EPILOG

Hauptquartier des CIA
Langley, Virginia, 4. August

 

»Ausgezeichnet, Jesse«, lobte Gardner, »bitte sprechen Sie weiter.«

»Das war alles bezüglich Panama. Die Situation im Iran ist seit Motakis Tod verworren. Der Aufruhr wurde brutal unterdrückt, aber die studentengeführte Opposition scheint die Oberhand zu gewinnen. Das Regime ist am Zusammenbrechen, und Ayatollah Rahmani hat in Frankreich um Asyl ersucht.«

Gardner verzog das Gesicht. »Warum wurde ich davon nicht unterrichtet?«

»Ich hab es selbst gerade erfahren und teile es Ihnen hiermit offiziell mit.«

Gardner unterdrückte eine Antwort und lächelte. »Ich verstehe, Jesse. Tut mir leid, dass ich Sie unterbrochen habe. Prognose?«

Was ist denn mit dieser Arschgeige los?, wunderte sich Ward.

»Unklar. Der wahrscheinlichste Vorteilsnehmer ist der Rat des Widerstandes. Die Mitglieder legen ein Lippenbekenntnis zur Demokratie ab, haben aber marxistische Wurzeln, obwohl der Rest der Welt weiß, dass dieser Zug abgefahren ist. Sie werden jede Koalition dominieren. Nicht wirklich schlimm. Manchmal« – und dabei seufzte er – »ist ein rationaler und berechenbarer Feind der beste, den man sich wünschen kann.«

Gardner merkte sich diesen Ausspruch.

»Großartige Arbeit, Jesse.« Er hielt inne, als ob er beschämt sei. »Ich … Ich möchte mich für mein bisheriges Verhalten entschuldigen. Ich hätte auf Sie hören sollen.«

Ward nickte ihm vorsichtig zu, und Gardner streckte ihm die Hand entgegen.

»Freunde?«, fragte er mit einem hoffnungsvollen Lächeln.

»Ähm, sicher.« Ward schüttelte ihm die Hand.

»Guter Mann.« Gardner brachte Ward bis zur Tür, seine Hand ruhte auf Jesses Schulter.

Auf dem Weg zurück in sein Büro zählte Ward unbehaglich seine Finger.

 

 

Das Büro des Stellvertretenden Direktors

für Geheimoperationen (DDO)
CIA Hauptquartier, Langley, Virginia

 

»Zu Zeiten«, gab Gardner mit einem geübten Seufzer von sich, »ist ein rationaler und berechenbarer Feind der beste, den wir uns erhoffen können.«

Der stellvertretende Direktor sah ihn verwirrt an.

»Ja, schön, insgesamt ein großartiger Bericht«, sagte er, nachdem er sich erholt hatte.

»Ich mache nur meinen Job, Mr Director.«

»Und das recht gut. Aber wo ist Ward?«

»Er hat heute frei.« Gardner senkte die Stimme. »Persönliche Probleme.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte der DDO. »Ward ist ein guter Mann.«

Gardners Stille sprach Bände.

»Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann heraus damit.«

»Sir, ich denke, er ist ausgebrannt. Sein Tauglichkeitsbericht, den ich gerade ausgefüllt habe, spiegelt das wider.«

Der DDO nickte. »Traurig, aber das kommt vor. Ich hinterfrage meine Abteilungsleiter nie.«

»Jawohl, Sir. Danke, Sir.«

»Und Sie haben mich beeindruckt. Was halten Sie davon, direkt für mich zu arbeiten?«

»In welcher Kapazität, Sir?«

»Etwas, das ich schon seit Jahren in Erwägung ziehe«, erklärte der Alte Mann. »Unsere Arbeit setzt ein enormes Maß an Unterstützung voraus, ein Anliegen, das gegenwärtig dezentralisiert über viele Gruppen gehandhabt wird. Ich will eine Art ›Zar‹, der die Leitung übernehmen soll. Sie haben im laufenden Betrieb gearbeitet. Eine Stabsstelle wird sich gut in Ihrem Lebenslauf machen. Wie klingt Staatssekretär für Administrative Dienste?«

»Das … das klingt gut, Sir«, stammelte Gardner. »Ähm … wann …«

»Sofort. Wir werden Sie direkt versetzen. Müssen Sie noch etwas zu Ende bringen?«

»Nein, Sir.« Gardner pausierte. »Ja, doch. Ich muss Wards Beurteilung mit ihm durchgehen.«

»Überlassen Sie das seinem nächsten Chef.«

»Das erledige besser ich, Sir. Er wird aufgebracht sein. Womöglich könnte er sogar grundlose Anschuldigungen erheben.«

»Das ist nicht der erste Burnout, mit dem wir zu tun haben«, seufzte der DDO. »Wir werden uns darum kümmern.«

 

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Ward war nervös. Er war zur Arbeit erschienen und hatte Gardners Büro leer sowie eine E-Mail vorgefunden, dass sein »nächster Vorgesetzter« seine Leistungsbewertung mit ihm besprechen würde, was immer das auch bedeuten mochte. Dann hatte der DDO nach ihm rufen lassen.

»Jesse. Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten«, begrüßte ihn der DDO. »Kommen Sie herein.«

Er lenkte Ward in Richtung Sofa. Während der sich setzte, holte der Alte Mann eine Akte von seinem Schreibtisch und nahm dann Ward gegenüber Platz.

»Verdammt beeindruckend.« Der DDO klopfte auf Wards persönliche Akte. »Eine Reihe von überragenden Bewertungen und eine Belobigung vom Direktor. Das einzig Negative – die wiederholte Verweigerung, eine Beförderung zu akzeptieren. Halten Sie sich nicht gern im Büro auf, Jesse?«

Ward druckste herum. »Ich bin besser im Einsatz und …«

»Und Sie hassen die Büropolitik. Glauben Sie mir, Jesse, ich kenne den Nachteil eines Karrieresprungs.«

»Jawohl, Sir, das tun Sie sicher.«

»Davon später mehr. Erklären Sie mir zunächst einmal, wie Sie zu einem Versager wurden.«

»Sir?«

»Ihre neueste Leistungsbewertung.« Der DDO reichte ihm eine Seite.

Mit steigendem Zorn las Ward das Papier durch. »Das ist … das ist hirnverbrannter Unsinn!«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, bestreiten Sie also diese Einschätzung?«

»Darauf können Sie gottverdammt wetten …« Ward sah nach oben. Der Alte Mann grinste.

»Gut, das reicht.« Der DDO griff sich den Bericht und ging an seinen Schreibtisch. Ein Reißwolf surrte.

Der Alte Mann holte ein neues Formular hervor. »Dieses Schriftstück hier besagt, dass ein angefochtener Bericht von einem höheren Vorgesetzten, das bin ich, überprüft und annulliert wurde. Das« – er legte den Bericht Ward vor – »ist eine Beurteilung voller Lobpreisungen von Ihrem neuen Vorgesetzten, ebenfalls ich. Einiges davon könnte sogar wahr sein. Unterschreiben Sie.«

»Aber, aber … Sie sind nicht … Ich stehe ganz unten auf der Rangliste.«

»Dazu kommen wir gleich. Unterschreiben Sie«, ordnete der Alte Mann an, und Ward leistete ihm Folge.

»Und jetzt eine Frage. Denken Sie nach, bevor Sie antworten. Ein amerikanischer Staatsbürger namens Borqei starb vor Kurzem. Was wissen Sie darüber?«

»Nur das, was uns das FBI mitteilte, Sir. Wir gehen von einem Anschlag ausländischer Täter unbekannter Herkunft aus. Die Spur verliert sich in Mexico City.«

»Gute Antwort«, sagte der Alte Mann. »Zum nächsten Thema. Die jüngsten Ereignisse haben uns allen, einschließlich dem Präsidenten, das Potenzial maritimer Gefahren aufgezeigt. Auf seine Anordnung hin baue ich nun eine ›Abteilung für Maritime Gefahreneinschätzung‹ auf, die mir unterstehen wird. Und die werden Sie leiten.«

»Sir, ich bin nur ein Außendienstagent. Ich habe …«

»Ersparen Sie mir die Leier. Ich bin auch Spion, aber hier sitze ich nun, lang über mein Pensionierungsalter hinaus. Weil mich das Land braucht, genau wie es Sie braucht.« Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. »Jesse, es ist ein guter Handel. Sie bekommen einen Teil vom Schattenhaushalt, und ich werde Ihnen die Politiker vom Hals halten.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»›Jawohl, Sir, besten Dank, Sir‹ wäre angebracht.«

Sie sahen sich an. »Jawohl, Sir, besten Dank, Sir«, wiederholte Ward.

»Fantastisch.« Der Alte Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Die Papiere sind vorbereitet. Fangen Sie an, Ihr Team zusammenzustellen. Und holen Sie sich diesen Dugan. Er kennt die Industrie, und seine Instinkte gefallen mir.«

»Da bin ich voll und ganz Ihrer Meinung.«

»Gut. Waren Sie und Dee Dee schon mal im Weißen Haus?«

Ward sah verwirrt aus. »Oh, ja … als die Kinder klein waren, machten wir eine Führung …«

Der Alte Mann lachte. »Ja, ja. Sie und Dee Dee werden dort nächste Woche dinieren. Nur ein ruhiges, privates Abendessen, bei dem Ihnen der Präsident eine Verdienstmedaille überreichen wird.«

»Ich … Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Für einen klugen Mann haben Sie ein ziemlich eingeschränktes Vokabular, Ward.«

»Aber was ist mit Gardner?«

Das Lächeln im Gesicht des Alten Mannes verschwand. »Ja, das müssen wir diskutieren! Aber was ich Ihnen jetzt sage, wird dieses Büro nicht verlassen. Verstanden?« Ward nickte.

»Sie wissen, dass Gardner auf eine politische Laufbahn vorbereitet wird. Die Arbeit im Sicherheitsdienst sieht gut im Lebenslauf aus, und seine Familie hat ausreichend Druck auf einige Senatoren ausgeübt, um ihn mir aufzuzwingen. Er musste eine ›Führungsposition‹ haben. Da Sie den Topjob in Ihrer Gruppe verweigerten, dachte ich mir, er könnte eine Weile diesen Schreibtisch einnehmen, und Sie würden schon darauf achten, dass er sich nicht auf den Schwanz tritt. Falls nötig wollte ich eingreifen, aber Gardners idiotische Aktionen haben mich kalt erwischt. Gott sei Dank gelang es Ihnen, die Karre aus dem Dreck zu ziehen.«

»Und was macht er jetzt?«

»Zuerst hatte ich vor, ihn trotzdem vor die Tür zu setzen, aber dann ging mir auf, dass das nicht genug ist. Möglich, dass er eines Tages irgendwo landet, wo er echten Schaden anrichten kann. Also habe ich ihn zum Bürobedarfszar mit imposantem Titel ernannt. Jetzt kann er kein Unglück mehr verursachen, außer vielleicht einen Mangel an Heftklammern.«

»Aber wird er nicht spätestens nach einem Jahr weiterziehen?«

»Das gibt mir genug Zeit. Wie wir alle hat auch er eine Verzichtserklärung auf Datenschutz unterschrieben. Seit einem Monat steht er unter Überwachung. Er wurde bereits mit minderjährigen Prostituierten und beim Kauf von Kokain erwischt. Bald habe ich genug, um es an die Presse weiterzugeben, falls er sich je für mehr als für eine Hundefängerposition aufstellen lässt.«

»Die Überwachung ist legal, aber die Ergebnisse an die Presse weiterzugeben, ist es nicht. Warum weihen Sie mich ein, Sir?«

»Weil er noch lange nach meinem Tod hier sein wird. Ich werde Ihnen eine Kopie seiner Akte zukommen lassen und friedlich in dem Wissen ruhen, dass seine Eier in Ihren fähigen Händen liegen. Können Sie damit leben?«

»Jawohl, Sir. Das kann ich.«

»Gut, dann sind wir fertig.« Er erhob sich, hielt dann aber inne. »Nebenbei, Gardner versuchte, mich mit dem Unsinn über ›einen rationalen und berechenbaren Feind‹ zu blenden. Kam mir bekannt vor.«

Ward grinste. »Das stammt aus einer Ihrer Ansprachen. Ich wusste, er würde es früher oder später gebrauchen.«

 

 

Vorläufige Büros der
Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft
Lambeth Road, London, 19. August

 

Wie ihr legendärer Namensvetter erhob sich die Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft erneut in vorläufigen Quartieren mit gemieteter Ausrüstung aus der Asche. Das Summen der Stimmen wurde vom Klingeln der Telefone unterbrochen, während Monitore auf einer Vielzahl von billigen Metallschreibtischen blinkten. Mrs Coutts saß als Torhüterin vor der wandschrankgroßen Arbeitsnische des Mr Thomas Dugan, gegenwärtig Geschäftsführender Leiter der Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft.

Dugan überblickte die Szenerie. Das Geschäft blühte, und die dezente Unterstützung seitens des MI5 hatte auch nicht geschadet. Der hatte den richtigen Ohren stille Warnungen zugeflüstert, dass die Regierung Ihrer Majestät nach Alex’ beispielhaftem Dienst für die Krone nur ungern gegenteilige Behauptungen vernehmen wollte.

Die Versicherungsansprüche der M/T Asian Trader wurden umgehend und in voller Höhe ausgezahlt; die ursprünglichen Dispositionskredite wurden in den meisten Fällen erneut gewährt oder sogar erhöht.

Dugan verließ jeden Abend müde, aber glücklich, das Büro, in der Regel, um sich mit Anna zum Abendessen zu treffen. Sie hatten ein Apartment in Belgravia gemietet. Lang hatte sich nichts mehr so richtig angefühlt. Nicht mehr seit dieser längst vergangenen Zeit, als das Leben noch voller Versprechungen war und er von der See zurückkam, um Ginny lachend am Dock mit einem Schild zu finden: HEY MATROSE. WILLST DU DICH AMÜSIEREN? Ginny wäre damit einverstanden, dachte er.

»Mr Ward auf Leitung eins, Sir«, ließ ihn Mrs Coutts wissen.

Dugan hob den Hörer an. »Jesse. Wie geht’s?«

»Gut«, sagte Ward. »Besser als gut. Wir haben eine neue Abteilung geschaffen, die ausschließlich der maritimen Bedrohungsabwehr dient. Ich darf sie so lange leiten, bis ich Mist baue.«

»Fantastisch, Jesse, und sehr verdient. Und was ist mit dem Schwachkopf Gardner?«

»Der managt Büroklammern. Er spielt keine Rolle mehr.«

»Gut zu wissen. Zumindest müssen Sie sich dann nicht ständig selbst den Rücken freihalten.«

»Und da wir schon vom ›Rücken freihalten‹ reden, Sie wissen, wie sehr wir …«

»Sparen Sie sich das, mein Freund. Ich bin glücklich mit dem, was ich tue und wo ich bin.«

»Fantastisch«, fuhr Ward beharrlich fort. »Bleiben Sie dort. Die perfekte Tarnung. Finanziell gleichen wir Alex das aus, und Sie halten einfach Ihre Augen und Ohren offen. Nichts leichter als das.«

»Fassen wir zusammen. Als Sie so etwas das letzte Mal behauptet haben, wurde ich von einem verrückten Panamaer verprügelt, war gezwungen, aus einem Hubschrauber auf einen fahrenden Tanker zu springen, wurde beinahe von Benzin über Bord gespült, es wurde auf mich geschossen, ich entkam knapp einer Explosion und stand kurz vor dem Ertrinken. Ach ja, und die gebrochene Nase hätte ich fast vergessen.«

»Unwahrscheinlich, dass so etwas noch einmal passiert.«

»Fürwahr, denn ich spiele nicht mehr mit.«

»Ich bitte Sie nur, darüber nachzudenken, Tom. Das ist alles, worum ich Sie bitte.«

»Hören Sie gut zu, Jesse. Ich – BIN – NICHT – INTERESSIERT. Klar genug?«

»Denken Sie noch mal darüber nach. Sprechen Sie mit Anna. Ich rufe zurück. Tut mir leid, aber der DDO ruft mich. Bis bald.«

Dugan starrte auf den Hörer. Der hat vielleicht Nerven, dachte er beim Aufhängen.

Fünf Zeitzonen entfernt lächelte Ward vor sich hin. Er wird es sich schon noch überlegen, dachte er.

 

 

Die Kairouz-Residenz

 

Dugan und Anna hielten unter dem Tisch Händchen. Das Abendessen war angenehm verlaufen. Gillian war nicht länger der hohläugige Geist, der Alex’ Bettkante vor einem Monat heimgesucht hatte. Tatsächlich schien sie sich komplett verändert zu haben. Sie trug ein zurückhaltendes, aber modernes und offensichtlich neues Kleid, und das Grau in ihren Haaren war so gut wie verschwunden. Sowohl sie als auch Alex glühten förmlich und warfen sich verstohlene Blicke zu, während Cassie nur mühsam ein offensichtlich großes Geheimnis für sich behalten konnte. Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatten, bat Alex Mrs Hogan und Daniel herein und richtete sich mit seiner heiseren Stimme an die um den Tisch Versammelten.

»Wir möchten, dass ihr alle einen ganz besonderen Moment mit uns teilt. Die jüngsten Vorfälle waren lebensverändernd. Sie ließen mich erkennen, wie gesegnet mein Leben ist« – dabei strahlte er Cassie und Gillian an – »und haben mich endlich dazu veranlasst, längst überfällige Schritte in die Wege zu leiten. Gillian hat mir die große Ehre erwiesen …«

»Mrs Farnsworth wird meine neue Mama«, sprudelte es aus Cassie heraus.

Alex saß leicht verwirrt da, während Gillian vergeblich versuchte, ihr Lachen zu unterdrücken. »Na ja, das war es wohl, was ich so euch so umständlich mitteilen wollte«, nickte Alex mit einem breiten Lächeln.

Dugan und Daniel erhoben sich und schüttelten Alex begeistert die Hand, während Anna und Mrs Hogan vor Begeisterung strahlten.

»Raus damit«, sagte Anna. »Alle aufregenden Details. Wann ist das denn passiert?«

Alex nahm Gillians Hand. »Als mir klar wurde, was ich jahrelang übersehen habe.«

»Es hat mich doch etwas überrascht«, gab Gillian zu, wobei es ihr tatsächlich gelang, zu erröten.

»Aber um eine sehr weise Frau zu zitieren«, scherzte Dugan, »›eine Dame ist immer auf alle Eventualitäten vorbereitet‹. Und Sie, Gillian, sind und waren immer schon durch und durch eine Dame.«

»Hört, hört.« Alex drückte Gillians Hand, Cassie hielt ihr die andere, und Gillian versuchte, Tränen des Glücks zurückzuhalten.

»Also dann«, begann sie, »der Champagner steht kalt. Mrs Hogan« – sie erhob sich – »ich werde Ihnen mit den Gläsern helfen.«

Sie musste noch mehr Tränen wegwischen, als Cassie aufsprang: »Ich mach das schon, Mama.«

 

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Nach dem Anstoßen entfernten sich die Damen, um die Hochzeit zu planen, während Alex und Dugan sich in die Bibliothek zurückzogen.

In einvernehmlicher Stille tranken sie ihren Cognac, bis Alex endlich sprach.

»Thomas, ich werde mehr Zeit zu Hause verbringen. Ich brauche dich. Als geschäftsführenden Direktor und gleichgestellten Partner. Mit zusätzlichem Gehalt selbstverständlich!«

»Alex, das ist unglaublich großzügig von dir. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»›Ja, sicher‹ wäre mein Vorschlag.«

»Wie stellst du dir die Aufteilung vor?«

»Du kümmerst dich um die betrieblichen Angelegenheiten, während ich für die Finanzen zuständig bin. Das perfekte Team.«

Dugan sah in sein Glas. »Ward möchte, dass wir der CIA helfen. Ich habe abgelehnt, bin aber am Schwanken.«

Alex lachte leise vor sich hin. »Er ist hartnäckig. Genau wie Anna. Die beiden haben auch auf mich eingeredet, weißt du das?«

»Wie denkst du darüber?«

»Ich sehe es positiv, solange es weder dich noch meine Familie in Gefahr bringt.«

»Das sehe ich genauso. Es ist äußerst hilfreich, die Dankbarkeit der US- und der britischen Regierung zu genießen.«

»Du akzeptierst also mein Angebot?«

Dugan lächelte und bot ihm die Hand. »Ich denke ja, Partner.«

 

 

Zentralgefängnis
Monrovia, Republik Liberia, 8. September

 

Der Zementfußboden schürfte an Brauns Knien. Dankbar für das undichte Dach trank er aus der Pfütze; das Regenwasser war sauberer als die fragwürdige Flüssigkeit, die seine Gefängniswärter ihm hinstellten. Dicker Schimmel überzog die Wände hinter seiner verrotteten, feuchten Matratze, und bereits vor langer Zeit hatte er sein Hemd und seine Unterwäsche zu Lappen degradiert, um sich so sauber wie möglich zu halten. Seine verschlissene Hose hing lose an ihm herunter, das Resultat des Haferschleims, der ihm in unregelmäßigen Abständen in eine Schüssel geschaufelt wurde. Gierig verschlang er den Fraß, hob aber einiges davon auf, um Kakerlaken und anderes Protein anzulocken, die er dann wiederum als Köder für Geckos und Ratten benutzte. Sein dünnes Gesicht, umrahmt von einem Bart und fettigem Haar, lächelte von der Pfütze aus auf ihn zurück. Er war ein Überlebenskünstler.

Dennoch machte er sich Gedanken. Vor Wochen hatte er Macabee schon eine Nachricht zukommen lassen, trotzdem verrottete er hier weiter.

Endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss und Macabee trat ein. Er war tadellos gekleidet und vermied mit hochgezogener Nase, etwas zu berühren.

»Nun, Mr Braun, hier bin ich.«

»Wo zum Teufel haben Sie gesteckt, Macabee? Wieso hat das so lange gedauert?«

Macabee zuckte mit den Schultern. »Ich dachte mir, dass Sie nach einem gewissen Zeitraum die Vorteile meiner Unterstützung weit mehr begrüßen würden. Und dann gab es noch das Problem mit dem Verfahren. Der Terminkalender des Gerichts ist ziemlich ausgebucht.«

»Und wann ist meine Verhandlung?«

Macabee lächelte. »Letzte Woche. Sie haben sich schuldig bekannt und wurden zum Tod durch Erhängen verurteilt.«

»Was …«

»Langweilen Sie mich nicht, Mr Braun. Ein ›Tod‹ zur rechten Zeit ist die perfekte Lösung. Es sei denn, Sie möchten länger bei uns verweilen?«

»Nein, nein. Ich bin mehr als bereit, hier herauszukommen.«

Macabee nickte. »Machen Sie mir ein Angebot.«

»Unverändert, wie ich es Ihnen schon im Flugzeug angeboten habe, Macabee. Zwei Millionen Dollar.«

»Zahlungsweise?«

»Ich gebe Ihnen die Telefonnummer meines Anwaltes in London, zusammen mit einem Kennwort. Er wiederum wird Ihnen Kontonummern geben und die Bank autorisieren, Ihnen das Vorhandensein der Beträge persönlich zu bestätigen. Sobald ich an einem sicheren Ort bin, schicke ich Ihnen eine SMS mit dem Berechtigungscode, die Beträge abzuheben.«

Macabee lachte. »Und ich soll Ihnen vertrauen? Das ist so idiotisch wie Ihr Angebot. Lassen Sie uns das zunächst klären. Zehn Millionen US-Dollar.«

»Absurd«, verneinte Braun. Macabee machte Anstalten zu gehen.

»Warten Sie! Bei zehn Millionen bleibt mir nichts. Sagen wir fünf.«

»Ihre endgültige Solvenz ist sowohl unbekannt als auch irrelevant, Mr Braun.« Macabee lächelte in Richtung eines abgenagten Rattenkadavers in der Ecke. »Zehn Millionen – letztes Angebot.«

Braun versteckte seine Freude. »Also schön. Zehn Millionen.«

»Gut«, nickte Macabee. »Wo befindet sich das Geld?«

»Auf drei verschiedenen Konten. Mit jeweils zwei, drei und fünf Millionen. Warum?«

»Sie geben mir die Kontonummern und den Autorisierungscode und überlassen mir sofort die ersten zwei Millionen als Kaution«, ordnete Macabee an. »Die Existenz des restlichen Geldes werde ich mir von Ihrem Anwalt, wie vorgeschlagen, bestätigen lassen. Ich werde Sie unter Bewachung an jeden Ort Ihrer Wahl fliegen, aber Sie werden das Flugzeug nicht verlassen, bevor nicht die restlichen acht Millionen auf meinem Konto sind. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte Braun und dachte bereits darüber nach, wie er den Liberianer übertölpeln konnte.

Macabee zückte Notizblock und Stift. »Die Einzelheiten, bitte.«

 

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Vier Stunden später saß Macabee unentschlossen an seinem Schreibtisch und bedauerte, dass er nicht mehr aus dem Deutschen herausgeholt hatte. Sein Fehler war ihm erst aufgefallen, als er darüber nachdachte, wie kampflos Braun nachgegeben hatte. Er war zweifellos davon ausgegangen, dass Braun den Betrag erhöhen würde, insbesondere nachdem er Wochen der Gastfreundschaft des Zentralgefängnisses genossen hatte. Dennoch, insgesamt war es viel zu einfach gewesen.

Er seufzte; vielleicht sollte er nicht zu gierig sein. Einen Moment zögerte er noch, dann traf er seine Entscheidung. Er griff zum Telefon und wählte eine Londoner Nummer.

 

 

Zentralgefängnis
Monrovia, Republik Liberia, 10. September

 

Braun schleppte sich mit hinter seinem Rücken gefesselten Händen voran, eingerahmt von abgerissenen Wachen, die so barfüßig wie er selbst waren. Auf dem Weg zum Galgen umging das Trio vorsichtig die Pfützen. Das zerschlissene Hemd, das ihm Macabee besorgt hatte, versteckte einen breiten Gurt um Brauns Oberkörper. Auf der Rückseite des Gurtes befand sich eine starke Öse, die durch einen Schlitz im Hemd zugänglich war. Ein dünnes Kabel, eingeflochten in das Seil über der Schlinge, würde in die Öse eingehängt werden und damit die Gewalt des Falles auf den Gurt transferieren. Die Sterbeurkunde war bereits unterschrieben, und der Raum unter der Falltür war mit Sperrholz vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Dort, im Verborgenen, warteten die Männer, die Braun herunterholen und ihm im Sarg zur Fahrt in die Freiheit verhelfen würden.

»Aha, Macabee«, sagte er am Ende der behelfsmäßigen Stufen, »schön, dass Sie sich von mir verabschieden.«

Macabee nickte. Braun wurde auf die Falltür gestellt und mit einer Kapuze versehen. Braun lächelte unter der Kapuze, als sich die Schlinge eng um seinen Hals legte. Ein Metallmaßband wurde ausgerollt. Es berührte ihn an Ferse und Hinterkopf, um die Länge des Seils korrekt zu bestimmen. Eine gute Vorstellung.

Dann ließen ihn die Hände los, und die Falltür bewegte sich, als alle außer Braun von ihr zurücktraten. Braun drehte Macabee seinen vermummten Kopf zu. »Das Kabel«, flüsterte er.

»Unglücklicherweise, Mr Braun, wird es kein Kabel geben. Ich fürchte, Sie wurden überboten.«

»Was? Das können Sie nicht tun, Macabee!«

»Doch, das kann ich.«

»Warten Sie, Macabee! Das können wir regeln. Ich habe mehr Geld, viel mehr. Ich habe gelogen.«

»Das weiß ich, Mr Braun«, sagte Macabee. »Eine Schande, dass Sie bis zu diesem späten Zeitpunkt gewartet haben, um so mitteilsam zu sein. Ach, übrigens habe ich eine Nachricht von Alex Kairouz für Sie. Er hat mich gebeten, Ihnen eine gute Fahrt in die Hölle zu wünschen.«

Macabee nickte, und der Henker zog am Hebel.

 

 

M/T Luther Hurd
Ankerreede Gatun-See, Panama
15. September

 

Milam hielt sich an der Leiter fest und sah in den Tank hinunter, der hell mit Baustrahlern ausgeleuchtet war. Das Knistern der Schweißlichtbogen vermischte sich mit dem Klang von Stahl auf Stahl – die Geräusche des Fortschritts. Er griff nach der obersten Sprosse, schob seinen Kopf durch die Einstiegsluke und sah sich abgenutzten Stiefeln und einer ausgestreckten Hand gegenüber.

»Brauchen Sie Hilfe, alter Mann?«, grinste Kapitän Vince Blake auf Milam herunter.

Milam erwiderte das Lächeln und griff nach Blakes Hand, um sich mit dessen Hilfe auf das Hauptdeck hinaufzuziehen. Ein schweißgetränkter Overall klebte auf seiner Haut, den er sich auf der Suche nach einer Brise an der Reling vom Körper zog. »Du meine Güte. Und die Sonne ist gerade erst aufgegangen. Calderon hatte recht. Die Nachtschicht ist produktiver. Ab Mittag wird es schwer sein, dort unten zu arbeiten.«

Blake nickte zustimmend und beobachtete eine Reihe vorbeiziehender Schiffe. »Gut, den Kanal wieder voller Schiffe zu sehen«, meinte er. »Ich kann es kaum erwarten, mich in dieser Reihe anzustellen.«

Seit zwei Tagen war der Tanker wieder flott. Blake und Milam hatten die Anweisungen des Bergungskapitäns so weit wie möglich ignoriert, bis er ihnen gedroht hatte, sie an Land zu setzen. Angestrengt hatten sie sich zurückgehalten und dann ein erleichtertes Grinsen ausgetauscht, als die Luther Hurd endlich mit dem Heck voran zur vorläufigen Reparatur auf See in Schlepptau genommen wurde.

Sie hatten darüber nachgedacht, andere Jobs zu übernehmen, aber es schien ihnen nicht richtig, die Luther Hurd im Stich zu lassen.

Arnett hatte sich wieder zu ihnen gesellt, die auf Geheiß von Blake zum Ersten Offizier ernannt worden war. Ein neuer Erster Ingenieur, ein Mann, den Milam rekrutiert hatte, vervollständigte ihre Gruppe. Während des Schleppens nach Norden planten sie, Inspektionen durchzuführen und Reparaturlisten zu erstellen.

Blake sah sich um und schüttelte den Kopf. Generatoren und Schweißvorrichtungen drängten sich auf dem Deck, inmitten der Überbleibsel geschäftiger Reparaturarbeiten. Saubere Decks und leuchtende Farben waren fliegendem Sand und dem Schmutz der Dammkonstruktion zum Opfer gefallen. Regenfälle hatten den Schmutz in schwer erreichbare Ecken gewaschen oder ihn die Außenwände hinuntergespült, wo er schmutzige Streifen hinterlassen hatte. Backbordseite und Steuerbordheck waren von Rost überzogen, die doppelte Folge sowohl von Gestein und Arbeitsgeräten, die den Stahl bloßgelegt hatten, als auch vom Aufprall auf die mittlere Leitwand. Das Heck des Schiffes lag tiefer und gab damit den Blick auf den stark mitgenommenen, bauchigen Bug frei.

»Mein Gott, was für ein Wrack.«

»Tatsache«, stimmte ihm Milam zu, »der verdammte Sand hat sich überall eingenistet: in die Schlauchanschlüsse, in die Dichtungen, einfach überall.«

Blake nickte. »Wie steht es mit dem Maschinenraum?«

»Nicht allzu schlimm. Ich hatte die Klappen geschlossen, deshalb konnte nicht viel nach unten gelangen. Die Kurbelwelle ist nicht sehr stark verbogen. Sobald der Motor warm ist, werden wir dies erneut überprüfen. Achtern erlitten wir keinen Unterbodenschaden; zumindest keinen, der bis zur Maschine vorgedrungen ist. Propeller und Steuerruder sind okay. Außer dem Tank, der vom Anker durchlöchert wurde, und dem Vorpiektank ist der Schiffsrumpf dicht. Taucher sind dabei, diese Löcher von außen zu schließen, damit wir innen temporäre Reparaturen vornehmen können. Sobald sie dicht ist und wir die Löcher zwischen den Tanks stopfen konnten, sind wir so weit. Vielleicht in zwei Tagen.« Er runzelte die Stirn. »Falls unser kleiner Holländer auf die Sprünge kommt.«

Blake unterdrückte ein Stöhnen, als er Pedro Calderon zusammen mit dem hochrot angelaufenen Bergungskapitän Frans Brinkerhoff auf sie zukommen sah. Der Holländer schoss sich auf Milam ein.

»Was soll der Unsinn, den Hauptantrieb zu nutzen, Milam?«

»Ich muss ihn testen. Ich dachte, wir könnten mit ihm auslaufen und uns dann später an den Schlepper hängen.«

»Ach, das dachten Sie? Ich darf Sie erinnern, dass das nicht Ihre Entscheidung ist.«

Und los geht’s, dachte Blake, als Milam rot anlief. Der Vereinbarung nach waren die Panamaer dafür verantwortlich, das Schiff wieder gebrauchsfähig zu machen, inklusive dem Transport zurück zur Werft des Schiffsbauers in San Diego, um dort die Reparaturen vorzunehmen.

Die Panamaer hatten ihrerseits eine holländische Bergungsfirma beauftragt und damit Blake und Milam zu Beobachtern degradiert, was keinem von ihnen zusagte, was Blake aber besser als Milam verkraften konnte.

»Captain Brinkerhoff«, mischte sich Blake ein, »der Chief hat tatsächlich recht. Sie werden uns sicher nicht auf hoher See vom Haken lassen, um unseren Antrieb zu testen. Deshalb ist das unsere einzige Chance.«

»Nee. Nicht mein Problem. Wir hängen uns an Schleppboote und hinter der Miraflores-Leitwand ziehen wir dann direkt aufs Meer hinaus. Das ist am effektivsten, oder?«

»Passen Sie auf, Sie Trottel«, fuhr Milam ihn an, »kein Schiff, auf dem ich Chief bin, verlässt den Hafen an einem Seil, also …«

»Aha … es geht also um Stolz und Ehre des Chefingenieurs, was? Und wer zahlt dafür?«

»Zahlt für was?«

»Extrakosten für die Schlepper in Warteposition, für die Boote, um die Tauarbeiter zurück an Land zu bringen, für die verlorene Zeit – alles Kosten, die nicht in unserem Preis enthalten sind«, zählte Brinkerhoff auf. »Wir folgen meinem Plan.«

Milam starrte vor sich hin, als Calderon sich zu Wort meldete. »Vielleicht kann ich hier behilflich sein, Capitán Brinkerhoff. ACP wird diese Dienste kostenlos zur Verfügung stellen. Würde Sie das zufriedenstellen?«

Brinkerhoff sah Milam scharf an. »Ja«, sagte er, bevor er frustriert davonstiefelte.

»Vielen Dank, Señor«, bedankte sich Blake. Milam nickte ihm zu.

»Keine Ursache, Capitán«, wehrte Calderon ab. »Zumindest kann ich Ihnen behilflich sein, in Würde auszulaufen.«

 

 

M/T Luther Hurd
Ankerreede Gatun-See, Panama, 18. September

 

Erster Offizier Lynda Arnett stand an der Reling des Hauptdecks und sah direkt auf das Lotsenboot herunter, das sich langsam der Seite des Schiffes näherte. Der Lotse griff nach der Tauleiter und begann den Aufstieg. Von oben konnte Arnett nur auf seinen Kopf sehen, da er sich auf die schwankende Leiter und deren Bewältigung konzentrierte. Sobald er auf Deckshöhe war, trat Arnett zurück, um ihm Platz zu machen.

»Captain McCluskey«, sagte Arnett, als sein lächelndes Gesicht vor ihr auftauchte.

»Sie dachten doch wohl nicht, ich würde einem anderen erlauben, Sie rauszubringen?«, fragte Roy McCluskey. Er ignorierte Arnetts ausgestreckte Hand, um sie stattdessen zu umarmen.

»Ich muss zugeben, das ist das erste Mal, dass ich einen Zweiten Offizier umarmt habe«, scherzte McCluskey, nachdem er sie losgelassen hatte.

»Einen Ersten Offizier«, korrigierte Arnett.

Sein Lächeln vertiefte sich. »Fantastisch. Und wohlverdient.«

Arnett versuchte, nicht auf McCluskeys Fuß zu sehen. Es gelang ihr nicht.

»Wie ist der … Wie geht es Ihnen?«, erkundigte sie sich, die Augen wieder auf sein Gesicht gerichtet.

»So gut wie neu.« Zur Betonung stampfte McCluskey mit seinem prothetischen Fuß auf das Deck auf. »Sie konnten das Knie retten, was tatsächlich einen Riesenunterschied gemacht hat.«

Arnett nickte, lächelte ihn an, und einen Moment standen sie sich in unbeholfenem Schweigen gegenüber.

»Lynda. Wenn Sie nicht gewesen wären …«

»Ich habe nur meinen Job erledigt, Captain«, unterbrach Arnett ihn.

»Trotzdem, besten Dank.«

Arnett nickte erneut, dankbar dafür, dass er ihr Unbehagen gespürt und seine Dankesrede kurz gehalten hatte.

»Dann lassen Sie uns Captain Blake suchen«, forderte McCluskey sie auf, »um Sie auf den Weg zu bringen.«

 

Die Brücke der Amerikas
Balboa, Panama

 

Nie hatte ein Ereignis Panama so sehr berührt wie der Anschlag vom 4. Juli, ausgenommen die Eröffnung des Kanals selbst. Dem Ereignis wurde einstimmig ein Name gegeben, aber im Gegensatz zu 9/11 war ein Datum allein nicht ausreichend. Instinktiv lehnte das Volk eine Bezeichnung ab, die ihre Tragödie auf den zweiten Platz hinter den Geburtstag ihres riesigen Nachbarn im Norden verbannen würde. Stattdessen wurde es einfach »Pedro Miguel« genannt, ebenfalls ein eindeutiger Zeitpunkt. Dinge ereigneten sich »vor Pedro Miguel« oder »eine Woche nach Pedro Miguel«, von denen im Verlauf der Geschichte mit Traurigkeit und dann mit wachsendem Stolz gesprochen wurde.

Es gab viele Geschichten: der Kapitän, der die Flammen aufgehalten hatte, die schnell reagierenden Kapitäne der Schleppschiffe, die brennendes Benzin mit ihren Schiffsschrauben gelöscht hatten, Feuerwehrmänner, die ihre vom Verkehr eingepferchten Fahrzeuge verließen, um nach kilometerweitem Lauf in der Hitze den heroischen, aber vergeblichen Versuch zu unternehmen, die Kinder von Miraflores zu retten. Die Liste war lang. Aber in einem visuellen Zeitalter war nichts so beeindruckend wie die Versenkung der Luther Hurd.

Die ganze Welt hatte dieses Video gesehen, aber als dann der Bosporus, der Iran und ein Dutzend neuerer Neuigkeiten die Nachrichten dominierten, war es in den Hintergrund getreten. Allein in Panama geschah das nicht. Dort wurde es wieder und wieder gezeigt, und das yanqui-Schiff mit dem merkwürdigen Namen entwickelte sich unabhängig von seiner Flagge zu einem panamaischen Symbol. Der Fortschritt ihrer Reparatur wurde breit veröffentlicht. Den vier Amerikanern, die weder die Zeit hatten, sich die Nachrichten anzusehen noch genug Spanisch sprachen, um sie zu verstehen, blieb dies verborgen. Aber die Menschen in Panama hatten nicht die Absicht, die Luther Hurd klammheimlich auslaufen zu lassen.

 

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Mit der Hand auf der Schulter seiner Jungen stand Manuel Reyes auf dem Gehsteig und sah durch die Barriere aus Maschendraht hindurch. Seine Söhne hielten Fahnen in der Hand, die panamaische in der einen und die amerikanische in der anderen. Er war sich mit der Gringo-Fahne nicht sicher, aber der alte Appell »Aber Papa, all die anderen Kinder …« hatten ihn nachgeben lassen. Und schließlich, so dachte er, hatten die yanquis ihm geholfen, Maria zu rächen. Sanft drückte er die Schultern seiner Jungen. Langsam kamen die Zeichen ihres alten Temperamentes wieder zum Vorschein.

»Da, Papa.« Miguelito zeigte auf etwas. »Dort. Wo das kleine Boot Wasser spritzt.«

»Ha. Du hast keine Ahnung, Miguel«, höhnte Paco, irritiert, dass sein Zwilling das Boot zuerst entdeckt hatte. »Das ist ein Feuerlöschboot. Du solltest seinen richtigen Namen verwenden.«

Reyes lächelte. Es ging ihnen viel besser. »Ihr habt beide recht. Ja, Paco, das ist ein Feuerlöschboot, und ja, Miguelito, ich glaube, das Schiff ist die Luther Hurd

Seine Worte gingen im Jubel unter, als das panamaische Volk die Luther Hurd verabschiedete.

 

 

M/T Luther Hurd
Auf der Höhe der Balboa-Docks, Panama

 

Blake ging auf der Brücke auf und ab, während McCluskey das Schiff lotste. Arnett stand am Bedienungspult, und ACP hatte einen Steuermann zur Verfügung gestellt, was Blake arbeitslos und nervös machte. Und, so musste er beim Blick auf sein verdrecktes, mit Rost überzogenes Schiff zugeben, auch peinlich berührte. Als ob man mit offenem Hosenschlitz herumlaufen würde, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkt. Wieder einmal wünschte er sich, sie wären in der Nacht ausgelaufen.

McCluskey lächelte. »Keine Sorge, Captain Blake. Ich werde nirgendwo auflaufen.«

Würde keinen großen Unterschied machen, dachte Blake vor den Balboa-Docks, die backbord vor ihnen auftauchten. »Was zum Teufel geht denn da vor«, wollte er wissen, als alle Schiffe im Hafen ihre Hupen erklingen ließen.

»Die Schiffe im Hafen wünschen der Luther Hurd eine gute Fahrt«, meinte McCluskey, überrascht von Blakes Reaktion.

Blake nickte mit zusammengebissenen Zähnen. So viel zu meinem Plan, ungesehen zu verschwinden, dachte er, während sie durch die Wasser des Hafens navigierten und Richtung Süden abdrehten.

»Was zum Teufel …«

»Kleine Fahrt voraus«, befahl McCluskey.

»Kleine Fahrt voraus, aye«, bestätigte Arnett.

McCluskey grinste. »Hier könnte es etwas trickreich werden, Captain, aber ich denke, wir werden es schaffen.«

 

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»Wir werden langsamer«, stellte der Erste Ingenieur fest. »Warum wohl?«

Milam zuckte mit den Achseln. »Wer weiß? Mit unserer Entscheidung, sie hier unten anzuschieben anstatt sie in die richtige Richtung zu lenken, haben wir uns gegen Sightseeing entschieden.« Das Telefon klingelte, bevor der Erste Ingenieur antworten konnte.

»Maschinenraum. Chief.«

»Jim. Kommen Sie hoch. Das müssen Sie sehen.«

»Ich kenne Balboa schon, Cap. Ich brauche …«

»Kommen Sie einfach, Chief! Sofort.« Blake legte auf.

»Mist«, sagte Milam verärgert. »Übernehmen Sie. Der Alte Mann hat etwas quersitzen.«

Der Erste Ingenieur nickte, und Milam begann seinen langen Aufstieg und murmelte etwas über Krawattenträger vor sich hin, die keine Rücksicht auf Leute nahmen, die ehrlicher Arbeit nachgingen.

Sobald er die Quartiere erreicht hatte, konnte er draußen seltsame Geräusche hören. Besorgt rannte er das zentrale Treppenhaus nach oben, nahm zwei Stufen gleichzeitig und stürzte auf die Brücke, um sich neben Blake an das Bugfenster zu stellen. Der Hafen wimmelte nur so von Booten aller Schattierungen, von der Brücke der Amerikas bis weit aufs Meer hinaus. Die Luther Hurd bewegte sich langsam Richtung Meer, beschränkt auf eine schmale Spur, die mit provisorischen Bojen markiert war und von Polizeibooten patrouilliert wurde. Schleppboote an Bug und Heck sollten sie sicher durch die Passage bringen, und ein Feuerlöschboot fuhr ihnen voraus, das Wasserfontänen hoch in den Himmel spritzte. Die Atmosphäre hallte nur so wider von Tröten und Pfeifen und Sirenen und Glocken, während die weniger gut ausgestatteten mit großen Löffeln auf Töpfe klopften.

Überall wehten Fahnen, meist panamaische, aber auch eine großzügige Zahl amerikanischer Flaggen war vertreten.

Die Menschen jubelten und winkten ihnen mit Plakaten zu, die DANKE und MUCHAS GRACIAS zeigten.

»Mein Gott«, entfuhr es Milam, als sie sich der Brücke der Amerikas näherten, von der ein Spruchband hing: MUCHAS GRACIAS, LUTHER HURD, und in kleineren Buchstaben darunter De parte de los niños de Panamá. Der Fußweg entlang der Brücke flimmerte nur so von Tausenden von Fahnen in kleinen Händen.

»Wer steht da auf der Brücke?«, fragte Milam mit heiserer Stimme. Blake hob sein Fernglas an.

»Es sind … es sind Kinder, eine Menge Kinder.«

Als sie unter der Brücke durchfuhren, warf McCluskey ihnen ein wissendes Lächeln zu. Ein großes Netz, das sich hinter dem Spruchband versteckt hatte, entließ eine Unzahl von tropischen Blumen und handgeschriebenen Karten mit guten Wünschen für die Luther Hurd. Die schwebten auf das Schiff hinunter und ließen sie wie einen Umzugswagen im Karneval aussehen. Milam verlor die Fassung.

»Verdammte Allergien«, brummte er und wischte sich verschämt die Augen mit dem Handrücken. »Mann, diese verdammten Petunien werden die Luftzufuhren verstopfen. Ich muss die Gebläse umstellen.« Blake und Arnett lächelten hinter ihm her, als er zurück in den sicheren Maschinenraum floh.

 

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Später, als sie sich im Schlepp befanden und die Küste langsam hinter ihnen verschwand, stand Milam neben Blake auf der Brückennock.

»Wie lange wohl, Jim«, fragte Blake. »Drei Monate?«

Milam zuckte mit den Schultern. »Es sollte zwei dauern, wahrscheinlich werden es vier werden, je nach der Priorität, die sie uns zugestehen. Im Moment hat jeder ein wohlig warmes Gefühl, aber sobald ich darauf bestehe, dass etwas auseinandergenommen wird und jemand dafür zahlen soll, sind die Flitterwochen vorbei.« Er seufzte theatralisch.

»Jeder will sein Geld zusammenhalten, aber wenn etwas auf See den Geist aufgibt, bin ich derjenige, an dem es hängenbleibt. In naher Zukunft sehe ich nur Diskussionen, lange Arbeitszeiten und Mitternachtsinspektionen vor uns.«

Blake konnte sein Lachen nicht unterdrücken. »Wem wollen Sie denn Geschichten erzählen? Genau das lieben Sie doch.«

Milams Versuch, empört auszusehen, misslang ihm kläglich. »Na ja, jedenfalls sollten wir unsere zweite ›Jungfernfahrt‹ in vier Monaten beginnen können.«

»Vielleicht gelingt es mir dieses Mal, sie in den Ladehafen zu bekommen«, meinte Blake.

Milam kicherte und lehnte sich gegen den Windschutz. Der angeschlagene Bug der Luther Hurd pflügte sich langsam durch den Wellengang des ihr vorausgehenden Schleppers. Blake sah vereinzelt Blumen, die am Deck entlanggetrieben wurden und dann die mit Rost überzogenen Seiten hinunterglitten. Aber irgendwie empfand er beim Anblick seines heruntergekommenen Schiffes plötzlich nicht mehr das geringste Schamgefühl.