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US-Botschaft
Napier Road, Singapur, 26. Mai

 

Himmel, was für ein hässliches Gebäude! Dugan stieg den Hang zum Botschaftseingang hoch. Singapurische Zivilwachen bestätigten seine Identität und den Grund seines Besuches, er passierte einen Metalldetektor und fand dann seinen Weg zur Ausweisabteilung.

Minuten später stand er in einem fensterlosen Konferenzraum. Jesse Ward erschien, gefolgt von einem jüngeren Mann.

Dugan hatte Ward persönlich seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Das drahtige, schwarze Haar des Mannes war dünner geworden und von Grau durchzogen, und sein dunkles Gesicht hatte Falten. Seine weichen, braunen Augen zeugten aber immer noch von seiner wachen Intelligenz, obwohl er in seinen Khakis und seinem zerknitterten blauen Jackett durchschnittlich und unauffällig wirkte. Der perfekte Look für einen talentierten Agenten.

»Schön, Sie zu sehen, Tom.« Ward schüttelte Dugan kräftig die Hand, während er in Richtung seines Begleiters nickte.

»Das ist mein Chef, Larry Gardner.«

Welch enormer Unterschied, dachte Dugan und schüttelte Gardners Hand. Gardner war weit jünger. Er besaß den makellosen Teint eines Filmstars und stellte schwarze, perfekt geföhnte Haare zur Schau. Sein Anzug hatte nie den Bügel eines Geschäftes gesehen, auch nicht den eines teuren, und seine seidene Krawatte präsentierte sich mit perfektem Knoten. Der Aufschlag seines schneeweißen Anzughemdes unter der Anzugjacke gab den Blick auf gestickte Initialen frei. Eine goldene Rolex verriet Vermögenswerte, die über ein Regierungsgehalt hinausgingen. Er sah wie ein Anwalt aus. Dugan konnte ihn vom ersten Moment an nicht ausstehen.

»Okay, wo brennt’s denn?«, fragte Dugan, nachdem sie Platz genommen hatten. »Es muss wichtig sein, um Sie den ganzen Weg von Langley nach Singapur zu bringen.«

Ward öffnete den Mund, aber Gardner kam ihm zuvor.

»In welcher Beziehung stehen Sie zur Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft, Dugan?«

Dugan warf Ward einen fragenden Blick zu und zuckte dann mit den Schultern. »Alex Kairouz ist mein bester Kunde und ein guter Freund. Ich beaufsichtige gerade die Reparatur eines seiner Schiffe hier oben in Sembawang.« Er hielt inne. »Wieso? Worum geht es denn?«

»Würde es Sie überraschen zu erfahren, dass Kairouz Verbindungen zu Terroristen hat?«

Dugans Gesicht verriet seine Überraschung, bevor sich seine Augen im Zorn verengten.

»Alex Kairouz? Terroristen? Schwachsinn. Er hasst diese muslimischen Fanatiker.«

»Wer hat etwas von Muslimen gesagt, Dugan?«

Dugan sah Gardner starr an. »Ein Schuss ins Blaue. Die IRA und die Volksfront zur Befreiung von Kansas haben in letzter Zeit wenig hochgehen lassen.«

Gardner lief rot an und öffnete eine Akte, deren Inhalt er scheinbar studierte. »Er hat Ihnen einen Menge Geld gegeben.«

»Gegeben hat er mir überhaupt nichts. Er bezahlt mich für geleistete Dienste.«

»Gut möglich«, meinte Gardner, »aber Ihre Beziehung und andere Dinge bringen Sie in Misskredit. Ward hier spricht in den höchsten Tönen von Ihnen, aber bis wir sicher sind, auf welcher Seite Sie stehen …«

»Auf welcher Seite ich stehe?« Dugan unterbrach ihn, sah erst Ward an und konzentrierte sich dann erneut auf Gardner.

»Wissen Sie, wenn ich sensibel wäre, könnte das meine Gefühle verletzen.«

»Hören Sie zu«, wies Gardner ihn zurecht. »Lassen Sie die Show. Ihre Pflicht als amerikanischer Staatsbü…«

»Mr Gardner. Larry. Ich darf Sie doch Larry nennen?« Dugan redete weiter, ohne auf Antwort zu warten. »Larry, ich versichere Ihnen, dass ich kooperieren werde.«

Gardner sah Ward mit einem selbstgefälligen Lächeln an.

»Nichtsdestotrotz geht es bei Kooperation um Beziehungen. Wie etwa die Verbindung, die zwischen Agent Ward und mir besteht. Aber Larry, diese Chemie spüre ich zwischen uns beiden nicht. Das ist sicher mein Fehler, aber ich denke, ich sollte mit einem Ihrer Kollegen weitersprechen.« Er pausierte. »Stehen Dick und Doof zur Verfügung?«

Gardners Lächeln verflüchtigte sich. »Scheißkerl.« Er stand auf, stakste nach draußen und schlug die Tür hinter sich zu.

Ward schüttelte den Kopf. »Durch Ihr Verhalten könnte ich meinen Job verlieren, Tom.«

»Niemals. Selbst die Regierung braucht einige kompetente Leute. Warum laden Sie mich nicht zum Essen ein und klären mich über meine Pflichten als loyaler Amerikaner auf?«

Ward nickte.

»Wunderbar. Treffen wir uns um zwanzig Uhr in der Lobby von Traders. Und machen Sie ein Schläfchen. Sie sehen arg mitgenommen aus.«

»Danke«, sagte Ward.

»Im Ernst. Wenn Sie tot umfallen, muss ich vielleicht mit diesem Schwachkopf verhandeln.«

 

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Ward leerte sein Glas. Hoch aufgetürmte Krebsschalen stapelten sich neben den Resten von gebackenen Nudeln und anderen singapurischen Delikatessen. Dugan hob ein Tigerbier hoch und sah ihn fragend an, aber Ward lehnte ab. Allein saßen sie auf der Dachterrasse des Restaurants, hoch über der Geschäftigkeit der Freiluftrestaurants, die den Boat Quay unter ihnen flankierten. Der Zugang über die enge Wendeltreppe erschwerte zwar den Service, aber Dugans Status als alter Kunde und großzügiger Trinkgeldgeber machte ihnen das abgeschiedene Mahl möglich.

»Sicher genug für Sie?«, fragte Dugan.

Ward nickte.

»Also erzählen Sie mir, Jesse, wie sind Sie an dieses Arschloch als Chef gekommen?«

Ward zuckte mit den Schultern. »Gelegentlich fällt die Agentur auf die ›verrückte Managementtheorie der Woche‹ rein. In diesem Fall rotieren ›Führungskandidaten‹ durch Aufsichtspositionen. Die Abteilung ›Operationen‹ ist gewöhnlich davon ausgenommen, aber nicht dieses Mal. Gardner ist der Erste. Er wurde uns zugeschustert, da maritimer Terrorismus nicht so sexy ist wie abstürzende Flugzeuge.«

»Den durchschaut doch sicher jeder. Er hat die Persönlichkeit eines Tripper-Infekts.«

»Er kann gewieft sein und hat Beziehungen und politische Ambitionen.« Ward grinste. »Vielleicht haben Sie einem zukünftigen Präsidenten die Meinung gegeigt.«

Dugan schüttelte sich. »Der Himmel bewahre uns.«

»Keine Sorge, um den kümmere ich mich schon.«

»Sie kümmern sich um ihn, während wir genau was tun?«, informierte sich Dugan.

Ward sah Dugan direkt in die Augen. »Tom, Sie müssen Kairouz’ Angebot annehmen.«

Dugan sah überrascht aus. »Woher wissen Sie …«

Dann verstand er. »Verdammt noch mal. Sie hören mein Telefon ab?«

Ward zuckte nicht mit der Wimper. »Natürlich werden Sie abgehört. Genau wie ich und alle anderen auch. Sie unterschrieben vor langer, langer Zeit die entsprechende Einverständniserklärung. Damals, als Sie zustimmten, Augen und Ohren für uns offenzuhalten und gelegentlich einige Aufnahmen zu machen. Wie sollte es auch anders sein? Zu viel steht auf dem Spiel, um uns nicht selbst zu beaufsichtigen.«

Dugan nickte, nach langem Zögern. »Verstanden. Das heißt aber nicht, dass es mir gefallen muss. Also, worum geht es bei Phoenix? Ach ja, und was zum Teufel wollte Gardner andeuten, als er sagte, dass meine Verbindung zu Alex ›und andere Dinge‹ mich in Misskredit bringen? Welche anderen Dinge?«

»Letzte Woche haben Sie ein Schiff für MSC inspiziert«, begann Ward.

Dugan nickte. »Die Alicia, aber wie passt die zum Thema?«

»Sie wurde auf dem Weg nach Thailand entführt.«

»Entführt? Unmöglich«, erwiderte Dugan. »Was ist mit der Abordnung der Navy an Bord?«

»Drei von ihnen sind tot«, fuhr Ward fort. »Allein der Anführer des Teams, ein junger Unteroffizier namens Broussard, überlebte. Es gelang ihm, eine Warnung durchzugeben, und kurz danach wurde er in der Meerenge treibend von den Malaysiern aus dem Wasser gefischt.«

Dugan wurde still. »Den habe ich kennengelernt. Schien ein netter Junge zu sein.«

Ward nickte nur. »Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit Phoenix … oder mit mir zu tun hat.«

»MSC charterte das Boot über Willem Van Djik in Rotterdam«, erklärte Ward. »Van Djik erfuhr von dem Job durch einen Anruf von jemandem bei Phoenix. Van Djik wurde wegen Verdacht auf Schmuggel, der damit nicht in Verbindung steht, von den Holländern überwacht. Die Telefonleitung als solche war vor Lauschangriffen geschützt, aber dank der Wanzen konnten sie seine Seite im Büro mithören und verfolgten dann die Quelle zurück zu Phoenix in London. Erst nach dem Kidnapping zählten sie eins und eins zusammen.

»Die Sache ist so«, erläuterte Ward weiter. »MSC charterte die Alicia nur, weil sie das einzige zur Verfügung stehende Schiff war. Und das war kein Zufall. Nachforschungen ergaben, dass Van Djik viel Geld dafür ausgab, andere, gleichwertige Tonnagen über eine Vielzahl von Scheingesellschaften zu chartern, um sie vom Markt zu bekommen.«

Ward sah Dugan in die Augen. »Niemand stiehlt Kanonenboote, um Wasserski zu fahren, Tom, und Sie hängen von beiden Seiten aus mit drin. Auf der einen Seite Ihre Verbindung zu Phoenix und die Tatsache, dass Sie das Schiff inspiziert haben und sich seiner Fracht bewusst waren, bevor es entführt wurde …«

»Wie tausend andere auch«, warf Dugan ein.

Abwehrend hielt Ward die Hände hoch. »Damit will ich nicht sagen, dass ich denke, Sie haben etwas mit der Sache zu tun, Tom. Aber es ist ein Zufall, und in meinem Geschäft sind Zufälle nicht sehr beliebt. Wir kennen uns schon sehr lange, aber jemandem wie Gardner sind Sie verdächtig. Ich riskiere hier meinen Hals dadurch, dass ich Sie einweihe. Normalerweise würde ich das auch nicht tun. Aber unsere lange Bekanntschaft und Ihre Beziehung zu Kairouz machen Sie einfach zu unserem besten Mann, um Phoenix zu infiltrieren.«

»Jesse, dafür bin ich nicht ausgebildet.«

»Hauptsächlich werden Sie uns dabei unterstützen, einen britischen Agenten einzuschleusen«, konterte Ward.

Dugan zögerte und spielte mit der Idee, Ward von Alex Kairouz’ merkwürdigem Verhalten in letzter Zeit zu erzählen.

Nein, dachte er, das lässt du besser im Moment. »Mir ist einfach nicht wohl dabei, hinter Alex her zu spionieren«, brachte Dugan stattdessen heraus.

»Was ist besser für Kairouz? Sie oder einen Fremden dort zu haben?«

Dugan überlegte. »Schön, ich tu’s«, stimmte er endlich zu.

»Gut. Vorausgesetzt, Sie akzeptieren die Möglichkeit, dass Kairouz schuldig ist.«

»So wie Sie die Möglichkeit akzeptieren, dass ich schuldig bin?«

Ward wechselte das Thema.

»Erzählen Sie mir von der Alicia

Dugan zuckte mit den Schultern. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ein kleines Küstenboot mit Frachtraum. Ihr Skipper ist ein Holländer, der sie in Grund und Boden rennt. Der Name des Ersten Offiziers ist Ali noch was – Sheboni, glaube ich. Er scheint den Laden zu schmeißen.«

»Sheibani«, korrigierte Ward. »Broussards Bericht nach organisierte Sheibani die Entführung und ermordete dabei drei von Broussards Männern. Zwei kaltblütig aus nächster Nähe.«

Dugans Gesicht verhärtete sich. »Diese verdammte kleine Ratte. Gibt es irgendwelche Hinweise?«

Ward schüttelte den Kopf.

»Bereits wenige Stunden nach der Meldung wurde dieser Bereich vollständig mit Satelliten gescannt, ohne Erfolg. Unmöglich, dass die Alicia bis dahin die Meerenge schon wieder verlassen hatte. Wir gehen davon aus, dass sie sich auf der indonesischen Seite befindet. Ihrer letzten bekannten Position und Höchstgeschwindigkeit nach könnte sie sich irgendwo entlang eines zweihundert Meilen langen Küstenstreifens aufhalten – eintausend Meilen, zählt man die Inseln und die Buchten mit. Hunderte von guten Verstecken.«

Dugan nickte. »Ich verstehe das Problem. Sie können nicht mal Orte mit niedriger Wassertiefe außer Acht lassen. Wenn ich mich recht erinnere, hat die Alicia nur einen Tiefgang von etwa vier Meter dreißig, voll beladen. Das sind fünfzehnhundert Tonnen. Die Kanonenboote plus Ausrüstung wiegen weniger als fünfzig.«

»Ganz recht«, stimmte Ward zu. »Absolute Priorität hat natürlich das Wiedererlangen der Boote. Wir denken, dass die Entführer sie umgehend von der Alicia entfernt haben. Einzelne Boote sind viel einfacher zu tarnen und durch die Mangrovensümpfe zu transportieren.«

»Da haben Sie Ihre Antwort«, meinte Dugan.

Ward sah ihn verwirrt an, und Dugan fuhr fort. »Um die Boote von der Alicia zu entfernen, brauchen sie einen Kran. Große Schwimmkräne sind ziemlich selten, und eine Ship-to-Shore-Krananlage braucht solide Docks.«

 

 

Zwei Tage zuvor
M/V Alicia, entlang der indonesischen Küste

 

Sheibani bewegte sich von Brückennock zu Brückennock, während er ruhig Steuerkommandos erteilte, um die Alicia im Mondlicht und bei steigender Flut durch die niedrige, sich windende Passage des Mangrovensumpfs zu befehligen. Sein bester Mann stand am Ruder, und durch Abstoßen von Ballast hatte er die Alicia auf zwei Meter Tiefgang angehoben. Der Rest der Crew bemannte mit starken Handlampen die Reling und warnte vor Hindernissen.

Propeller und Ruder lagen nur teilweise unter Wasser und das Schiff war dadurch schwer zu steuern, aber jedes Mal, wenn er es im weichen Schlamm festfuhr, wartete er auf die Flut, stieß zurück, und setzte die Durchquerung der Passage dann vorsichtig fort. Bedauerlich, dass niemand von Alicias letzter Ruhestätte erfahren und seine Fähigkeiten bewundern würde, aber die Ungläubigen zu überlisten war Belohnung genug.

Bei Beginn der Morgendämmerung von Osten her konnte er sein Ziel ausmachen: ein zerfallenes Betondock neben einem Becken stillen Wassers. Durch breite Risse im Dock zwängten sich die Bäume, einige mit dreißig Zentimetern Durchmesser, mit Kronen, die das Deckshaus der Alicia überragten, und mit dicken Ästen, die über das Wasser reichten. Sheibani rief eine Warnung aus, und die Mannschaft eilte ins Deckshaus, während er im Ruderhaus den Steuermann zur Seite schob und das Ruder selbst in die Hand nahm. Dann erhöhte er die Geschwindigkeit und rammte die Backbordseite der Alicia in das Dock. Die Wucht des Aufpralls zwang ihren Deckaufbau, ihre Ladebäume und Masten durch das Blätterwerk hindurch. Starke Äste brachen wie unter dem Klang von Kanonenschüssen ab und fielen über das Deck. Das kleine Schiff verlangsamte seine Fahrt. Beim Kampf durch dieses Hindernis hatte sich die Alicia leicht nach Steuerbord geneigt, und dann hörte Sheibani das Kreischen von Stahl auf Beton. Er stellte den Motor ab, und unter leichtem Schütteln kam die Alicia zu einem vollen Stopp.

Sekunden später stand Sheibani steuerbord auf der Brückennock und beobachtete, wie seine Crew sich an ihre vorgegebenen Aufgaben machte. Einige kletterten aufs Dock, um Schiffstaue weiterzureichen, während andere Kettensägen anwarfen, um das Deck von abgestürzten Ästen zu befreien. Das Kleinholz schleuderten sie über die dem Ufer abgewandte Seite des Schiffes. In kürzester Zeit war das Schiff gesichert, wobei überhängende Äste den größten Teil des Fahrzeugs tarnten. Das Tarnnetz würde den Rest übernehmen.

Diesen Ort hatte Sheibani zum ersten Mal mit einem Geländemotorrad erkundet, geführt von einem alten Mann, der hier vor langer Zeit gearbeitet hatte. Übriggeblieben war allein das verfallene Hafenbecken und eine heruntergekommene Wellblechhütte, deren rostige Wände von Ranken überwuchert waren, und deren offene Seite wie ein schwarzes Grab im Grün des Dschungels aussah. Den Internationalen Entwicklungsfond davon zu überzeugen, einen Hafen meilenweit vom tiefen Wasser zu finanzieren, musste schwer gewesen sein, sogar vor Jahren, aber die Planer hatten gute Beziehungen. Sie hatten ein Dock zusammengeschustert und davor ein etwas über zehn Meter tiefes Loch ausgebaggert. Dafür erhielten sie eine saftige Abschlagszahlung. Monate später, als ein Überwachungsteam den Standort verlassen und überwuchert und den Tiefenwasserkanal zum Dock hin nur auf dem Papier existierend vorfand, hatte die Regierung Empörung vorgetäuscht, der IEF hatte die Schultern gezuckt, und danach hatten alle die Anlage vergessen, bis Allah Sheibani dreißig Jahre später hergeführt hatte. Seit drei Jahren nutzte er diesen Ort nun schon als Schmuggeldepot, indem er die Alicia Meilen entfernt im tiefen Wasser ankern ließ und hier nur mit dem Schlauchboot festmachte. Sowohl das Schiff als auch dieser Ort hatten ihm gute Dienste geleistet, aber es war an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun.

 

 

M/V Alicia
25. Mai

 

Sheibani nickte anerkennend, während er durch den Frachtraum schritt und selbstzufrieden den Fortschritt beobachtete. Er sah, wie seine Männer die Boote umschwärmten, die Sicherheitskabel entfernten und die Cockpitöffnungen mit dicken Plastikplanen abdeckten, bevor sie die Boote komplett mit industrieller Stretchfolie umwickelten. Bald würden sie so schwimmfähig und unsinkbar wie Korken sein.

Im hinteren Ende des Frachtraums entleerten Männer die Munitionskisten und reichten deren Inhalte über das Hauptdeck auf das verwitterte Betondock hinaus, während der Chefingenieur auf dem Bugdeck hockte und durch den metallenen Boden schnitt. Der zischende Brennschneider wechselte den Ton und ein sauber gezogener Stahlkreis fiel glühend in das Wasser des Ballasttanks darunter. Durch überhängende Zweige und das Tarnnetz konnte Sheibani Ausschnitte eines blauen Himmels über sich sehen. Er setzte seine Überprüfung der Vorbereitungsarbeiten fort. Sie mussten nur noch ein Netz von Kabeln um den Frachtraum herum anbringen und es zwischen den Bügelbeschlägen am Boden des Frachtraums und dem oberen Teil der Luke befestigen, um damit die Boote direkt unter der offenen Luke zu sichern. So Gott wollte, konnte er sein Gefängnis im Morgengrauen versenken. Er würde weder die Alicia noch die Hitze noch die indonesischen Affen vermissen.

 

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Der Himmel hellte sich weiter auf, als Sheibani mit seiner Crew auf dem Kai stand. Die Alicia lag nun unterhalb des Docks, und eine kurze, steile Gangway führte auf ihr Hauptdeck hinunter. Das Tarnnetz war verschwunden, und die Luke stand weit offen. Der Chefingenieur kam die Gangway hoch.

»Erledigt, Major«, berichtete er. »Sie liegt unterhalb ihrer Markierungen, der Bug sogar noch etwas tiefer. Das Fluten des Frachtraumes durch die angebohrten Ballasttanks läuft. Das Wasser wird in den vorderen Teil strömen und damit das Untergehen des Bugs beschleunigen. Der hintere Motorenbereich wird zuletzt überflutet. Bis das Wasser einen Kurzschluss in den Pumpen verursacht, wird sie frei schweben.« Er pausierte. »Mit Gottes Hilfe wird sie ebenerdig zur Ruhe kommen.«

Sheibani nickte. Das Wasser im Frachtraum stieg, die Boote fingen an zu schweben, hoben sich, während das Schiff unter ihnen sank. Dann verschwand das Deck der Alicia unter dem Wasser, das in Kaskaden über den Lukensüll von allen Seiten auf die Boote einstürzte. Die Boote hüpften und federten unter dem Einbruch, und innerhalb von Sekunden sackte die Alicia unter ihnen mit einem großen Blubbern weg. Der Chefingenieur grinste erleichtert, als die Boote unbeschädigt an der Oberfläche auftauchten und den Kehlen der ehemaligen Mannschaft der Alicia ein spontanes »Allahu Akbar« entwich.

 

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Die Kacheln kühlten DeVries’ Wange, als er an Händen und Füßen gebunden dalag. Sein Kopf dröhnte von der Prügel. Er fühlte, wie sich das Deck unter ihm neigte, während der Schiffsrumpf unter unbekanntem Druck aufstöhnte. Die Lichter flackerten, und er schloss seine Augen und wünschte sich das Ende dieses schlechten Traums herbei. Als das Wasser seine Wange erreichte, öffnete er sie wieder. Hilflos wand er sich in den höher steigenden Fluten hin und her, verdammte alle Schiffe und das Meer und seine halsstarrige Familie. Am Ende wurde sein Grab durch einen Abschnitt des Brückendecks mit seinen Mastspitzen und Ladepfosten markiert, was, braun verrostet und eins mit dem es umgebenden Dschungel, das einzige Zeichen dafür war, dass Kapitän Jan Pieter DeVries, nach Gottes Willen der Captain des guten Schiffes Alicia, mit seinem Kahn untergegangen war.