Er resignierte. Er konnte sich nicht daran erinnern, je bei einer Meinungsverschiedenheit mit ihr das letzte Wort gehabt zu haben.

»Okay? Was soll das heißen, okay?«

»Das heißt, okay, ich hab’s gehört.«

»Oh. Na schön. Das heißt dann eigentlich gar nichts. Nimm das Hähnchen mit, tust du mir den Gefallen? Wirst du es essen?«

»Werd ich machen.« Er drückte sich die Tüte gegen die Brust und lächelte. Er versuchte, wie jemand auszusehen, um den sie sich keine Sorgen machen musste. »Natürlich esse ich es«, sagte er. »Danke.«

Greg wartete bereits auf Lincoln, als dieser in die Informatikabteilung kam. Wegen der Server war es hier im Büro immer einige Grad kälter. Was eigentlich ganz angenehm sein sollte. Erfrischend. Aber stattdessen war es irgendwie immer eher klamm als kühl.

»Hey, Senator«, grüßte Greg. »Ich hab über das nachgedacht, worüber du dich vor ein paar Tagen beschwert hast. Dass du nicht genug zu tun hast. Also hab ich dir eine Beschäftigung gesucht.«

»Super«, sagte Lincoln. Das meinte er völlig ernst.

»Du kannst damit anfangen, alle Benutzer-Dokumente aus den letzten sechs Monaten zu komprimieren und zu archivieren«, erklärte Greg, der das offensichtlich für eine geniale Idee hielt.

Lincoln war sich da nicht so sicher.

»Warum das denn?«, fragte er. »Das ist doch Zeitverschwendung.«

»Ich dachte, genau so was wolltest du doch.«

»Ich wollte … Na ja, eigentlich wollte ich gar nichts. Es war mir nur unwohl dabei, fürs Nichtstun bezahlt zu werden.«

»Und jetzt brauchst du dich deshalb nicht mehr schlecht zu fühlen«, fügte Greg hinzu. »Ich habe dir gerade eine Aufgabe zugeteilt.«

»Ja, aber das mit dem Komprimieren und Archivieren … das kann Jahre dauern. Und es ist völlig sinnlos.«

Greg zog seinen Anorak an und schob einen Stapel Papiere zusammen. Er ging heute früher, weil er mit seinem Sohn zum Zahnarzt musste. »Dir kann man es wohl nie recht machen, was, Lincoln? Und genau deshalb hast du auch keine Frau.«

Woher weiß der denn, dass ich keine Frau habe?, wunderte Lincoln sich.

Er verbrachte den Rest des Abends damit, Dateien zu komprimieren und zu archivieren, nur um es Greg heimzuzahlen. (Obwohl Greg niemals bemerken würde, dass diese Arbeit erledigt worden war, und noch viel weniger, dass man sie in boshafter Absicht erledigt hatte.)

Lincoln komprimierte und archivierte und dachte ernsthaft darüber nach zu kündigen. Er hätte hier und jetzt aufstehen und einfach gehen können, wenn denn jemand da gewesen wäre, um seine Kündigung entgegenzunehmen.

Es war schon fast zehn Uhr, als er sich wieder an das Tandoori-Hähnchen seiner Mutter erinnerte.

Die Schüssel war in der Tüte umgekippt, und auf dem Teppich unter seinem Schreibtisch hatte sich Soße in leuchtendem Orange ausgebreitet. Kristi, die Mitarbeiterin, die hier tagsüber saß, würde ganz schön sauer sein.

Sie hatte Lincoln bereits einen kleinen gelben Zettel hinterlassen, mit der Bitte, nicht an ihrem Arbeitsplatz zu essen. Sie hätte immer Krümel in der Tastatur.

Lincoln nahm das, was vom Hähnchen noch übrig war, mit hoch in den Pausenraum im zweiten Stock. Den benutzte nachts fast niemand – die Korrektoren aßen an ihren Schreibtischen –, aber es war immer noch mehr los als in der menschenleeren Informatikabteilung. Er mochte die vielen Automaten, und manchmal machte der Pförtner zur gleichen Zeit Pause wie er. Allerdings nicht heute Abend. Der Raum war verwaist.

Aber dieses eine Mal war Lincoln sogar froh darüber, allein zu essen. Er griff nach einer Plastikgabel und ließ sich mit seinem Hühnchen an einem Tisch in der Ecke nieder. Er machte sich nicht die Mühe, es aufzuwärmen.

Zwei Personen betraten den Raum, ein Mann und eine Frau. Sie stritten über etwas. Aber es war mehr ein freundschaftlicher Wortwechsel. »Du musst unseren Lesern auch mal was zutrauen«, sagte die Frau, wedelte mit einem zusammengerollten Sportteil vor dem Mann herum und lehnte sich an den Kaffeeautomaten. »Geht nicht«, erklärte er. »Ich hab bereits zu viele von denen kennengelernt.« Der Mann trug ein schäbiges weißes Hemd und eine breite braune Krawatte. Er sah aus, als hätte er sich seit Carters Präsidentschaft nicht mehr umgezogen oder auch nur Zeit gehabt, mal vernünftig auszuschlafen. Die Frau war jünger. Sie hatte strahlende, wache Augen und langes Haar, das ihr bis auf den Rücken fiel. Sie war zu schön, um hinzusehen.

Sie waren alle immer zu schön, um hinzusehen. Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal einer Frau in die Augen geschaut? Er konnte sich nicht erinnern. Einer Frau, die nicht seine Mutter war. Oder seine Schwester, Eve.

Wenn er nicht hinsah, dann riskierte er auch keinen zufälligen Blickkontakt. Er hasste dieses Gefühl – bei der Bank oder im Aufzug –, wenn sich die Blicke zufällig treffen und sie meint, klarstellen zu müssen, dass sie kein Interesse hat. Ab und an machten sie das, sie schauten demonstrativ weg, bevor er auch nur gemerkt hatte, dass er sie überhaupt ansah. Lincoln hatte sich einmal bei einer Frau entschuldigt, als sich an der Tankstelle unbeabsichtigt ihre Blicke getroffen hatten. Sie hatte so getan, als hätte sie ihn nicht gehört, und weggesehen.

»Wenn du dich nicht langsam mal mit jemandem verabredest«, drohte Eve, »dann fange ich an, dich mit netten evangelischen Mädchen zu verkuppeln. Radikalen Lutheranerinnen. Aus Missouri.«

»Das würdest du nie machen«, entgegnete Lincoln. »Wenn eine von deinen Freundinnen aus der Kirche Mom kennenlernt, würde das doch deinen Ruf total ruinieren. Dann will in der Bibelstunde für Erwachsene niemand mehr neben dir sitzen.«

Die Frau im Pausenraum lachte und schüttelte den Kopf. »Jetzt sei nicht so pervers«, schalt sie. Sie war so in die Diskussion vertieft, dass er beinahe das Gefühl hatte, sie gefahrlos beobachten zu können. Sie trug verwaschene Jeans und eine hellgrüne Jacke, die ein wenig hochrutschte, als sie sich zu ihrem Kaffeebecher vorbeugte. Sommersprossen zierten ihren Rücken. Lincoln sah weg.

»Es ist ja nicht so, als würde mit dir irgendwas nicht stimmen, Lincoln«, bekräftigte seine Schwester immer wieder. »Du hast dich doch schließlich schon mit Frauen verabredet. Du hattest eine Freundin. Du hast nichts an dir, was dich völlig unvermittelbar machen würde.«

»Willst du mich damit eigentlich aufmuntern? Denn alles, was ich die ganze Zeit höre, ist ›völlig unvermittelbar‹.«

Lincoln hatte sich schon mal mit Frauen verabredet. Er hatte eine Freundin gehabt. Er sah nicht zum ersten Mal den Rücken einer Frau. Er hatte bei Konzerten, Football-Spielen und Garagenpartys seine Hand auf den Rücken einer Frau gelegt, Sams Rücken, und hatte die Finger unter ihren Pulli geschoben. Diese Berührung, wenn gerade keiner hinsah, hatte er immer so empfunden, als würden sie heimlich intimste Zärtlichkeiten austauschen.

Lincoln war nicht völlig unvermittelbar. Vor drei Jahren hatte er sogar mal ein Date gehabt. Die Schwester eines Freundes hatte für eine Hochzeit noch einen Begleiter gesucht. Sie hatte den ganzen Abend mit einem der Trauzeugen getanzt, der sich als ihr Cousin zweiten Grades herausstellte, während Lincoln exakt dreizehn Stück Pfefferminz-Käsekuchen gegessen hatte.

Und eigentlich machte es ihm auch keine Angst, sich wieder mit Frauen zu verabreden. Er konnte sich einfach nur nicht vorstellen, wie das laufen sollte. Hingegen hatte er kein Problem mit der Vorstellung von sich selbst in einem Jahr, wenn er sich bequem eingerichtet hatte. Aber das erste Treffen, der Versuch, sie dazu zu kriegen, dass sie ihn mochte … für das alles taugte er einfach nicht.

»Das glaube ich nicht«, meinte Eve. »Du hast doch Sam kennengelernt. Du hast sie dazu gebracht, sich in dich zu verlieben.«

Tatsächlich war es nicht so gewesen. Er hatte Sam nicht einmal bemerkt, bevor sie in der zehnten Klasse im Erdkundeunterricht anfing, ihn in den Rücken zu boxen. »Du hast ’ne gute Köperhaltung«, lobte Sam damals. »Und wusstest du, dass du ein Muttermal im Nacken hast? Ich verbringe ziemlich viel Zeit damit, auf deinen Nacken zu starren«, erklärte Sam. »Wenn du je einen Unfall haben solltest, könnte ich dich vermutlich identifizieren. Sofern dein Nacken unversehrt geblieben ist.«

Er errötete. Am nächsten Tag sagte sie zu ihm, dass er nach Pfirsich roch. Sie sprach laut. Und war witzig (aber nicht so witzig wie laut). Und sie hatte kein Problem damit, ihm direkt in die Augen zu sehen und – vor anderen Leuten – zu erklären: »Nein, ganz im Ernst, du riechst wirklich nach Pfirsich.« Dann lachte sie, und er errötete.

Das gefiel ihr. Sie brachte ihn gerne in Verlegenheit. Es gefiel ihr, dass sie das konnte.

Als sie ihn fragte, ob er mit ihr zum Abschlussball gehen würde, hielt er es für einen Witz. Er fürchtete, sie würde womöglich den ganzen Abend damit verbringen, ihn vor ihren Freunden aufzuziehen. Aber er sagte trotzdem ja. Und sie machte sich nicht über ihn lustig.

Sam war ganz anders, wenn sie allein waren. Sie war ruhig – na ja, zumindest ruhiger –, und er konnte ihr alles erzählen, sogar richtig wichtige Sachen. Sie sprach gerne über gewichtige Themen. Sie war leidenschaftlich und immer hundertprozentig bei der Sache.

Er hatte Sam nicht dazu gebracht, sich in ihn zu verlieben. Es war einfach so passiert.

Und er hatte zurückgeliebt.

Lincoln sah auf, zum Kaffeeautomaten. Der Mann mit dem zerknitterten Hemd und die Frau mit den Sommersprossen waren gegangen.

Liebe auf den zweiten Klick
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