25

»Verdammter Mist«, rief Anna ins Telefon. »Was ist mit dem Personenschutz?«

»Ist dran«, sagte Lou, »aber er liegt ein ganzes Stück hinter ihnen.«

Sie seufzte. »Okay. Luftunterstützung?«

»Ein Hubschrauber ist auf dem Weg. Kontrolle sieht Cassie in östlicher Richtung auf der Lambeth-Brücke, ganz in Ihrer Nähe. Fahrzeug unbekannt.«

»Ich brauche ein Fahrzeug«, bestimmte Anna.

»Sieht so aus, als ob der Verfolgungswagen direkt an Ihnen vorbeikommt«, erklärte Lou. »Können Sie in zehn Minuten an der Ecke Lambeth Road und Pratt Walk sein?«

»Jawohl.«

»In Ordnung. Die Agenten werden Sie anrufen, sobald sie sich der Kreuzung nähern. Ich schicke einen weiteren Wagen vom Hauptquartier aus los, als Backup, falls die Verfolgung plötzlich die Richtung ändert. Harry, Dugan, Reyes und ich kommen von der Askew Road. Ich rufe Ward an, aber wir haben keine Zeit, ihn abzuholen. Wir werden sie zurückbekommen, Anna.«

Das wollen wir hoffen, dachte Anna. Sie legte auf und schob sich durch das Gedränge auf Mrs Coutts zu, die am Rand der neugierigen Menschenmenge stand und dort die Namen eintreffender Mitarbeiter notierte, um eine Liste der vermissten Kollegen erstellen zu können. Anna sah sich um.

»Mr Kairouz?«

Mrs Coutts zeigte auf Alex, der in einiger Entfernung stand und sein Telefon einsteckte. Er drehte sich um und kam mit rotem Gesicht näher.

»So viel zu Ihren verdammten Versprechungen.«

»Alex …? Aber wie …«

»Von Mrs Farnsworth, die offensichtlich kompetenter als der gesamte Sicherheitsdienst Ihrer Majestät ist. Wo zum Teufel waren Cassies Beschützer?«

»Wir haben ein starkes Signal«, beruhigte ihn Anna, »und ich werde sie finden. Aber Sie sollten jetzt nicht allein sein. Warten Sie hier. Ich hole Mrs Coutts.«

Anna eilte davon. Bis sie mit Mrs Coutts zurückkam, war Alex verschwunden.

 

image

 

Alex umging eintreffende Feuerwehrleute. Er folgte dem Fluss in nördlicher Richtung, über die Westminster-Brücke zur U-Bahn-Station. Es war ein Fehler gewesen, Cassies Sicherheit anderen anzuvertrauen. Braun war zu klug. Ihm blieb jetzt nur noch, Brauns Spiel zu spielen.

Selbst diese Verfolgung brachte Cassie in Gefahr, aber er wusste, dass er sie nicht verhindern konnte. Offensichtlich war Braun nun das eigentliche Ziel, egal was Anna behauptete, da er allein der Schlüssel zu den Anschlägen war. Und falls Braun entkommen sollte, bedeutete das, dass er das Implantat gefunden und deaktiviert hatte und somit wusste, dass er kompromittiert war. In diesem Fall war Alex Cassies letzte Chance. Braun, der verzweifelte Fliehende, würde sie töten und dann versuchen, abzuhauen. Es sei denn, Alex bot ihm eine Alternative. Es sei denn, sein Geständnis und sein Selbstmord erreichten Braun rechtzeitig über die Nachrichten. Danach konnte Braun nicht mal des Kidnappings beschuldigt werden, da er offensichtlich auf Alex’ Anweisungen hin gehandelt hatte. Solange er nur Cassie nichts antat.

Alex klammerte sich an diesen winzigen Strohhalm und marschierte auf seine Verabredung mit dem Tod zu.

 

 

Bridge Street
Nahe der Westminster-Brücke

 

»Nichts?«, erkundigte sich Lou über die Schulter bei Dugan, der erneut wählte, ohne gewahr zu sein, dass Alex nur wenige Meter von ihm entfernt die U-Bahn-Station betrat.

»Noch eine ›Nicht erreichbar‹-Nachricht.« Dugan saß neben Reyes auf dem Rücksitz und starrte auf den Verkehr. Von der Vermutung ausgehend, dass die Lambeth-Brücke als Erste verstopft wäre, hatte Lou die Westminster-Brücke gewählt, wie der Rest der Londoner, wie es schien.

»Versuchen Sie es mit Gillian Farnsworth«, schlug Harry vor.

Dugan nickte und wählte. Sie war sofort am Apparat.

»Mr Dugan, Gott sei Dank rufen Sie an. Farley hat Cassie entführt. Ich habe sofort Mr Kairouz informiert, aber der hat aufgelegt und mich noch nicht zurückgerufen. Ich bekomme immer nur die Sprachbox. Die Schulleiterin hat die Polizei alarmiert, aber Ms Walsh’ ›Leibwächter‹ sind unauffindbar. Was soll ich tun?«

Sie wurde hysterisch. Dugan versuchte, sie zu beruhigen.

»Mrs Farnsworth … Gillian. Sie müssen um Cassies willen ruhig bleiben. Annas Leute folgen ihrer Spur und haben einen Plan, um sie zu retten.« Das hoffte er. »Ich kann Alex auch nicht erreichen, aber ich versuche es weiter und rufe Sie zurück, sobald ich ihn erwische.«

»In Ordnung«, sagte sie, schon etwas ruhiger.

»Wir wollen keinen Medienrummel. Suggerieren Sie der Direktorin, dass es bei der Entführung um eine Lösegeldforderung geht. Lassen Sie sie Stillschweigen schwören. Tun Sie das für mich?«

»Natürlich. Kein Grund, mich wie ein Kind zu behandeln, Mr Dugan.«

»Sie haben recht. Entschuldigen Sie.« Er war erleichtert, wieder den Stahl in ihrer Stimme zu hören.

»Annas Männer werden mit der Polizei sprechen.« Dugan sah Harry fragend an, der nickte und sein Telefon bediente. »Sie gehen am besten nach Hause. Ich rufe an, sobald ich etwas weiß.«

»Tun Sie das«, forderte sie, wieder ganz die Alte. »Auf Wiederhören, Mr Dugan.«

Dugan hängte auf und wartete, bis Harry seinen Anruf beendet hatte.

»Die Cops sagen, sie entkamen durch das Toilettenfenster. Ein Zwei-Mann-Job. Braun muss bei ihm sein.«

»Sein Plan ist angelaufen«, nickte Dugan. »Das Abfackeln des Büros verhindert, dass eine Verbindung zwischen ihm und dem Anschlagsschiff oder den Schiffen hergestellt werden kann und dass wir weiter nach Hinweisen suchen. Was bedeutet …«

»… dass wir den Schweinehund lebend erwischen müssen.« Lou beendete den Satz.

Die Männer grübelten vor sich hin. Harry unterbrach die Stille.

»Die Farnsworth-Sache haben Sie gut gemacht, Yank.«

»Vielleicht könnten Sie mir aus Dankbarkeit unseren Rettungsplan verraten, den wir meinem Versprechen nach haben«, erwiderte Dugan.

 

 

Lambeth Road in östlicher Richtung

 

Farley betätigte die Hupe.

»Versuchen Sie, Aufmerksamkeit zu erregen, Sie Idiot?«

Farley schmollte. Der Verkehr war stärker als erwartet. Sie hatten an mehreren Orten Fluchtfahrzeuge deponiert, hatten das erste aber immer noch nicht erreicht. Braun hatte beschlossen, wiederholte Autowechsel zu vermeiden und sich direkt nach dem ersten Tausch zum Unterschlupf zu begeben.

Der Schatten breitete sich erneut aus. Dieses Mal lehnte sich Braun aus dem Fenster und entdeckte hoch über ihnen einen Hubschrauber. Er zog sich zurück und studierte den Verkehr. Die linke Fahrspur lief gut, da viele Wagen nach links abbogen, um den Unfall vor ihnen zu umgehen.

»Biegen Sie links in die Saint Georges Road ab.«

»Aber wir sind doch beinahe durch den Stau durch.«

»Tun Sie es.«

 

 

Kreuzung Lambeth Road und Pratt Walk

 

Der Wagen hielt direkt vor Anna an. Der Agent auf dem Beifahrersitz sprang heraus und stieg hinten ein, um Anna seinen Sitz zu überlassen. Schon drückte der Fahrer auf die Hupe und erzwang sich den Weg zurück in den Verkehr.

»Was für eine verdammte Pfuscherei«, fuhr Anna sie an. »War es zu anspruchsvoll für Sie, ein junges Mädchen zu bewachen?«

Der Fahrer warf einen kleinlauten Blick über seine Schulter und überließ das Wort seinem Partner auf dem Rücksitz, der nach einer langen Pause ansetzte. »Anna …«

»Sparen Sie sich das. Nichts was Sie sagen, wird Ihnen helfen. Und jetzt geben Sie mir das verdammte Funkgerät.« Sie hielt die Hand auf.

Der Agent reichte es ihr vom Rücksitz her, und Anna übernahm die Verantwortung.

»Kontrolle. Walsh hier. Ich befinde mich im Verfolgungswagen an der Kreuzung Lambeth Road und Pratt Walk. Stehen alle Einheiten in Verbindung?«

»Jawohl, Walsh. Sie sind Verfolger eins. Chesterton ist Verfolger zwei. Der Hubschrauber ist Luftraum eins. Das Ziel befindet sich östlich Ihrer Position auf Lambeth, nahe dem Kriegsmuseum.«

»Verfolger eins an Luftraum eins. Haben Sie eine ID?«

»Negativ, Walsh. Ich kann ihn noch nicht ausmachen«, informierte sie der Hubschrauberpilot.

»Verfolger zwei, verstanden? Ihr Standort, Lou?«, fragte Anna.

»Verstanden, Anna. Wir sind auf der anderen Seite der Brücke in östlicher Richtung auf der Westminster Bridge Road unterwegs. Wir halten uns parallel, falls er nach Norden ausbrechen will. Wo wollen Sie die Polizei?«

»Außer Sicht«, bestimmte sie. »Sobald ihn der Hubschrauber identifiziert, täuschen wir vor ihnen einen Unfall vor. Und sobald er anhält, überraschen wir ihn.«

»Verstanden«, sagte Lou und fragte: »Anna, haben Sie Kairouz gesehen?«

»Negativ. Er ist verschwunden.«

»Verstanden«, bestätigte Lou.

Sie dachte kurz an Alex und verfluchte dann den Verkehr. Zumindest war Braun genauso gefangen.

 

 

Saint Georges Road in nördlicher Richtung

 

Der Verkehr in der Saint Georges Road bewegte sich flüssiger, da die meisten nach Osten auf die Westminster Bridge Road und zurück zum Saint Georges Circus abbogen.

»Fahren Sie rechts. Folgen Sie dem östlichen Verkehr«, befahl Braun und lehnte sich wieder aus dem Fenster.

Farley folgte der Anweisung. Braun zog den Kopf zurück. »Immer noch da«, sagte er.

»Wer?«

»Der Hubschrauber, der uns verfolgt.«

Farley versuchte durch die Windschutzscheibe nach oben zu sehen.

»Augen auf die Straße«, rügte Braun ihn laut.

Farley starrte erst Braun an und dann nach vorn.

»Interessant. Die Polizei kann uns nicht gefunden haben. Selbst wenn jemand einen IPS-Wagen an der Schule gesehen hat, gibt es in der Stadt Hunderte von ihnen. Deshalb hab ich ihn uns ja besorgt. Irgendwie verfolgen sie uns. Das kann nur das Mädchen sein. Entweder über einen Peilsender oder ein Implantat.«

»Mann, die Grippeschutzimpfung«, fiel es Farley wie Schuppen von den Augen. »Die schien echt. Sie jammerte den ganzen Weg nach Hause. Verpasste sogar am nächsten Tag die Schule, was im Nachhinein für eine einfache Spritze etwas übertrieben scheint.«

»Direkt vor unserer Nase«, fing Braun an, fasste sich dann aber wieder. Das Wichtigste zuerst.

»Also gut. Überlegen wir. Unsere Gegner überzeugten einen Arzt, können uns aus der Ferne überwachen und haben einen Hubschrauber. Das riecht nach den Behörden.«

»Scheiße. Schneiden Sie das Implantat raus und werden Sie es los. Besser noch, werfen Sie sie zur Ablenkung raus.«

»Und dann, Sie Vollidiot? Dann verschwinden wir wie durch Zauberhand aus diesem Verkehr in dieser bunten Schuhkiste? Nein, ich habe Pläne mit unserem kleinen Einfaltspinsel. Noch ist es ihnen nicht gelungen uns zu identifizieren, sonst hätten sie schon was versucht. Bisher sind wir nur ein Signal. Fahren Sie einfach, während ich nachdenke.«

Die Idee kam ihm in der Nähe des Saint Georges Circus.

»Nehmen Sie die London Road nach New Kent«, sagte Braun. »Die Mehrzahl der Wagen wird auf der gleichen Route bleiben, und ein IPS-Lieferwagen Richtung Flughafen ist nichts außergewöhnliches.« Er erläuterte weiter.

Später auf der New Hope Road erwischte Farley absichtlich das Rotlicht nahe dem B&Q Super Center.

»Also gut«, sagte Braun. »An der Laderampe, in zehn Minuten. Und, Farley, tun Sie so, als ob Sie dazugehören.«

Farley gab ein zustimmendes Grunzen von sich, als Braun den Lieferwagen verließ, um sich in der Menge zu verlieren.

 

 

Lambeth Road
In der Nähe des Saint Georges Circus

 

Anna fluchte. Brauns Vorsprung hatte sich vergrößert.

»Das Ziel ist stationär an der New Kent Road und Balfour Street«, informierte sie die Kontrolle.

»Verstanden«, bestätigte der Hubschrauberpilot. »Ein IPS-Wagen und zwei Autos stehen vor der roten Ampel. Einer von ihnen muss es sein.

»Moment, jemand verlässt den Lieferwagen. Verdammt. Er ist in der Menge untergetaucht und …«

»Luftraum eins, folgen Sie dem Signal«, sagte Anna. »Wir sind knapp zwei Kilometer entfernt. Lou, Standort?«

»Fünfhundert Meter hinter Ihnen, Anna.«

»Die Personenwagen biegen ab«, berichtete der Hubschrauberpilot, »der Lieferwagen fährt direkt zum Terminal.«

»Kontrolle hier. Das Signal folgt der New Kent Road.«

»Bingo!«, rief der Pilot. »Positive ID des IPS-Lieferwagens.«

»Ausgezeichnet«, lobte Anna. »Lou, die Polizei soll zwei Straßenblöcke absperren, während wir planen, wie wir uns am besten nähern.«

»Okay, Anna.«

Sie lehnte sich gerade in dem Moment nach vorn, als quietschende Reifen, gefolgt von einem lauten Knall, zu hören waren und eine Welle von Bremslichtern vor ihnen aufflammte.

 

 

Sudsbury und Smythe, Privatbankiers
Lombard Street, London

 

Clive Carrington-Smythe, Generaldirektor und Mehrheitseigner von Sudsbury and Smythe, starrte den Koffer unsicher an. Wenn Generationen von Smythes und Bindestrich-Smythes eines gelernt hatten, dann, dass der Ruf alles war. Und diese Sache fühlte sich fragwürdig an. Aber er konnte sich nicht weigern. Seit dem Auftauchen von Braun vor einem Monat war die Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft Inhaber seines größten Kontos. Außerdem hinterfragte Braun nie die anfallenden Kosten. Beinahe wie in den guten, alten Zeiten, als Familienvermögen von Gentlemen verwaltet wurden, die viel zu höflich waren, um sich nach Gebühren zu erkundigen. Aber es ist schon eine Menge Geld, dachte er beim erneuten Blick auf den übergroßen Reisekoffer.

»Mr Kairouz, Sir.« Seine Sekretärin führte einen Mann herein.

»Mr Kairouz, endlich. Es war wirklich angenehm, mit Captain Braun zu verhandeln. Es tut mir nur leid, dass Ihr Zeitplan unser Kennenlernen nicht erlaubte.«

Der Mann nickte, sah aber verwirrt aus. Dem Bankier erging es nicht anders. Sein Gast sah ungepflegt aus, mit Ringen unter den Augen und einem leeren Blick.

»Kaffee oder Tee?«, erkundigte sich Carrington-Smythe und bot seinem Besucher die Couch an.

»Nichts, danke. Ich habe es eilig, leider.«

»Selbstverständlich«, nickte der Bankier. Er legte den Koffer auf den Couchtisch. »Üble Halunken, diese Piraten. Die Royal Navy sollte sie alle aufhängen, wie in den guten, alten Zeiten.«

Er öffnete den Koffer. »Wir mussten kreativ sein, um alles hineinzubekommen. Dollar, Pfund und Inhaberaktien.« Er legte ihm ein Papier vor. »Wenn Sie sich vom Inhalt überzeugen möchten und dann bitte hier unterschreiben.«

»Ich bin sicher, alles ist in Ordnung.« Kairouz unterschrieb.

»Aber … aber … Sir, das sind zwölf Millionen Doll…«

»Ich vertraue Ihnen.« Kairouz schloss den Koffer und erhob sich, den Koffer in der Linken, die Rechte ausgestreckt. »Vergeben Sie mir meine Eile, aber wie gesagt, ich stehe unter Druck.«

»Selbstverständlich. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Nein, ich … Oder doch. Mein Handy-Akku ist leer. Könnten Sie mir ein Taxi rufen?«

»Aber gern. Wohin?«

»Heathrow. Zum privaten Terminal.«

 

 

B&Q Super Center, New Kent Road
In der Nähe des IPS-Hauptterminals, London

 

Braun verließ den Baumarkt mit einer langen Kiste auf der Schulter. Er eilte zum Terminal, verlangsamte seinen Schritt am Tor, um einer gelangweilten Wache zuzuwinken und ein Nicken der Erwiderung zu bekommen. Er entdeckte Farley ganz am anderen Ende des überdachten Ladedocks neben einem anderen Wagen, beide rückwärts eingeparkt und von oben her nur von vorne sichtbar. Beim Einsteigen bedeutete er Farley, ihm nach hinten zu folgen.

»Fesseln Sie sie, damit sie sich nicht bewegen kann.« Braun warf Farley eine Rolle Klebeband zu.

Farley arbeitete schnell und beobachtete, wie Braun die Kiste öffnete.

»Abschirmfolie für Fenster«, las er laut. »Was zum Teufel ist denn das?«

»Dies, Farley, wird unseren Gast unsichtbar machen. Helfen Sie mir, sie einzuwickeln.«

Minuten später war Cassie von einem silbernen Kokon umhüllt.

»Okay«, sagte Braun, »Wenn Sie mich klopfen hören, tragen Sie sie in den Lieferwagen nebenan.«

»Aber warum …«

»TUN SIE ES EINFACH«, forderte Braun ihn auf, hob die hintere Tür an und schloss sie dann von außen.

Er trat in den Laderaum des anderen Kastenwagens. Der Fahrer stapelte Pakete und wandte ihm den Rücken zu. Er drehte sich erst um, als sich der Wagen unter Brauns Gewicht bewegte und bekam dafür eine Kugel in den Kopf. Das leise Geräusch der schallgedämpften Pistole verlor sich im Lärm der Rampe.

Braun schleppte Kisten auf die Laderampe und errichtete so eine Mauer zwischen den beiden Lieferwagen. Dann klopfte er an die Rückseite seines eigenen Wagens und schob die Rolltür hoch. Ungesehen trug Farley Cassie nach nebenan.

Braun sah nach drinnen und nickte zum toten Fahrer hin. »Nehmen Sie sich die Schlüssel und halten Sie sich bereit.«

»Wo gehen Sie hin?«

Braun lächelte. »Eine kleine Ablenkung arrangieren«, versprach er.

Der Pausenraum war leer, das Mobiliar mit gelesenen, zerknitterten Zeitungen übersät. Snackautomaten standen an einer Wand, ein Tresen beherbergte kleinere Küchengeräte. Braun fand eine Kammer mit einem Gasboiler. Zurück am Tresen stopfte er Zeitungen in den Tischbackofen und ließ die Tür offen, bevor er zur Kammer zurückkehrte. Gas zischte, als er die Verbindung abschraubte.

Er stellte den Ofen an und ging.

 

 

New Kent Road
Mehrere Hundert Meter vom IPS-Terminal entfernt

 

»Kontrolle. Hier Verfolger eins. Auf der New Kent Road, wieder mobil«, verkündete Anna.

»Verstanden, Verfolger eins. »Ziel ist … Moment … kein Signal, ich wiederhole, kein Signal.«

»Luftraum eins«, fragte Anna, »sehen Sie ihn?«

»Ich kann die Vorderseite des Lieferwagens sehen. Er hat sich nicht bewegt.«

»Kontrolle, ist ihre Ausrüstung okay?«, fragte Anna.

»Alles in Ordnung, Verfolger eins. Der Sender wurde deaktiviert.«

Der Bastard hat uns entdeckt, dachte Anna. »Lou. Standort?«

»Achthundert Meter zurück«, antwortete Lou. »Harry spricht mit der Polizei. Der Verkehr hat sie aufgehalten; sie brauchen mehr Zeit, um abzusperren.«

»Verfolger eins«, unterbrach der Hubschrauber. »Bewegung im Terminal.«

»Brauns Lieferwagen?«, erkundigte sich Anna.

»Negativ. Aber vier andere fahren jetzt los.«

Braun hatte Cassie mitgenommen. Das war Anna klar. Sonst hätte er das Signal als Köder zurückgelassen. Er war unterwegs, aber nicht in seinem Wagen. Und Männer, die zu Fuß unterwegs waren und ein Mädchen mit sich herumschleppten, würden auffallen.

»Alle Einheiten«, warnte Anna. »Cassie ist in einem dieser Wagen.«

»Luftraum eins hier. Alle vier sind östlich auf der New Kent unterwegs. Wem soll ich folgen?«

»Luftraum eins«, entschied Anna, »alle müssen durch den Great-Dover-Kreisverkehr. Vier Lieferwagen mit drei möglichen Ausfahrten. Bleiben Sie über der größten Gruppe. Verfolger zwei und ich werden die Kastenwagen verfolgen, die sich absetzen. Behalten Sie so viele wie möglich so lange es geht im Auge, um die Polizeieinheiten zu informieren. Alle Einheiten, bestätigen Sie.«

»Verstanden, Verfolger eins«, meldete sich der Pilot.

»Wir haben verstanden«, sagte Lou. »Harry organisiert einen zweiten Hubschrauber, und die Polizei weist IPS an, all ihre Fahrer am Straßenrand zu stoppen. Selbst wenn er uns entkommen sollte, wird er der einzige Wagen sein, der unterwegs ist.«

»Hervorragend, Lou«, bestätigte Anna. »Ich sehe den letzten Lieferwagen jetzt vor uns.«

»Und wir haben Sie in Sicht«, kündigte Lou an. »Diese Schweinehunde erwischen wir, Anna.«

Dein Wort in Gottes Ohr, dachte Anna und konzentrierte sich auf den Kastenwagen vor ihr.

 

 

New Kent Road in östlicher Richtung

 

Farley fuhr als dritter von vieren.

»Wohin?«, fragte er.

»Ein Hubschrauber kann nicht allen folgen. Wir fahren dorthin, wo die anderen nicht hinfahren«, sagte Braun und beobachtete die Lieferwagen vor ihm und im Rückspiegel den Wagen hinter ihnen.

Der erste und der letzte Lieferwagen zogen nach links, während der Zweite sich rechts einordnete.

»Gut«, sagte Braun. »Zwei fahren Richtung Norden entlang der Great Dover, und der hinter uns will südlich auf die Old Kent Road. Wir nehmen die Tower Bridge Road. Der Hubschrauber wird aller Wahrscheinlichkeit nach den beiden Wagen nach Norden folgen. Und« – im Seitenspiegel sah er auf das Terminal zurück – »wir sollten etwas Unterstützung bekommen, ungefähr … jetzt.«

Er grinste, als hinter ihnen Flammen aufschossen, gefolgt von einem leisen Grollen.

 

 

Tower Bridge Road

 

»Wir haben Sie abgehängt«, schätzte Braun. »Zeit, den Lieferwagen loszuwerden.«

Farley nickte. »Der nächste Fluchtwagen steht auf dem Parkplatz vor Saint Thomas.«

»Denken Sie nach, Farley. Dort fallen wir sofort auf. Finden Sie das nächste Parkhaus. Ich bleibe bei dem Mädchen, während Sie sich umziehen und mit dem Taxi den Wagen vor Saint Thomas abholen.«

Farley nickte. Minuten später parkte er im zweiten Stock eines Parkhauses. Sobald er gegangen war, griff Braun nach seinem Telefon.

»Mr Carrington-Smythe, bitte. Captain Braun hier.«

Einen Moment später war Carrington-Smythe am Apparat.

»Guten Morgen, Captain Braun. Wie kann ich Ihnen …«

»Bitte«, flüsterte Braun, »Sie müssen mir helfen. War er schon bei Ihnen?«

»Wer? Kairouz? Ja sicher, schon vor einer Weile. Ich habe genau das getan, worum Sie mich gebeten haben.«

»Nur unter Druck. Kairouz hat meine Familie bedroht. Der arme Sutton weigerte sich mitzuspielen, und das Monster hat ihn erschossen und zur Vertuschung das Büro in Brand gesteckt. Er raubt die Firma aus und flieht.«

»Mein Gott, Mann! Sie müssen zur …«

»Kann ich nicht. Seine Schläger beobachten mich. Unterrichten Sie die Behörden, aber bitte, bitte, erwähnen Sie meinen Namen nicht, um meiner Kinder willen. Warten Sie! Da kommt jemand. Ich muss …«

Lächelnd legte Braun auf. Das sollte genügen.