26
Hauptquartier der
Spionageabwehr (MI5)
Thames House, London
»Mir geht es gut, Tom«, wiederholte Anna.
Das IPS-Terminal war genau in dem Augenblick explodiert, in dem sie vorbeifuhren, hatte ein Riesenchaos verursacht und den Verkehr zum Erliegen gebracht.
Ihr Fahrer war in dem Durcheinander trotz seiner schnellen Reaktion auf ein Taxi aufgefahren. Der explodierende Airbag hatte Anna ein Brillenhämatom beschert, das sie wie einen Waschbären aussehen ließ und Dugan zu ungewollter Fürsorge veranlasste. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, ins Hauptquartier zurückzukehren. Die Sanitäter hatten nicht protestiert, da sie weit ernsthaftere Verletzungen verarzten mussten.
Die Zerstörung des Terminals vereitelte den Versuch, die Lieferwagen anzuhalten. Die Polizei suchte, wusste aber, sie würde einen verlassenen Wagen und eine kalte Spur finden.
»Harry, wo ist Lou?«, fragte sie. »Er und Ward sollten bereits hier sein.«
»Er hat angerufen. Sie wollten noch bei New Scotland Yard vorbei. Ich rufe ihn an.«
Aber da standen Lou und Ward bereits in der Tür.
»Oh Gott«, rief Ward, »Anna, sind Sie …«
»Mir geht es gut.«
»Willkommen im Elefantenmann-Klub«, sagte Dugan, was ihm Annas frostigen Blick einbrachte.
Dugan ignorierte sie und sprach mit Ward. »Und, Jesse. Hat sich bei der Polizei etwas ergeben?«
Wards Blick streifte Lou.
»Metro hat Alex Kairouz auf Heathrow mit zwölf Millionen Dollar in Bargeld und Inhaberpapieren verhaftet«, sagte Lou. »Er gab zu, die Anschläge organisiert zu haben. Sagt, er sei bei Ihrer Verhaftung in Panik geraten und hätte sich entschlossen, abzuhauen.«
»Absoluter Blödsinn. Wie könnte das jemand glaub…«
Lou hielt die Hand hoch. »Da ist noch mehr. Er gab außerdem zu, Sutton getötet und die Brandbomben in seinem Büro gelegt zu haben, um alles zu vertuschen. Metro bestätigte Suttons Tod.« Lou zögerte. »Und Sie hat er als seinen Mitverschwörer benannt, Tom.«
»Braun hat ihn dazu gezwungen. Alex versucht nur, Cassie zu retten. Wer kann es ihm verdenken, nachdem wir solchen Mist gebaut haben? Haben Sie das Scotland Yard gesagt?«
»Das habe ich«, bestätigte Lou. »Aber seine Geschichte ist wasserdicht. Er behauptet, Braun angewiesen zu haben, Cassie an sich zu nehmen, da er fürchtete, Mrs Farnsworth würde nicht mitspielen. Und er gibt vor, dass Braun sie wohl nicht zum Flughafen gebracht hat, da sein Überwacher die Polizei gesehen und ihn gewarnt hat. Unsinn, aber glaubhaft.«
»Wir müssen mit ihm reden«, sagte Dugan.
»Das haben wir, Tom«, versicherte Ward ihm. »Als wir ihm sagen mussten, dass wir Cassie verloren haben, meinte er: ›Es lag immer in meiner Verantwortung. Sagen Sie Thomas, es tut mir leid‹, und ließ sich in seine Zelle zurückbringen.«
»Unglaublich. Stehe ich unter Arrest, Jesse?«
»Sicher.« Ward nickte in Richtung von Reyes. »Sie unterstehen panamaischer Gewalt. Und Agent Chesterton erklärte den Finanzverbrechensexperten von New Scotland Yard auf äußerst kreative Weise die geheimnisvollen Aspekte internationalen Rechts, die es erlauben, dass Sie auf britischem Boden unter panamaischer Aufsicht stehen können, und wie sie es anstellen sollten, die Übertragung des Gewahrsams zu beantragen.«
Lou Chesterton lächelte. »Zudem habe ich unseren Ordnungskräften versichert, dass wir Sie unter strengster Bewachung halten, und dass Sie über Informationen verfügen, die der Schlüssel zu unseren Operationen sind. Ich weiß allerdings nicht, wie viel Zeit uns das einbringen wird.«
Dugan sah Lou dankbar an.
»Okay, an die Arbeit«, forderte Anna sie auf. »Zwei Zielvorgaben – die Anschläge verhindern und Braun und Cassie finden. Tom, du bist unser Schiffsexperte. Vorschläge?«
»Ich werde Mrs Coutts die ausgelagerten Backup-Daten prüfen lassen, die aber sicher auch beschädigt sind. Damit bleiben nur mein acht Tage alter Positionsbericht und einige wohl begründete Vermutungen. Brauns Abzug weist auf unmittelbar bevorstehende Angriffe hin, sagen wir innerhalb von zwei Tagen. Wenn ich Panama und Malakka ausschließe und Kreise um die anderen Meerengen mit einem Radius von etwa zwei Tagen Bootszeit ziehe, gibt uns das einen möglichen Anhaltspunkt. Der alte Bericht wird mir helfen, die Tanker auszusortieren, denen es unmöglich war, in dieser Zeit diese Engpässe zu erreichen.«
Anna nickte. »Wieder eine kurze Liste.«
»Eher eine ›Viel-länger-als geplant‹-Liste. Die alten Daten komplizieren die Dinge.« Er seufzte. »Aber ich habe keine Ahnung, was ich sonst tun könnte.«
Anna nickte. »Fang sofort damit an. Sag uns, was du brauchst. Unser Operationszentrum ist hier.
Die IT-Leute werden uns innerhalb einer Stunde betriebsfähig machen. Brauns Flucht war improvisiert. Wahrscheinlich wird er alles neu überdenken. Wir halten ihn unter Druck. Sein und Farleys Foto, und auch das von Cassie, wurden den Medien übergeben. Das schränkt seine Bewegungsfreiheit ein.«
»Er wird in der Nähe bleiben. Wir werden alle Anmietungen und neuen Versorgungsanschlüsse in einem Radius von achtzig Kilometern überprüfen und sie mit bekannten Decknamen und Familienmitgliedern von Farley und Sutton vergleichen.«
Anna sah Skepsis auf den Gesichtern, die Ward aussprach.
»Ein Riesengebiet, Anna. Da gibt es tausend Möglichkeiten.«
Sie seufzte. »Tausende. Wir fangen am besten sofort an.«
17 Saxon Way, Gravesend, Kent
Braun öffnete die Vorratskammer. »Elender Mist.«
»Hier auch.« Farley stand vor dem offenen Kühlschrank. Braun verfluchte Sutton, diesen inkompetenten Trottel. Erst der Fehler mit dem sicheren Unterschlupf, und nun das. Wie schwierig konnte es sein, Lebensmittel zu kaufen? Jetzt verstand er Suttons Anliegen, Kairouz’ Computer via Telefonverbindung zu sabotieren. Er hatte die Ausstattung des Hauses aufgeschoben, um sie später, während Braun und Farley im Büro waren, durchzuführen. Unglücklicherweise starb er, bevor er dazu die Gelegenheit hatte. Braun bedauerte, sich nicht länger Zeit genommen zu haben, den Narren zu töten.
Braun seufzte. »Ich werde zum Supermarkt gehen. Aber erst sehen wir uns die Nachrichten an. Vorausgesetzt, der Idiot hat tatsächlich den Kabelanschluss angemeldet.«
Sie stellten den Fernseher an.
»… Alexander Kairouz wurde auf Heathrow festgenommen.«
Braun lächelte.
»Kairouz’ Tochter wird vermisst. Vermeintliche Entführer sind Karl Braun und Ian Farley, deren Fotos Sie hier zusammen mit dem des Mädchens sehen. Jeder, der Auskunft …«
»Verdammt noch mal«, fluchte Farley. Brauns Lächeln erlosch.
»Wir passen uns der Situation an«, beruhigte Braun ihn. »Sie bleiben hier. Ich tarne mich und gehe einkaufen. Aber zuerst kümmern wir uns um das Mädchen.«
Cassie lag in ihrem silbernen Kokon auf dem Schlafzimmerfußboden, während die Männer den begehbaren Schrank präparierten. Als Erstes befestigten sie die mitgebrachte Abschirmfolie an den Wänden und an der Decke. Danach breiteten sie sie auf dem Boden aus, wo sie sie mit einem Teppich abdeckten. Zuletzt kleideten sie die Tür aus und hängten die Folie wie einen Vorhang in den Türrahmen, um dort als Barriere zu wirken.
Farley trug Cassie in den Schrank. Braun kniete neben ihm, als er das Mädchen auswickelte. Ein verdammtes Implantat. Er untersuchte ihre Narbe. Sie war tief, aber das Implantat war zu erreichen. Obwohl dessen Entfernung nicht von dringender Eile war.
Sie würden eine Weile hier festsitzen. Falls das Mädchen eine zu große Belastung werden sollte, würde er sich das Vergnügen gönnen, ihr die Kehle durchzuschneiden. Er riss ihr das Klebeband vom Mund und erhob sich. Cassie blieb gefesselt und bewusstlos zurück.
»Ich mache mich fertig. Sie bleiben im Schlafzimmer und rufen mich, falls sie aufwacht.«
»Kein Fernseher im Schlafzimmer. Im Wohnzimmer kann ich sie genauso gut hören.«
»So wie die Nachbarn auch, Sie Trottel.«
»Na schön, dann lassen Sie mich wenigstens den Porno auf Ihrem Laptop gucken.«
»Gerade im besten Moment«, brummte Farley, als Cassie wimmerte.
»Wo … wo bin ich?«, fragte sie, als er durch den silbernen Vorhang vor ihr erschien.
»Im Schoß deiner neuen Familie.«
Sie senkte die Stimme. »Ich muss Pipi machen.«
»Nur zu«, flüsterte er zurück und lachte beim Gehen.
Vor dem Schrank stand ihm ein Fremder gegenüber. Seine Hand flog an sein Schulterholster.
»Ich bin es, Idiot.«
Farley starrte ihn an. Schwarzes Haar, nicht blond, grau an den Schläfen und ein grau melierter Schnurrbart. Einlagen in der Mundhöhle ließen Brauns Gesicht voller erscheinen.
»Das ist ja wie Zauberei.«
»Ich genieße Ihre Bewunderung später, Farley. Ist sie aufgewacht?«
»Ja.« Er grinste. »Sagt, sie muss pissen. Ich hab ihr gesagt, nur zu.«
»Brillant. Und Sie werden es aufwischen? Sie wird mehrere Tage dort drin verbringen. Holen Sie einen Topf aus der Küche und eine Rolle Toilettenpapier aus dem Bad.«
Zur Einsicht gebracht, ging Farley los, während Braun den begehbaren Schrank betrat.
»Wer sind Sie?«, fragte Cassie.
»Nenn mich ›Onkel Karl‹.«
»Bitte. Ich muss ganz schnell zur Toilette.«
Braun fischte ein Taschenmesser heraus und durchschnitt ihre Fesseln. Er half ihr aufzustehen. Farley hatte den Topf und das Toilettenpapier in eine Ecke gestellt.
»Das kann ich nicht benutzen«, jammerte Cassie.
Braun drehte ihr den Arm um.
»Sie tun mir weh. Okay, ich tu’s ja«, sagte sie und stolperte zum Topf.
»Na los«, forderte Braun sie auf, als sie weiter zögerte.
»Nein. Sie müssen gehen.«
Braun unterdrückte seinen Ärger und bedeutete Farley, ihm zu folgen.
»Wir werden doch wohl nicht weich werden, oder?«, spottete Farley draußen.
»Einen Spasti mit voller Blase zu prügeln ist keine gute Idee, Farley. Bevor ich gehe, werde ich das klären.«
»Ich mach das schon, Boss.« Farley rieb sich zwischen den Beinen. »Ich brauche Unterhaltung.«
»Vergessen Sie das, Farley. Wenn Sie scharf sind, holen Sie sich einen runter.«
»Aber Sie sagten doch …«
»Ich habe gelogen. Leben Sie damit.«
Farleys Nüstern blähten sich auf. Braun bemühte sich, ihn zu besänftigen. Er brauchte Farley. Noch.
»Hören Sie, Farley, sie war nicht Teil Ihres ursprünglichen Handels. Später spielte ich mit, da Ihr Interesse Kairouz einschüchterte. Aber die Kanaken werden ein Vermögen für eine blonde Jungfrau zahlen. Das teilen wir uns. Und falls sie zu heiß wird, amüsieren wir uns beide erst und bringen sie dann um. Ist das fair?«
Farley nickte, und Braun klopfte an die Schranktür.
»Leg einen Zahn zu, Prinzessin. Sechzig Sekunden.«
Cassie schwankte, als sie sich auf steifen Beinen erhob. Sie fing sich an der Wand ab. Dabei verrutschte ein Folienstreifen. Erschreckt sah sie zu, wie er von der Decke aus in einem großen Dreieck nach unten fiel. Sie würden ihr wieder wehtun, obwohl es nicht ihre Schuld gewesen war. Verängstigt hob sie den Streifen an und strich ihn so hoch sie reichen konnte glatt. Erst sah es gut aus, aber dann begann die unbefestigte Ecke erneut wegzurutschen.
Beim Klopfen an der Tür fuhr sie zusammen, fasste sich dann aber schnell ein Herz. Eine wohlerzogene junge Dame ließ sich von Rückschlägen nicht ins Bockshorn jagen. Eine junge Dame überwand Schwierigkeiten. Sie streifte einen Schuh ab, fasste ihn vorne an, ging in die Knie und sprang kraftvoll gestreckt nach oben, um die widerspenstige Ecke mit ihrem Absatz an Ort und Stelle festzuklopfen. Als sich die Tür öffnete, zog sie sich den Schuh gerade wieder an.
Braun drückte Cassie nach unten.
»Hand- und Fußgelenke fesseln, Farley, Hände nach vorn«, befahl Braun, und Farley folgte der Anweisung.
»Gut. Stellen Sie sie jetzt hin und halten sie sie von hinten fest. Und passen Sie auf, Farley. Vielleicht können Sie was lernen.«
Braun stellte sich dicht vor sie. »Du hast etwas sehr Böses getan, Cassie.«
Sie schüttelte den Kopf mit großen Augen. Woher wusste er das?
»Du hast dich geweigert, auf mich zu hören, Cassie. Hast mir gesagt, ich soll gehen. Jetzt muss ich dich bestrafen.«
Sie zitterte. Farley kicherte.
»Und, Farley«, dozierte Braun, »da Marktwert ein Faktor ist, vermeiden Sie durch Knöchel verursachte Schäden. Nur mit der flachen Hand.« Er schlug Cassie mit der offenen Handfläche. Ihr Kopf flog zur Seite. Ihre Schluchzer ignorierend, erläuterte er weiter. »Die Alternative hierzu ist die flache Rückhand, aber die verlangt Vorsicht. Schmuck, der Narben verursachen könnte, sollte entfernt werden, die Nägel sollten kurz geschnitten sein.« Er zog seinen Ring ab und bewegte manikürte Finger.
»Die flache Rückhand wird folgendermaßen geliefert.«
Cassies Kopf flog zur anderen Seite. Dann presste er ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte ihr Gesicht hin und her.
»Wie Sie sehen, Farley, nur Weichteilschaden. Schmerzhaft, aber heilt schnell. Die einzigen Narben sind mental. Das sind die nützlichsten.
»Also, Cassie«, verlangte Braun, »verstehst du, dass du nie wieder böse sein darfst?«
Sie nickte mit zusammengekniffenen Augen.
»Sprich es aus.«
»Ich … Ich wer… werde nicht b… böse sein.«
»Gut, Cassie. Aber« – er heuchelte Bedauern – »noch bin ich nicht überzeugt, dass du das auch ernst meinst.« Er schlug sie erneut, zweimal auf jede Gesichtshälfte, und signalisierte Farley dann, sie fallenzulassen.
»Ich bin in etwa einer Stunde zurück. Lassen Sie sie im Dunkeln liegen und bleiben Sie im Schlafzimmer.«
Hauptquartier des
Geheimdienstes (MI5)
Thames House, London
»Wie kommen Sie voran?« Ward reichte Dugan eine Tasse Kaffee.
»Einfach super. Schon viel zu viele Möglichkeiten.«
Dugan seufzte und sah sich um. Reyes saß in der Nähe, trank Kaffee und beobachtete sie. Techniker bemannten Bildschirme. Harry telefonierte mit Londons städtischer Geiselrettungseinheit, dem Spezialfeuerwaffenkommando, auch als CO19 bekannt. Anna und Lou saßen mit zusammengesteckten Köpfen in der Ecke.
Sein Telefon klingelte. Dugan erkannte Gillian Farnsworths Nummer. Er überlegte, das Gespräch wegzudrücken, antwortete dann aber beim fünften Klingeln.
»Mr Dugan. Endlich. Gibt es Nachrichten?«
»Ähm, es gab … Probleme.«
»Probleme?«
»Wir haben ihr Signal verloren. Wir … wir haben sie verloren.«
Anna zeigte Dugan an, das Gespräch auf Lautsprecher umzustellen.
Gillians Stimme explodierte im Raum. »… versäumten, mich zu informieren, und diese Trottel, mit denen sie zusammenarbeiten, haben Cassie nun auch verloren. Und das zu den Lügen über Mr Kairouz in den Medien …«
»Gillian, Anna Walsh hier. Wo sind Sie?«
»Auf meinem Weg zu New Scotland Yard. Ich bin …«
»Gillian, ich denke …«
»Mir vollkommen egal, was Sie denken. Ich habe die Nase voll. Nachdem ich mit der Polizei gesprochen habe, werde ich mich an die Medien wenden. Sobald die Öffentlichkeit informiert ist, sieht Braun vielleicht keinen Vorteil mehr darin …«
»Gillian, hören Sie auf, sich wie eine dumme Gans zu benehmen. Ihr Zorn ist berechtigt, aber überstürzen Sie nichts. Kommen Sie zum Thames House. Sehen Sie, was wir tun. Und danach sprechen Sie die Medien an, falls Ihnen das immer noch eine Lösung zu sein scheint.«
»Also gut. Daniel fährt mich. Ich werde in fünfzehn Minuten bei Ihnen sein.«
»Ich erwarte Sie in der Eingangshalle.«
»Tun Sie das.« Ende des Gesprächs.
»Anna, das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte Ward.
»Hoffentlich wird sie einsichtig sein«, antwortete Anna. »Ansonsten müssen wir sie vorläufig auf Eis legen.«
»Da bin ich, Ms Walsh. Was haben Sie mir zu zeigen?«, forderte Gillian Farnsworth energisch.
»Die Mühen, die wir auf Cassies Rettung verwenden. Vorschläge sind willkommen.«
»Ach ja? Nachdem Sie meinen Vorschlag ignoriert haben, Cassie außer Gefahr zu bringen?«
Annas Antwort wurde von einem lauten Piepen unterbrochen.
»Das Implantat!«, rief einer der Techniker.
Anna eilte an seine Seite.
»Im Osten. In Kent. Ja, Nordkent. Gehen wir näher ran.«
Der Bildschirm aktualisierte sich mit quälender Langsamkeit.
»Da. Gravesend. Und jetzt die Adresse … verdammt … weg ist sie.«
Anna wandte sich um. »Sarah. Anmietungen und Versorgungsanschlüsse in Gravesend. John. Suchen Sie nach Sutton und Farley, Schwerpunkt Gravesend.«
»Über einhundert Neuanmeldungen«, verkündete Sarah.
»Verdammt. Zu viele«, sagte Anna, als John losjubelte.
»Bingo. Todesanzeige, vor zwei Jahren.« Er las vor: »Margaret Sutton. Überlebt von Sohn Joel Sutton aus London und Schwester Mary Lampkin, siebenundachtzig, aus Gravesend, Kent.«
»Adresse?«
»Ich suche … da ist sie. Saxon Way, Nummer siebzehn, Gravesend. Steuern bezahlt. Ihre Krankenversicherung führt sie als Witwe und Bewohnerin eines Pflegeheimes, Diagnose ›senile Demenz‹.«
»Die aber offensichtlich ihre Genesung plant«, fügte Sarah hinzu. »Ein neuer Kabelanschluss für diese Adresse, bezahlt von Joel Sutton.«
»Wunderbar«, lobte Anna. »Nächstes Polizeirevier?«
Sarah brachte eine Karte auf dem Bildschirm hoch. »Da. Das Nordkent-Revier.«
»Hubschrauberlandeplatz?«, wollte Anna wissen.
»Nein. Aber ein Parkplatz.«
»Lou«, wies Anna an. »Rufen Sie die Polizei in Nordkent an. Sie sollen ihren Parkplatz bereitmachen und in fünfzehn Minuten eine Landung erwarten.«
»Wird erledigt.«
»Harry. Teilen Sie CO19 den Standort mit. Und fordern Sie einen Hubschrauber für uns an.«
Anna wandte sich wieder an die Techniker. »Sarah, schicken Sie …«
»Karten und Fotos auf Ihr Telefon. Erledigt. Und gleichzeitig auch an die CO19-Jungs geschickt.«
Anna nickte ihren Dank. »Also gut, Leute, hoch aufs Dach.«
Sie eilten zur Tür hinaus. Auf dem Flur drehte sich Anna um, um mit Ward zu reden. Sie blieb wie angewurzelt stehen.
»Gillian, was machen Sie da?«
»Ihnen folgen, was sonst.«
»Kommt keinesfalls infrage.«
»Jetzt hören Sie mir mal …«
»Tut mir leid, keine Diskussion. Dazu fehlt mir die Zeit. Sie bleiben hier.«
Anna rief einen jungen Mann zu sich.
»Wentworth, eskortieren Sie Mrs Farnsworth zurück ins Kommandozentrum und unterstellen Sie sie Sarahs Aufsicht. Sagen Sie Sarah, dass Mrs Farnsworth sich dort aufzuhalten hat, bis sie von mir andere Instruktionen erhält.«
Der junge Mann nickte, und Anna tröstete Mrs Farnsworth: »Gillian, die Kommandozentrale wird jederzeit mit uns in Verbindung stehen. Sie werden wissen, was vorgeht. Das ist alles, was ich für Sie tun kann.« Dann führte Anna ihr Team nach oben.
Erzürnt starrte Gillian ihnen nach. Sie hatten die ganze Sache vermasselt. Und darüber hinaus hatten sie jetzt auch noch den Nerv, vorzuschlagen, sie solle geduldig darauf warten, »informiert« zu werden. Von wegen.
»Ma’am? Mrs Farnsworth?«
Gillian drehte sich um und sah sich den jungen Mann näher an.
»Kommen Sie bitte mit.« Er nahm sie beim Arm.
Gillian entdeckte eine Tür, die für ›Damen‹ markiert war. Sie täuschte ein Stolpern vor, beugte sich dann leicht nach vorn und griff sich an den Bauch.
»Ma’am? Fehlt Ihnen etwas?«, fragte Wentworth.
»Der … Stress und die Aufreg… Aufregung«, keuchte Gillian auf dem Weg zur Toilette. »Mir … Mir ist übel.«
Wentworth erlaubte Gillian, ihn durch die Tür zu ziehen. Unbehaglich stand er mitten in der Damentoilette, während Gillian in eine Kabine stürzte und die Tür hinter sich zufallen ließ. Sie gab schreckliche Würgegeräusche von sich.
»Ma’am? Alles in Ordnung?«
»Ich … Ich … glaube, Sie holen besser … holen Hilfe. Ruf… rufen Sie … Sarah. Bit… bitte beeilen Sie sich.«
Wentworth eilte auf den Flur hinaus und sah die geschlossene Tür des Kommandozentrums am Ende des Ganges. Der Gang war verlassen. Mehrere Male rief er Sarah beim Namen, dann griff er nach seinem Handy, gerade als ihn ein unterdrücktes Stöhnen aus der Kabine erreichte. Die Einsatzzentrale lag nur knapp zwanzig Meter entfernt. Er steckte das Telefon weg und rannte auf die Tür zu.
Mit dem Öffnen der Toilettentür war Gillian auf den Beinen und aus der Kabine heraus.
Sie erwischte die Tür gerade noch, bevor sie endgültig zuschlug und verfolgte Wentworths Spurt. Sobald er den Kontrollraum erreicht hatte, duckte sie sich aus der Toilette hinaus über den Flur zum Treppenhaus hin. Die Stiegentür öffnete sich mit lautem Quietschen. Wentworths zorniger Aufschrei verfolgte sie durch die Tür hindurch, während sie die Treppenstufen ins Erdgeschoss hinunterhastete.
Der Ausgang war deutlich markiert: NOTAUSGANG – ALARMGESICHERTE TÜR.
Ohne zu zögern stürzte Gillian durch sie hindurch. Das durchdringende Heulen ließ ihren rasenden Puls noch höher steigen. Sie rannte um das Gebäude herum, wo sie Daniel an der gleichen Stelle vorfand, wo sie ihn Minuten vorher verlassen hatte.
»Wie weit nach Gravesend?«, schnappte sie außer Atem und rutschte auf den Rücksitz.
»Sind Sie okay, Mum?« Daniel war offensichtlich besorgt.
»Alles in Ordnung, Daniel. Aber schnell. Gravesend?«
»Haben Sie eine Adresse?«
»Saxon Way, Nummer siebzehn, Gravesend.«
Der alte Fahrer nickte. »Bevor meine Frau starb, besuchte sie dort immer eine Freundin. Ungefähr eine Dreiviertelstunde. Weniger, wenn wir es eilig haben.«
»Das haben wir. Los. Wir werden uns unsere Cassie holen.«
Mit quietschenden Reifen vollführte Daniel eine Kehrtwendung, die sie in ihren Sitz zurückwarf.
17 Saxon Way
Gravesend, Kent
Farley sah sich Pornos an. Seine Hose spannte. Er überlegte sich, ob er wichsen sollte. Verdammter Kraut. Ihm was vorzulügen. Er stand auf und teilte im Wohnzimmer die Gardinen. Sollte er die Gelegenheit nutzen, und sie dann mit Prügel zum Schweigen zwingen? Falls Braun ausflippen würde – was konnte er schon tun? Seinen verdammten Bonus streichen?! Mist. Er ließ den Vorhang zufallen und kehrte wieder zu seinem Porno zurück.
»Wir können uns jetzt keine Sorgen um sie machen, Sarah.« Anna sprach ins Telefon, während sie zwischen den Rollos das Haus gegenüber beobachtete. »Sie wird sich sicher nicht an die Medien wenden, da sie weiß, dass wir Cassies Kidnappern auf der Spur sind.«
Annas Funkgerät krächzte. »Nummer eins an Walsh. Positive ID für Farley.«
»Ich muss los, Sarah.« Anna legte auf, um das Funkmikrofon zu betätigen.
»Ich habe ihn gesehen. Sonst noch jemand?«
»Negativ. Infrarot zeigt nur ein Hitzesignal. Unsere Männer haben einen guten Blick ins Fenster hinter der Garage. Kein Fahrzeug.«
»Halten Sie Ihre Positionen; ich werde Sie informieren.«
Haustür und angeschlossene Garage von Brauns Versteck öffneten sich zur Straße hin, der Garten hinter dem Haus war eingezäunt. Überall in der Nachbarschaft trennten schmale Gassen die Gärten der Anwohner von den Gärten der Anwohner in der nächsten Straße. Saxon Way Nummer vierzehn, diagonal gegenüber von Brauns Versteck gelegen, stand leer. Annas Team war dort von der Gasse her ungesehen eingedrungen. Jetzt stand sie im Wohnzimmer, ein Scharfschütze im Schlafzimmer über ihr und ein Sturmteam in der Gasse direkt hinter der Nummer siebzehn.
Anna trat vom Fenster zurück. Lou nahm ihren Platz ein.
»Sie müssen das Implantat abgeschirmt haben«, schätzte sie. »Das Signal kam durch, als der Schirm kurz kompromittiert war. Falls sie ein ganzes Zimmer abgeschirmt haben, könnten Cassie und Braun auch dort drinnen sein. Aber wo ist ihr Wagen?«
»Farley starrte in eine Richtung«, betonte Ward. »Er erwartet jemanden. Ich wette, es ist Braun.«
Neben ihm brummte Reyes seine Zustimmung.
»Erledigt Farley«, schlug Dugan vor. »Rettet Cassie und wartet auf Braun.«
Anna war skeptisch. »Braun könnte für seine Rückkehr ein ›Die Luft ist rein‹-Signal vereinbart haben. Falls Cassie bei ihm ist, riskieren wir, beide zu verlieren. Farley aus dem Verkehr zu ziehen wiegt das Risiko nicht auf, eventuell Cassie zu verlieren und gleichzeitig auch jede Chance, Braun zu verhören.«
»Wir müssen uns keine Sorgen machen, dass Farnsworth sich an die Medien wendet«, berichtete Lou vom Fenster her.
»Verdammter Mist.« Anna stand neben ihm und sah, wie sich eine schlecht verkleidete Gillian Farnsworth einer nahegelegenen Bushaltestelle näherte.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Dugan.
»Nichts«, erwiderte Anna. »Wenn wir sie uns schnappen, sieht Farley uns ganz sicher, insbesondere wenn sie Theater macht. Hoffen wir, dass Braun kurzsichtig ist. Harry«, sagte Anna über ihre Schulter hinweg. »Sobald es losgeht, schnappen Sie sich die verdammte Mrs Farnsworth.«
Gillian Farnsworth saß an der Bushaltestelle mit einem Schal um den Kopf und einer dunklen Brille auf der Nase. Vollkommen ausreichend, da war sie sich sicher.
Sie würde die Letzte sein, die Braun erwartete.
Sie waren vor Daniels Schätzung eingetroffen. Es hatte sie all ihre Überzeugungskraft gekostet, den Fahrer zu überreden, sie abzusetzen und entfernt geparkt auf ihren Anruf zu warten. Sie war sich noch nicht schlüssig, was zu tun war, verließ sich aber darauf, dass sich das schon ergeben würde. Sie sah über ihre Brille hinweg. Schlechter als die »Professionellen« konnte sie es auch nicht anstellen. Deren Priorität war Braun, nicht Cassie.
Ohne Motivation erwiderte Braun das Lächeln des Angestellten. Die Auswahl war grauenvoll. Nur Lebensmittel, die er verabscheute. Er rollte den Einkaufswagen zum Kleinbus hinaus, den er zwischen dem Supermarkt und der Drogerie geparkt hatte, in der er vorher die nötigen Utensilien zur Entfernung des Implantats erworben hatte.
Braun lud alles ein und verließ dann den Parkplatz in entgegengesetzter Richtung zum Unterschlupf. Ziellos durchkreuzte er die umliegenden Nachbarschaften, darauf konzentriert, einen Verfolger zu entdecken. Gutes Spionagehandwerk war immer angebracht, selbst wenn man sicher war, nicht verfolgt zu werden. Er lächelte. Oder vielleicht sogar besonders, wenn man sich vor Verfolgung sicher fühlte.
Nach einer Reihe beliebiger Abbiegemanöver wollte er gerade zum Versteck zurückkehren, als er an Kairouz’ Wagen vorbeikam. Am helllichten Tag an der Seite der Straße geparkt. Der Fahrer lehnte sich gegen die Tür und rauchte eine Pfeife. Was zum Teufel machte der alte Jude hier? Ein Zufall? Er glaubte nicht an Zufälle. Aber falls dies eine Falle war, warum parkte er dann so offen? Braun fuhr weiter und musterte seine Umgebung mit noch größerer Sorgfalt als gewöhnlich.
Farley rieb sich durch die Hose hindurch. Braun würde sicher mit der Wahl von Wein und anderem französischen Schwachsinn Zeit vertrödeln. Nicht wie ein richtiger Mann, der sich einige Kisten Guinness und was zum Essen greifen würde.
Farley hatte Zeit. Und er hatte die Jungfrauengeschichte überdacht. Kein Problem. Zuerst könnte sie ihm einen blasen und dann könnte er sie von hinten nehmen.
Sie blinzelte gegen das Licht.
»Du solltest dich mal strecken.« Er lächelte ihr zu, als er das Band an ihren Händen und Füßen durchtrennte.
»Da… Danke.«
»Wir sollten Freunde sein, Cassie. Nett zueinander sein.«
»Vie… Vielleicht.«
»Gut«, sagte er und öffnete seinen Gürtel.
Sie rutschte nach hinten, aber mit einer Hand griff er sich ein Büschel ihrer Haare, mit der anderen schob er seine Hose nach unten.
»Dann hast du hier einen neuen Freund. Komm schon. Gib ihm einen Kuss.«
Braun setzte seine weitschweifige Route fort. Seine Selbstsicherheit kehrte zurück, als keiner seiner unnötigen Umwege einen Verfolger entlarvte. Dann sah er Gillian Farnsworth an der Bushaltestelle. Wie hatte sie sie gefunden? Dieser Idiot Sutton musste dem Coutts-Weib gegenüber etwas erwähnt haben, die es dann Farnsworth erzählte. In dieser lächerlichen Verkleidung klar identifizierbar dort zu sitzen war Beweis genug, dass sie allein agierte. So inkompetent konnte selbst die Polizei nicht sein.
Dennoch, sie hatte ihn gefunden. Sie war eine Komplikation. Sobald sie ihn sah, würde sie umgehend die Polizei rufen.
Aber er musste an den Laptop kommen und sich um Farley und um das Mädchen kümmern. Die Farnsworth drehte sich zu ihm hin, sah aber dann, ohne ihn zu erkennen, wieder weg. Gut. Sein Erscheinen in der Einfahrt würde sie verwirren und wohl verhindern, dass sie die Polizei sofort anrief. Er würde drinnen sein Geschäft erledigen und verschwinden, eine Sache von höchstens zwei Minuten. Auf dem Weg würde er ihr dann eine Kugel in den Kopf jagen. Selbst wenn sie bereits angerufen hätte, würde ihm vor dem Erscheinen der Cops immer noch ausreichend Zeit bleiben.
Er fuhr die Einfahrt hoch. Sein Plan stand fest, wurde aber dann von einem ohrenbetäubenden Schrei aus Haus Nummer siebzehn durcheinandergebracht.