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Hauptquartier der
Justizermittlungsbehörden
Panama City, Panama, 4. Juli
Reyes legte den Hörer auf. Etwas stimmte da nicht. Die Asian Trader hatte auf der pazifischen Seite nicht mal lang genug angelegt, um sich der Leiche des toten Seemanns zu entledigen. Ein Tod auf See war für alle Beteiligten traumatisch, und gewöhnlich war die betroffene Firma froh, die Überreste an Land und den Vorfall hinter sich zu bringen. Der Firmenbevollmächtigte für das Schiff schien ebenso überrascht zu sein und gab nur an, den Anordnungen des Señor Dugan zu folgen. Nichts sollte das Schiff daran hindern, seinen ersten Passierplatz zu belegen.
Reyes hatte Widerstand erwartet, als er den Agenten informierte, dass die Untersuchung deshalb erst am folgenden Morgen bei Tageslicht beginnen würde. Die Asian Trader würde nicht vor dem frühen Abend in Cristobal einlaufen. Das schien den Beauftragten nicht zu stören, vielmehr versicherte er, dass Señor Dugan in jedem Fall selbst der Untersuchung beiwohnen werde. Und auch er käme nicht vor dem Abend an.
Warum zahlte ein Eigentümer also so viel Geld für eine frühe Passiererlaubnis und akzeptierte andererseits so unproblematisch eine Verzögerung? Er hatte viele Fragen für diesen Señor Dugan. Morgen.
Er sah sich den Stapel in seiner Inbox an und seufzte. Dann blickte er auf die Uhr und überlegte, ob er Maria anrufen und zum Mittagessen einladen sollte. Aber er erinnerte sich rechtzeitig. Heute half sie beim Schulausflug an die Schleusen aus. Er lächelte, als er sich an das aufgeregte Geschnatter der Zwillinge beim Frühstück erinnerte, ihre Vorfreude darauf, die großen Schiffe zu sehen.
Sein Lächeln verlor sich beim Blick auf die Inbox. Er seufzte und schlug eine Akte auf.
Aussichtsplattform
Besucherzentrum Miraflores-Schleusen, Panama
»Aiee! Miguelito. Cuidado.« Maria Reyes griff nach ihrem Sohn. »Kein Klettern. Das gilt auch für dich, Paco«, warnte sie seinen Bruder, der gerade seinem Bruder auf die Reling folgen wollte.
»Si, Mama«, murrten die Jungen einstimmig, bevor das Schiff in der Schleuse wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Maria lächelte und trat etwas zurück, um weiter ein Auge auf alle Kinder haben zu können.
Die Passagiere des großen, weißen Schiffes winkten den aufgeregten Kindern solange zu, bis das Fahrzeug die Schleuse Pedro Miguel verlassen hatte, gefolgt von einem Containerschiff, das hoch mit bunten Kisten beladen war. Mit den Augen einer erfahrenen Mutter bemerkte Maria die einsetzende Langeweile, in der hier und da einige Kinder außer Kontrolle gerieten.
Sie schnappte sich einen Jungen, der an ihr vorbeiraste, und umarmte ihn fest.
»Sollte dieser Gefangene Alejandro sein, der rennt, obwohl er es besser weiß?«
»Nein, Señora«, bestritt der Junge mit einem teuflischen Grinsen.
»Du bist nicht Alejandro? Du siehst ihm sehr ähnlich. Na ja, falls du ihn triffst, erinnere ihn bitte daran, nicht zu rennen.«
»Si, Señora«, sagte der Nicht-Alejandro.
»Gut.« Mit einem freundlichen Klaps ließ sie ihn gehen. »Benimm dich und du bekommst eine Belohnung.«
Während der Nicht-Alejandro die Neuigkeit der Belohnung verbreitete, sah Maria auf Señora Fuentes, die gestikulierend ihre Hände zum Mund führte und Essensgebärden machte.
Maria nickte und lenkte die Kinder in Richtung der Stufen. Sie hoffte, sie würden ihre Plätzchen mögen. Zwei von ihnen sicher. Sie lächelte, als sie ihre Söhne beobachtete. Kleine Kopien ihres Vaters. Falls Manny früh aus Cristobal zurückkäme, könnten sie vielleicht an ihrem kleinen »Projekt« arbeiten. Dieses Mal wäre eine Tochter schön.
M/T Asian
Trader
Nahe der
Pedro-Miguel-Schleuse, Panama
Der Zünder drückte Medina schwer auf die Tasche, als die Asian Trader in zweiter Position vor der Pedro-Miguel-Schleuse wartete. Hinter ihr erstreckten sich Schiffe durch Miraflores hindurch bis zurück an den Pazifik. Er sah, wie sich die Tore hinter einem Tanker schlossen, dessen leuchtende Farben ihn als frisch aus der Werft identifizierten. Er starrte die amerikanische Fahne an, die kraftlos über dem Namen M/T Luther Hurd hing, der an ihr Heck gepinselt war.
Der Kapitän gab eine Anweisung des Lotsen weiter, und Medina bewegte den Steuerknüppel. Die Backbordseite der Asian Trader glitt langsam an der Mittelleitwand entlang, die die Doppelschleusen trennte. Wurfleinen schwirrten durch die Luft. Sie brachten die nötigen Drahtkabel an Bord, um das Schiff mit der mechanischen Zuganlage zu vertäuen, die sie durch die Schleuse bringen würde.
Medina beobachtete, wie die Luther Hurd ihre Reise nach unten beendete und sich langsam aus der Schleuse vor ihnen in Richtung Gaillard-Kanal und dem dahinter liegenden Gatun-See entfernte.
Seit dem Tod des Bootsmannes hatte Allah das Deck täglich großzügig mit Regenschauern gekühlt. Aber heute brannte die Sonne auf den Stahl, und Medina machte sich um die Dämpfe Gedanken. Sein Ziel war die Gatun-Schleuse auf der anderen Seite des Gatun-Sees, wo eine Explosion, wenn schon nicht die Schleuse, dann wenigstens mehrere Schiffe zerstören und die Schleuse mit Trümmern lahmlegen würde. Seine zweite Wahl war hier an der Pedro Miguel, die, ebenso wie die obere Schleuse, den See zurückhielt. Die Zerstörung von nur einer der Schleusen würde entweder den See leerlaufen lassen oder den Kanal zerstören, mit katastrophalen sekundären Auswirkungen. Möge Allah mich leiten, betete Medina, während das Schiff inmitten klingelnder Glocken von der Zugvorrichtung in die Schleuse geleitet wurde.
Kreuzfahrtschiff Stellar Spirit
Während der Tanker langsam in die östliche Schleuse einfuhr und sein Schiff sich auf die Einfahrt in die westliche Schleuse vorbereitete, stand der Zweite Offizier der Stellar Spirit zwischen den Passagieren entlang der Reling. Sich unter die Passagiere zu mischen wurde von den Offizieren des Schiffes erwartet. Es waren keine »Vergnügungsfahrten« mit willigen jungen Frauen, die nach Liebe suchten, sondern absolut langweilige Kanalfahrten, gebucht von Rentnern und Hochzeitsreisenden, die nur zu den Mahlzeiten erschienen. Die Jungverheirateten und die beinahe Toten, dachte er, als er über graue Häupter hinweg auf die Tore sah, die sich hinter der Asian Trader schlossen.
M/T Asian
Trader
In der Pedro-Miguel-Schleuse, Panama
Am Ende wurde Medina die Entscheidung abgenommen.
»Brücke, Bug hier«, krächzte das Funkgerät. »Ich rieche starke Benzindämpfe, wiederhole, starke Benzindämpfe an Deck. Ende.«
Medina zog seine Waffe und setzte sich in Bewegung, noch bevor der Lotse zur Antwort ansetzen konnte. Er eilte backbord zur Brückennock und schoss sowohl dem Piloten als auch dem Kapitän in den Kopf, bevor er zum Ruderhaus zurückkehrte, um den verwirrten stellvertretenden Kontrolllotsen abzufangen, der von der Brückennock steuerbord auf ihn zukam. Er beendete die Verwirrung des Mannes mit einer Kugel. Der verängstigte Steuermann floh aus dem Ruderhaus. Medina machte sich nicht die Mühe, ihn zu verfolgen. Gelassen kehrte er zur Steuerbord-Brücke zurück, überzeugt, dass die Leute im Dorf seines Großvaters mit der Erwähnung seines Namens nun Worte wie Saful, Schwert des Islams, und nicht Faatina, Hure der Ungläubigen, verwenden würden.
»Allahuuuuu Akbaaaaar!«, schrie er mit aller Kraft, als er auf die Fernbedienung drückte.
Die Explosion überschritt alle Vorstellungskraft. Verantwortlich dafür war Medinas Konstruktionsprinzip. Tatsächlich waren es zwölf Explosionen, paarweise gruppiert und nur durch Millisekunden getrennt. Sie begannen achtern und richteten sich in ihrer ganzen Kraft auf die Tore, die den See zurückhielten.
Die Entwickler des Kanals kannten sich mit Redundanz aus. Die Schleusen hatten doppelte, übermächtig massive Tore, deren Zwillingsseiten jedes gegehrten Paares an einem Punkt stromaufwärts zusammentrafen. Das Gewicht des Wassers presste sie dann eng zusammen, während sich die dahinterliegende Schleuse leerte. Ein gutes Prinzip, aber unzureichend für eine Explosion von beinahe nuklearer Stärke. Die Tore wurden wie Alufolie auseinandergerissen, ihre nutzlosen Überreste von der reißenden Sturzflut hin- und hergebeutelt, wobei ihnen nur die Trümmer der Asian Trader im Weg waren.
Die Schleusenwände und das nicht komprimierbare Wasser unter dem Schiff hielten die Ausbreitung der Explosion nach unten auf und erzwangen eine Entladung nach oben, die die gesamte Batterie der Ladetanks von den Ballasttanks losriss und in die Luft schleuderte. Ein Teil der Tanks landete auf dem Bug der Asian Trader und das andere auf der Stellar Spirit, während das Passagierschiff weiter in die westliche Schleuse hineinschlingerte. Der mittlere Tankbereich, dem die Abstützung fehlte, öffnete sich wie eine überreife Frucht. Aufgerissene Tanks entließen Tonnen von Benzin in die Sturzflut, die sich durch die nun offene Schleuse wälzte.
Innerhalb der Schleuse ging die wasserdichte Integrität der angeschlagenen Überreste der Asian Trader verloren, als das bugwärts gelegene Kollisionsschott in den Vorpiek-Tank einbrach und ihre heckseitigen Pumpenanlagen durch das Maschinenraumschott gerammt wurden. Von der Sturzflut überrollt, sank das Innere des Schiffs, wurde aber von den Überresten des äußeren Schiffsrumpfs zurückgehalten, der nun eng gegen die Schleusenwände gepresst war. Der Stahl, der nur langsam nachgab, schrie wie ein menschliches Wesen. Eine enorme Reibungsbremse hielt die Masse aufrecht, die auf den Boden der Schleuse niedersank.
Der Teil des zerstörten Ladetankblocks, der auf dem Bug der Asian Trader gelandet war, rutschte weg, als der Bug unter ihm nachgab, so lange, bis die Mitte des Blocks auf die Wand traf, die die beiden Schleusen trennte. Dort wippte das Teilstück wie eine Schiffsschaukel hin und her, das obere Ende auf der Stellar Spirit, das Mittelteil auf der Wand zwischen den Schleusen, und das untere Ende freischwebend über der zerstörten Schleuse. Ausgelaufenes Benzin entzündete sich und ließ einen Sog entstehen, der noch tief unten im Kreuzfahrtschiff den letzten Passagieren, die noch am Leben waren, den Sauerstoff entzog.
Flammen begleiteten die Sturzflut in südlicher Richtung, eine feurige Wand des Todes auf dem Weg nach Miraflores, Balboa und in den weiten Pazifik hinaus, der sich dahinter erstreckte.
M/T Luther
Hurd
Gaillard-Kanal
Nördlich der Pedro-Miguel-Schleuse, Panama
»Um Gottes willen, was war das denn?«, fragte Captain Vince Blake, der durch das zerstörte Glas seiner Brückenfenster hinausstarrte. Der Lotse schüttelte den Kopf und rannte zur Nock, Blake dicht hinter ihm. Auf dem Bug der Luther Hurd sah Blake Männer, die zusammengebrochen am Boden lagen. Einige von ihnen rührten sich. Auf der anderen Seite der Brückennock bot sich ihm ein ähnliches Bild.
»Alle sind am Boden«, sagte Blake. »Übernehmen Sie das Steuer, während ich Hilfe organisiere?«
»Sicher«, nickte der Lotse. Blake stürzte ans Telefon.
»Maschinenraum. Chief«, meldete sich Jim Milam.
»Alles okay bei Ihnen, Chief?«
»Ich denke schon. Was ist denn passiert, Cap?«
»Explosion an Land. Der Erste Offizier liegt am Bug und den Zweiten kann ich nicht sehen. Wir stecken mitten in der Schleusenöffnung, und ich kann die Brücke nicht verlassen. Können Sie …«
»Wir übernehmen das«, versicherte Milam.
»Danke, Jim.« Blake hängte auf und kehrte nach Steuerbord zum Lotsen auf der Nock zurück.
Verwirrt folgte er dessen Blick an Land.
»Haben wir die Fahrt reduziert?«
Der Lotse schüttelte den Kopf. »Das ist die Strömung.« Er zeigte auf Wasserwirbel und Treibgut entlang den Seiten des Kanals.
Verdammt, dachte Blake.
»Volle Fahrt voraus«, bestimmte der Lotse.
»Volle Fahrt voraus«, gab Blake die Anweisung an den Dritten Offizier weiter.
Der Lotse starrte nach vorn, die Augen voller Furcht.
Besucherzentrum Miraflores-Schleusen
Maria schob sich von den sonnenerhitzten Kacheln hoch. Erleichterung überkam sie beim Anblick ihrer Söhne, die geschockt und weinend dastanden, aber unverletzt waren. Señora Fuentes’ Zeitplan hätte nicht glücklicher ausfallen können, da er sie genau vor der Explosion auf die Veranda hinter das Gebäude gebracht hatte. Die Lehrerin selbst hatte weniger Glück gehabt. Sie lag auf den Kacheln in einer immer größer werdenden Blutlache. Die Ecke einer Betonbank hatte ihr den Hinterkopf eingeschlagen. Maria bekämpfte ihre Panik, bekreuzigte sich und schloss ihr dann die ins Leere gerichteten Augen.
Die anderen Mütter hatten sich erholt, beruhigten die verängstigten Kinder und reinigten deren Kratzer mit angefeuchteten Servietten. Außerhalb ihrer geschützten Ecke war der Boden mit Leichen übersät und glänzte von zerbrochenen Glassplittern. Ein großer, blonder Mann stolperte auf die Brückennock des Schiffes, das noch in der Schleuse lag, und sah stromaufwärts.
Plötzlich stand Maria im Wasser. Der Mann schrie auf und deutete auf etwas, was Maria veranlasste, um die Ecke herumzuwaten. Wasser überflutete das Schleusentor. Was nicht in die Schleuse fiel, breitete sich in flachen Wellen aus, leckte an Gebäuden und rollte dann über die Seiten in die Schleuse zurück. Die Kabel der Zuganlage stöhnten, als das Schiff sich anhob. Die Anlagenführer waren tot oder bewusstlos, unfähig, die Kabel zu lösen. Eine Verankerung nach der anderen wurde aus ihrer Bahn gerissen. Stromaufwärts, jenseits der bunten Kisten des Containerschiffes, sah sie etwas Gelbes.
»Feuer!«, schrie der blonde Mann. »Schnell, nach drinnen! Hoch! Weg von den Fenstern!«
Maria rief nach Isobel und Juanita, und die drei Mütter drängten die Gruppe die Außentreppen der Aussichtsterrasse hoch. Am Ende der Schlange hielt Maria die Hände ihrer Söhne mit festem Griff. Sie versicherte sich, dass keines der Kinder fehlte. Die erste Etage war von Körpern und Glas übersät, das unter ihren Füßen knirschte. Die Mütter ignorierten vereinzeltes Stöhnen und trieben die ihnen anvertrauten Kinder voran. Sie mussten die Kinder retten.
Inzwischen schluchzten alle Kinder hemmungslos. Maria konnte die Hitze fühlen.
»Keine Zeit, höher zu kommen«, rief sie im nächsten Stockwerk und versuchte, eine Tür zu öffnen. »Wir müssen nach drinnen!«
Die Tür war verschlossen. Das Gebäude war zugangskontrolliert. Allein der Eingang im Erdgeschoss bot den ungehinderten Zugang.
Die Türen der Aussichtsplattformen auf jeder Etage verschlossen sich automatisch hinter den Besuchern, die nach draußen gingen.
»Die Toiletten«, schrie sie, und die Frauen trieben die Kinder auf die drei Türen am Ende der Plattform zu.
»Nicht genug Platz für alle«, sah Maria, als die anderen Mütter die Kinder zwischen den zwei kleinen Toilettenräumen aufteilten. »Ich werde meine Jungen in die Reinigungskammer mitnehmen.«
Isobel nickte, als sich die Tür schloss und Maria allein mit ihren Söhnen dastand. Sie zog sie in das winzige Kämmerchen, freudig erregt, dort ein Arbeitswaschbecken vorzufinden, das fast den gesamten Raum einnahm. Sie hob ihre Jungen in das große Becken und drehte den Kaltwasserhahn auf. Ihre Proteste stoppte sie mit kleinen Klapsen.
»Hört zu«, forderte sie sie auf. »Stellt das Wasser nicht ab. Haltet eure Köpfe darunter und lasst nur die Nase vorstehen. Verstanden?«
»Geh nicht, Mama«, bettelte Paco.
»Wenn ich bleibe, geht die Tür nicht zu. Ich geh zu den anderen. Alles wird gut werden«, log sie. »Denkt daran, dass ich euch liebe, hijos«, verabschiedete sie sich sanft.
»Si, Mama«, schluchzten die Jungen.
Gott schütze meine Söhne, betete sie auf ihrem Weg durch die Hitze.
»Ihre Jungen sind nicht hier«, sagte Juanita, als Maria sich hereindrückte. »Sie müssen drüben bei Isobel sein.«
Maria zwang sich zu einem Lächeln und hoffte, Gott würde ihr vergeben, dass sie ihre Kinder an einem sichereren Ort untergebracht hatte. »Ja, aber dort ist kein Platz mehr«, log sie. »Ich bin Ihre neue Zimmergenossin.«
Juanita nickte. Maria holte ihr Handy heraus. Ein Bild von Manny blinkte ihr entgegen und tadelte sie, dass sie ihre Batterie nicht geladen hatte. Oh mi amor, dachte sie, ich hoffe, du weißt, welch wundervolles Leben ich mit dir hatte.
»Haben Sie Ihr Handy?«, erkundigte sie sich bei Juanita.
Juanita schüttelte den Kopf. »In der Aufregung habe ich meine Handtasche liegenlassen.«
Das Brausen und die Hitze intensivierten sich.
»Oh Maria, was können wir tun?«, jammerte Juanita.
»Wir sind in Gottes Hand, Juanita«, erwiderte Maria. »Wir sollten beten.«
Unfähig zu sprechen, nickte Juanita. Maria wandte sich an die Kinder.
»Kinder, wir werden zu Gott beten. Bitte nehmt euch an den Händen und helft euch gegenseitig, tapfer zu sein.«
Sie gaben sich die Hände, und Maria betete. »Padre nuestro que estas en el cielo, santificado …«
CNN-Zentrum
Atlanta, Georgia
Die Explosion brachte Leben in einen unergiebigen Nachrichtentag, in eine Nachrichtenabteilung, die nur mit Feiertagsmitarbeitern besetzt war. Ein CNN-Mitarbeiter entdeckte das Internetkamera-Feed der Kanalbehörde mit Echtzeitfotos der Schiffe in Transit. Fünf Minuten später träumte er von einem Bonus, als er die letzten Fotos mailte, die eine an der Centennial-Brücke stationierte Kamera aufgenommen hatte: Eines zeigte einen Mann auf der M/T Asian Trader, Mund zum Schrei geöffnet, eine Waffe in der einen und eine Fernbedienung in der anderen Hand; das zweite Bild zeigte die Explosion.
Innerhalb von nur zwei Minuten waren die Fotos ausgestrahlt und innerhalb von fünf Minuten lagen sie allen Fernsehgesellschaften vor. Fernsehjournalisten spekulierten, und Führungskräfte schrien ihre Leute an, schleunigst Fakten zu produzieren oder, falls nötig, sie zu erfinden.
Pedro-Miguel-Schleuse
Panama
Die Zerstörung der oberen Schleuse war ein Ereignis, vor dem sich viele lange gefürchtet hatten. Die Architekten des Kanals hatten Respekt vor Gott und der Natur, eine Einstellung, die sich nur Monate vor der Eröffnung des Kanals mit dem Sinken der »unsinkbaren« Titanic als begründet herausgestellt hatte. Jahrzehnte sicheren Betriebs verringerten die Angst, bis sie schließlich so kurios wie altmodische Schuhe erschien. Die Sicherheitsketten, die außer Kontrolle geratene Schiffe zurückhalten sollten, wurden 1980 abmontiert, da die Schiffe mittlerweile so groß waren, dass sie wirkungslos schienen. Vorher wurden bereits die Notdämme, die einen eventuellen Durchbruch aufhalten sollten, eliminiert; einfach nach Jahren des Nichtgebrauchs entfernt. Allein die Doppeltore hatten überlebt, die jetzt aber nur noch Schrottwert hatten. Welcher Konstruktionsentwurf konnte schon den verblendeten Fanatismus des Dschihad vorhersehen?
Der Hubschrauber schwebte über der Pedro-Miguel-Schleuse, als Juan Antonio Rojas, Verwalter der Autoridad del Canal de Panama, zusah, wie Benzin aus zerstörten Tanks auslief, nicht länger eine Sturzflut, sondern nur noch ein gurgelndes Aufstoßen. Luftblasen stiegen hoch, die das Vakuum der Tanks füllten. Jedes Aufstoßen ließ das Benzin erneut aufflammen, aber es brannte nur noch nahe des Ausgangsortes. Vereinzelte Flammeninseln drifteten südwärts.
»Es brennt langsam herunter«, sprach er in sein Mikrofon.
»Ich bete, dass Sie recht haben«, sagte Pedro Calderon, der ACP-Betriebsleiter, vom Sitz hinter Rojas her.
»Wie schnell läuft der See aus?«, wollte Rojas wissen.
»Schwer zu sagen. Nach der nächsten Tiefenmessung weiß ich mehr, aber der Wasserstand des Sees war bereits niedrig. Falls diese Blockade versagt …« Er zeigte auf das Wrack, das die Schleuse teilweise blockierte.
Beinahe als Reaktion auf seine Aussage schwappte erneut ein Strom Benzin aus den zerstörten Tanks, der einen Feuerball nach oben schickte und eine empfindliche Balance in Gefahr brachte. Die aufgebrochenen Tanks hatten ihren Inhalt nicht gleichmäßig freigesetzt. Der Großteil des Benzins, das in der verformten Masse zurückblieb, blieb im unteren, freischwebenden Ende eingeschlossen. Nachdem die Tanks des höhergelegenen Teils ausgelaufen waren, schwankte der Abschnitt, der auf der mittleren Schleusentrennwand aufsaß, prekär vor und zurück. Der leichtere Teil hob sich von der Stellar Spirit ab, während das tieferliegende Ende Richtung Schleusenwasser absackte. Der obere Teil der Ladetanks schwebte Zentimeter über dem Kreuzfahrtschiff. Und dann gab der feuergeschwächte Stahl der Tanks nach. Das obere Ende stürzte zurück auf die Stellar Spirit, während das untere Ende in die Schleuse krachte. Hinter dieser neuen Sperre stieg das Wasser an, zwang den Tankabschnitt die Schleuse hinunter und trennte ihn von den restlichen Trümmern. Im Augenblick der Trennung drehte sich das Ladetanksegment innerhalb der Schleuse, rammte in die Vorderseite des zerstörten Deckshauses und versiegelte damit die Schleuse von Wand zu Wand.
Die Männer im Hubschrauber beobachteten hilflos, wie das Tanksegment das Deckshaus traf und es mehrere Meter vor sich herschob, und verfolgten dann in dankbarer Verwunderung, wie das Wasser diese Stahlmasse verdichtete. An einem Dutzend Stellen brach das Wasser zwar durch und rollte zentimetertief über die Seiten des Deckshauses hinweg, aber die Trümmer dämmten die Flut effektiver als zuvor.
»Gracias a Dios«, flüsterte Rojas. »Es hält.«
»Y Jesus y Jose y Maria«, fügte Calderon hinzu. Er bekreuzigte sich.
»Fliegen Sie über Miraflores«, befahl Rojas dem Piloten.
Dort floss das Wasser etwa dreißig Zentimeter hoch über die Schleusen die Böschung hinunter. Es trug Tümpel brennenden Benzins mit sich. Entlang dieser Wasserfälle tanzten Flammen um die umgestürzten Zuganlagen auf den Schleusenwänden herum, als ob sie Steine in einem Fluss seien, der direkt der Hölle entsprungen war. Das Betriebsgebäude und das Besucherzentrum schwelten. Ein geschwärztes Containerschiff hob und senkte sich in der Schleuse und hämmerte mit lauten, dumpfen Schlägen gegen die rückwärtigen Tore. Aber die Flut verebbte bereits und schwappte bald kaum noch über die Vorrichtung.
»Bringen Sie Männer in Hubschraubern her«, befahl Rojas. »Wenn wir die Schleusenventile öffnen, können wir stromaufwärts das Wasser unter der Oberfläche ablaufen lassen und so schwimmendes Benzin nördlich von Miraflores aufhalten.«
Calderon sprach in sein Funkgerät, Rojas sah Richtung Süden. Überall gab es Benzinherde, und in der Nähe lag ein brennendes Ungetüm mit abgesacktem Bug, das erste Schiff, das den Flammen südlich von Miraflores im Weg gewesen war.
Den sicheren Tod vor Augen hatte der Kapitän den nachfolgenden Verkehr gewarnt und ihm Zeit erkauft, indem er sein Schiff beinahe wie eine Schutzmauer quer über den Kanal manövriert hatte. Damit hatte er die Flammen verlangsamt und verhindert, dass sein Schiff wie ein flammender Rammbock Richtung Balboa trieb.
Dieser Mann war nicht der einzige Held, dachte Rojas, als er die geschäftigen Docks stromabwärts unbeschädigt vorfand. Nachdem die Lotsen ihre Schiffe abgedreht hatten, entließen sie ihre Schlepper, um unter eigener Kraft Richtung offenes Meer zu fliehen. Als Herren der freien Schlepper hatten die Lotsen die Initiative ergriffen, platzierten sich an strategischen Punkten nahe des Ufers und hatten mit ihrem Propellerstrahl das Feuer von den Docks von Balboa, La Boca und von Rodman auf der anderen Seite des Hafens ferngehalten.
»Eine Crew ist auf dem Weg, jefe«, bestätigte Calderon. »Ich sollte zum Betriebszentrum zurückkehren.«
»Nur noch einen Stopp«, bestimmte Rojas. »Gatun-Schleusen«, wies er den Piloten an.
»Nun, mein alter Freund«, fragte Rojas auf dem Weg nach Norden, »wie lange wird dieses Wunder anhalten?«
Calderon zuckte mit den Schultern. »Eine Stunde … oder ein Jahr. Das liegt in Gottes Hand.«
Rojas nickte und blieb stumm, bis sie über den Gatun-Schleusen schwebten.
»Ich habe allen befohlen, den See zu verlassen«, teilte Calderon mit. »Sieben Schiffe waren vor dem Anschlag von Cristobal aus zu uns unterwegs. Die schicken wir dorthin zurück, zusammen mit einem Schiff, das nach Norden unterwegs war und das den See bereits erreicht hatte. Insgesamt acht Schiffe.«
»Prioritäten?«
»Zwei Tanker und drei Containerschiffe, alle beladen und ohne die Möglichkeit, ihren Tiefgang zu reduzieren, werden zuerst abgefertigt. Dann zwei Passagierschiffe und zuletzt ein weiterer Tanker in Ballast. Solange wir noch Wasser haben, werden wir die tief liegenden Schiffe über die Schwelle der oberen Schleuse bringen. Die Fracht der anderen werden wir notfalls in den See entladen.«
»Der Tanker in Ballast ist ein neues amerikanisches Schiff?«
»Si. Seine Jungfernfahrt.«
»Ist er das?« Rojas zeigte auf ein Schiff.
»Si«, bestätigte Calderon. Rojas gab dem Pilot das Zeichen, zur Ankerreede zurückzukehren.
»Pedro, wer, glauben Sie, war El Señor Luther Hurd?«
»Keine Ahnung, jefe.«
»Ich auch nicht«, gab Rojas zu, »aber vielleicht können wir ihn berühmt machen. Behalten Sie den yanqui im See. Ich habe eine Idee.«