18
M/T China
Star
Die Straße von
Malakka
Nördlich der Rupat-Insel, Indonesien
»China Star, China Star. Sie sind außerhalb des Hauptfahrwegs. Berich…«
»Umstellen«, befahl Sheibani in sein Mikrofon und stellte auf einen neuen Kanal um. Wiederholt drückte er auf die Taste des Mikrofons und nickte auf das Antwortklicken der Boote hin, die über einen verabredeten Code ihre Folgebereitschaft bezeugten.
»Zu spät, um uns aufzuhalten, und ihr Geschwätz könnte den Kontakt mit unseren Booten stören«, erklärte er. Richards nickte zustimmend.
Ein ihnen unbekannter Alarm kreischte. Über die Brücke sahen sie auf Holt hinüber, der vor einer aufleuchtenden Anzeige stand.
»Was machen Sie da?« Richards rannte mit erhobener Waffe auf ihn zu.
Holt schien jenseits aller Furcht. Gezwungen zu werden, Ortegas Leiche über Bord zu werfen, hatte ihm wohl jede Illusion eines eventuellen Überlebens genommen.
»Ich versuche, den verdammten Alarm zu stoppen, wenn Sie mir, verflucht noch mal, aus dem Weg gehen.«
Überrascht gehorchte Richards. »Was ist das?«, fragte er mit gesenkter Waffe.
»CO2-Freigabe. Sicher ein falscher Alarm.«
Sheibani runzelte die Stirn. Er griff nach dem Telefon. Dann fiel plötzlich die Elektronik aus und im Schiff wurde es dunkel. Aus der Ferne hörte er das gedämpfte Dröhnen des Notfallgenerators.
»Hauptmotor ausgeschaltet!«, rief Bonifacio.
Im Maschinenraum hatten die Generatoren den Geist aufgegeben, nachdem ihre Motoren CO2 eingezogen hatten. Ohne Strom schalteten bestehende Sicherheitsvorrichtungen den Hauptmotor und auch alles andere ab. Dann übernahm der an einem entfernten Ort platzierte Notfallgenerator automatisch die Arbeit und lieferte Strom, allerdings nur für einige Notfalldienste.
Richards hob die Waffe an. »Falscher Alarm, von wegen. Korrigieren Sie das. Sofort. Oder Sie sind tot.«
»Dafür gibt es keine schnelle Lösung, Sie ahnungsloses Arschloch. Das CO2 muss eliminiert werden. Das bedeutet Luftklappen in Grundstellung bringen und Gebläse starten. Das braucht Zeit.«
»Und wie machen Sie das?«, wollte Richards wissen.
Holt grinste höhnisch. »Ich rufe den Chefingenieur an.«
Richards schlug ihn zu Boden.
»Genug!«, schrie Sheibani, während Bonifacio Holt Hilfe leistete.
Sheibani wollte den Maschinenkontrollraum anrufen, als ihm die Nutzlosigkeit seiner Aktion klar wurde. Jeder, der sich noch dort unten befand, würde tot sein.
»Yousif«, sagte er, »geh nach unten und sieh nach. Vorsichtig. Falls du Atemschwierigkeiten bekommst, komm sofort zurück.«
Yousif nickte und ging. Sheibani sah sich die Karte an und bestimmte die Entfernung mit dem Zirkel.
Bis Yousif zurückkam, fühlte sich Sheibani sicherer. Sie befanden sich nahe indonesischen Gewässern, und die Strömung würde sie in die richtige Richtung treiben.
»Gas«, berichtete Yousif atemlos vom Aufstieg. »Ich war halbwegs unten, sah dann die Leiche eines unserer Männer. Die Kontrollraumtür ist mit einem Mopp verrammelt.«
»Die Waffe des Mannes?«
Yousif schüttelte den Kopf. »Verschwunden.«
Sheibani nickte. »Yousif, bewach die drei hier. Richards, zur Brückennock.«
»Das ist übel«, meinte Richards, als sie allein waren.
Der Iraner zuckte mit den Achseln. »Sie wird mit oder ohne uns auf Grund laufen. Das UKW-Radio ist auf Notfallschaltung. Wir können also weiter mit den Booten kommunizieren. Falls die Burmesen starben, erspart uns das die Arbeit, und falls jemand überlebt hat, werden sie berichten, dass sie von einem Amerikaner geführt wurden. Sollten die Ingenieure am Leben und bewaffnet sein, werden sie sich in einer defensiven Position verstecken und auf Hilfe warten.«
»Aber sie wissen, was passiert ist.«
»Sie waren in einer fensterlosen Kiste eingesperrt und wissen von nichts«, versicherte ihm Sheibani. »Hier gibt es zu viele Verstecke, und die Zeit ist knapp. Außerdem sind sie bewaffnet. Warum das Risiko eingehen, erschossen zu werden? Wir lassen sie zurück.«
»Okay. Wir erledigen die letzten, jagen die Boote hoch, und verschwinden dann auf Nimmerwiedersehen.«
»Noch eine halbe Stunde«, vertröstete Sheibani ihn mit einem Lächeln gegen den sich erhellenden Himmel. »Je weiter wir treiben, desto weniger müssen wir schwimmen.«
Anderson sah sich seinen blutbefleckten Untergebenen im stärker werdenden Licht an.
»Himmel, Ben, sind Sie verletzt?«
»Nicht … nicht meines«, brachte Santos erschöpft hervor. Er sah an sich herunter, als ob er das geronnene Blut zum ersten Mal bemerkte, beugte sich nach vorn und übergab sich. Anderson stand daneben, unsicher, was er tun sollte.
Santos richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel den Mund.
»Wir haben eine Waffe«, sagte er, hob sie vom Deck auf und drückte sie Anderson in die Hand.
Anderson akzeptierte die ihm unbekannte Waffe.
»Was jetzt, Boss?«, fragte Santos erneut.
»Ein treibender Supertanker wird zweifellos Hilfe bekommen«, überlegte Anderson. »Drei Kidnapper sind in jedem Fall noch an Bord, und sogar mit Nachschub von den Booten fehlt ihnen das Personal, einen Tanker dieser Größe so zu vernetzen, dass sie ihn versenken können. Die Ladung können sie ebenfalls nicht nutzen, da wir immer noch stillstehen. Auf einem toten Schiff sind die Pumpen außer Betrieb, das heißt, sie können die Ladung nicht umlagern. Außerdem machten sie eher den Eindruck von Piraten als von Terroristen. Warum leeren sie dann nicht einfach den Safe und verschwinden?«
»Gehen wir vom Schlimmsten aus«, schlug Anderson vor. »Falls diese mörderischen Arschlöcher nicht verschwunden sind, bevor Unterstützung eintrifft, verwandeln sich die Geiseln in Verhandlungsobjekte. Gelingt es uns, wenigstens einige von ihnen zu befreien, können sie untertauchen und sich verstecken.« Er sah hoch. »Versuchen wir es, bevor es hell wird.«
Santos nickte und folgte Anderson um die Maschinenanlagenverkleidung herum in das von der Notfallbeleuchtung erhellte Deckshaus. Vorsichtig öffnete Anderson die Feuertür zum Treppenschacht, sah hoch auf das Podest des A-Decks und begann den Aufstieg. Als sie das A-Deck betraten, umfing sie ein fauliger Geruch.
»Himmel«, flüsterte Anderson. »Stinkt, als ob jemand in einen Fleischmarkt geschissen hätte.«
Santos’ Gesicht verzog sich. Er eilte vorwärts und hielt vor dem Seil, das die Tür des Aufenthaltsraumes zuhielt und den Granaten, die am Türrahmen hingen, inne. Die Metalltür sah aus, als ob sie von Hunderten von Schraubenziehern angegriffen worden wäre.
Überall lagen Fragmente herum, die in die Stahlschotten der gegenüberliegenden Flurwand eingedrungen und dann verformt aufs Deck gefallen waren. Der Gestank kam aus den Löchern.
»Wir müssen da rein, Ben«, sagte Anderson leise. »Einige von ihnen leben vielleicht noch.«
Santos entknotete das Seil, während sein Chef die Granaten analysierte. Die Stifte waren an Ort und Stelle. Nur Augenwischerei.
Dennoch war Anderson vorsichtig, als er die Granaten von ihren magnetischen Clips entfernte und sie zur Seite legte.
Die verbogene Tür weigerte sich aufzugehen. Anderson lehnte sich gegen sie, und plötzlich gab sie mit einem nassen, saugenden Geräusch nach, als der Torso, der die Tür halb blockiert hatte, zur Seite rutschte. Anderson fiel vorwärts auf Hände und Füße. Angetrocknetes Blut presste sich zwischen seinen Fingern hindurch und durchnässte die Beine seines Overalls. Er starrte auf Körperteile, die in einem grässlichen Wirrwarr übereinanderlagen. Der Gestank offener Gedärme war überwältigend. Er versuchte aufzustehen, rutschte aus und krabbelte dann rückwärts durch das Blutbad, um sich im Durchgang, gegenüber gegen die Schotte gelehnt, aufzurichten. Er musste sich zwingen, sich nicht zu erbrechen, und wischte seine Hände immer wieder zwanghaft an seinem Overall ab.
Santos starrte in den Raum. Dann bekreuzigte er sich und schloss die Tür, bevor er sich an der Wand gegenüber Anderson fallen ließ.
»Da drin lebt keiner mehr, Boss«, sagte er leise.
»Sie werden uns alle umbringen, Ben. Ich muss versuchen, denen zu helfen, die noch am Leben sind. Aber wir haben nur eine Waffe. Verstecken Sie sich, Ben. Sie müssen überleben, um gegen diese Schweinehunde auszusagen.«
Santos schüttelte den Kopf. »In diesem Zimmer liegen zwei Cousins und der Mann meiner Schwester und noch mehr aus meinem Ort. Was soll ich ihren Familien sagen? Dass ich mich versteckt habe, um für eine Aussage am Leben zu bleiben? Wer wird das glauben? Das wäre kein Leben, Boss. Nur ein Warten aufs Sterben. Wir gehen zusammen.«
USS Hermitage (LSD-56)
Stabsbootsmann Ricky Vega reichte Broussard die Rucksäcke, die der jüngere Mann verstaute, und kletterte in die SH-60 Sea Hawk.
»Willkommen bei Malakka Air«, begrüßte sie der Pilot durch das Helmmikrofon. »Ich glaube, so früh habe ich Bootsleute noch nie aufrecht und in Bewegung gesehen.« Er grinste nach hinten.
Vega erwiderte: »Lecken Sie mich … Sir.«
»Das Aufstehen, um tatsächlich einen Tag mit Arbeit zu verbringen, hat Sie ganz offensichtlich mürrisch gemacht, Chief Vega.«
Vega grinste nur. Er wartete, bis sie sich weit genug von der Hermitage entfernt hatte, bevor er sprach.
»Worum geht es also, Sir? Sie sagten mir, ich solle Broussard so schnell wie möglich herbringen. Da bin ich einfach mitgekommen.«
»Routineflug«, erklärte der Pilot. »Wir sollen uns Kanonenboote ansehen, die einen Tanker begleiten.«
Broussard und Vega sahen sich an.
»Wie sind Sie bewaffnet?«, fragte Vega.
Der Pilot lachte. »Mitten in multinationalen Manövern? Sie scherzen. Keine gute PR, unsere Verbündeten während ihres Trainings zu töten.«
Vega zog den Rucksack mit seiner Beretta M9 näher an sich heran. Broussard tat das Gleiche. Seit dem Alicia-Vorfall war keiner von ihnen länger unbewaffnet unterwegs. Auch nicht auf einer ›Routinefahrt‹.
»Haben wir sie schon im Sucher?«, fragte der Pilot.
»Oh ja«, bestätigte der Copilot. »Sie ist riesig. In zwanzig Minuten sind wir über ihr.«
M/T China
Star
6.18 Uhr
Ortszeit, 4. Juli
Die Boote waren nun sichtbar. Die Rupat-Insel lag als dunkler Strich vor ihnen. Sheibani sah auf die Gefangenen im Ruderhaus und fragte sich, wessen Schließmuskeln wohl nachgeben würden, sobald die Boote explodierten. Amüsant zu sehen, insbesondere, sobald sie entdeckten, dass sie noch am Leben waren. Als ob man sie zweimal töten würde. Und Yousif. Ihm würde sogar die Illusion genommen, als Märtyrer zu sterben, sobald er vor seinem Tod verstehen würde, dass er nur ein Mittel zum Zweck gewesen war.
»Hubschrauber.« Richards deutete nach oben.
»Früher als erwartet«, nickte Sheibani sorglos. »Also gut. Bringen wir es zu Ende.«
Auf dem Weg zum UKW-Radio lächelte er. »Bald schon werden wir im Paradies sein, Yousif. Allahu Akbar!«
»Allahu Akbar!«, wiederholte Yousif mit einem nervösen Grinsen.
Sheibani betätigte eine Taste am Mikrofon. Das überlaute Motorengeräusch durchbrach die Stille, als die Boote davonschossen. Fünfhundert Meter entfernt wechselten sie die Richtung, und während die Crews sich mit anfeuernden Zurufen Mut machten, rasten sie auf die China Star zu, gefolgt von dunklen Abgasschweifen.
»Die Boote entfernen sich«, sagte der Pilot und schwang den Hubschrauber herum, um sie in den offenen Seitentüren sichtbar zu machen. Dann aber konnten Vega und Broussard beobachten, wie die Boote mit ihren schreienden und gestikulierenden Mannschaften wendeten, bevor die See hinter ihnen kochte und die Boote erneut vorwärts schossen.
»Das sind unsere Boote!«, schrie Broussard in sein Mikrofon. »Sie werden den Tanker rammen! Selbstmordattentäter!«
»Bringen Sie uns näher ran«, forderte Vega. »Direkt an ihre Hintern, und halten Sie sie im Türrahmen.«
»Verstanden.« Der Pilot zog nach unten und näherte sich den Booten seitwärts. Vega und Broussard klammerten sich an die Halteschienen, während sie das Feuer eröffneten.
Von einer instabilen Plattform aus auf sich bewegende Objekte zu schießen, war bestenfalls Glückssache. Ihre Schüsse verfehlten ihre Ziele. Die Boote trennten sich, was es unmöglich machte, beide gleichzeitig ins Visier zu nehmen, und der zweite Mann in jedem Boot bemannte eine 50-Kaliber-Maschinenpistole. Der Pilot drehte den Hubschrauber ab, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten, und floh.
Feuerbälle explodierten an der Seite des Schiffes, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag. Wasser und Trümmer regneten in die See. Die Helikopterbesatzung wartete auf sekundäre Explosionen, die nie kamen.
Sheibani und Richards traten hinter den zugezogenen Vorhängen des Kartenraums hervor, wo sie sich gegen die Möglichkeit fliegenden Glases geschützt hatten. Sheibani trat näher an einen verwirrten Yousif heran. Richards ging auf die Nock hinaus.
»Nur Brandmale am Rumpf und Trümmer im Wasser«, berichtete Richards bei seiner Rückkehr. »Der Hubschrauber hält sich etwa eine Meile entfernt und berichtet wohl. Verschwinden wir.«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte Sheibani und lächelte Yousif an.
»Ich … Ich verstehe nicht«, stotterte Yousif. »Warum sind wir nicht explodiert?«
Sheibani zuckte mit den Schultern. »Das Opfer unserer Brüder war Teil einer bedauerlichen, aber notwendigen List.«
»Sie ließen zu, dass unsere Brüder sich zum Märtyrer machten wegen … für eine Art von … von Trick?«
»Ganz recht. Und was dich angeht …«
»Himmel noch mal«, unterbrach ihn Richards. »Wenn Sie Reden schwingen wollen, kandidieren Sie für den Kongress.« Er schoss Yousif ins Gesicht.
»Ich sagte doch: Keine Kopfschüsse!«, schrie Sheibani und sah auf Yousifs zerstörtes Gesicht.
»So werden sie ihn mittels DNA und Fingerabdrücken identifizieren«, erwiderte Richards. »Er trägt eine Weste, Sie Genie. Hätte ich ihm in den Fuß schießen und auf Wundbrand warten sollen? Bringen wir’s zu Ende und verschwinden.«
»Also gut«, meinte Sheibani. »Da Sie so bedacht darauf sind, tun Sie sich keinen Zwang an.«
Ohne Zögern schoss Richards Urbano in den Kopf, aber als er die Waffe gegen Bonifacio richtete, stieß Holt den Dritten Steuermann zur Seite. Richards’ Salve verfehlte ihn und zerfetzte dem Mann das Ohr und die Schulter. Bonifacio fiel zu Boden. Holt griff an und zielte einen linkshändigen Schwinger auf Richards, während er mit der rechten Hand die Waffe umlenkte. Richards gelang es, dem Hieb auszuweichen, der nur seinen Kopf streifte. Aber unfähig die Waffe zu heben, feuerte er an Holts Oberschenkel vorbei und drehte sich wie ein Matador, als der Sturz des verwundeten Kapitäns ihn auf das Deck hinunterzog.
Richards kroch rückwärts davon, befühlte sein Ohr und fluchte, als er seine Hand voller Blut sah.
»Warum zum Teufel haben Sie ihn nicht erschossen?«, schrie er Sheibani an.
»Ich ging davon aus, dass Sie selbst in der Lage sind, unbewaffnete Männer zu töten. Wenn Sie jetzt also so weit sind, können wir …«
Sheibani fuhr hoch, als er Backbord eine Explosion vernahm.
Der Hubschrauber schwebte. Er sollte gemäß den Anweisungen der Hermitage »nach Gutdünken fortfahren«, was nach Ansicht des Piloten bedeutete: Egal, was er tat, es war falsch.
»Was halten Sie davon, Chief? Nicht viel Schaden.«
»Denke ich auch, Sir«, meinte Vega.
»Gehen Sie näher ran«, drängte Broussard den Piloten. »Wir müssen wissen, mit wem wir es zu tun haben.«
»Hören Sie zu, Rambo. Unser gesamtes Arsenal besteht nur aus Ihren nicht autorisierten Pusterohren.«
»Lieutenant«, ermunterte ihn Broussard. »Die .50er sind weg, und es ist unwahrscheinlich, dass sie uns mit Kleinkalibern runterholen. Wir können näher ran.«
»Nicht ›wir‹ fliegen den Vogel, Seemann. Ich fliege hier.«
»Uns wurde befohlen, die Überwachung fortzusetzen, Sir«, argumentierte Vega. »Von hier aus ist nichts zu erkennen.«
»Mist. Also gut, eine kurze Umrundung, und dann schnell außer Reichweite.«
Er lenkte den Hubschrauber auf die China Star zu.
M/T China Star
Anderson zögerte, die äußere Treppe zur Kommandobrücke hochzustürzen. Das Meer war mit Trümmern übersät. Er versuchte, die neueste Entwicklung zu analysieren. Sie hatten eine Waffe, wenig Munition und die Granaten, die sie vor dem Aufenthaltsraum gefunden hatten. Eine Durchsuchung der Werkstatt hatte zwar keine Waffen zutage gefördert, hatte aber auf der Steuerbordseite des Hauptdecks zur Entdeckung von Tauchgeräten und zwei Unterwasser-Scootern geführt.
Ihr Plan war nun, sich zwischen die Entführer und die Geiseln zu drängen, aber den Fluchtweg freizulassen.
Sie hatten sich zum D-Deck geschlichen, eine Etage unter der Brücke. Anderson wartete nun Steuerbord auf Santos, der durch das Deckshaus kriechen und Backbord zur Ablenkung eine Granate über Bord werfen sollte. Während die Entführer sich auf die Backbordseite konzentrieren würden, hoffte Anderson von Steuerbord aus die Brücke zu erreichen und sich zwischen Geiseln und Kidnappern zu platzieren und die Kidnapper so lang in Schach zu halten, bis Santos ihm zur Hilfe kommen konnte. Er hoffte, dass die Entführer, sobald sie sich Widerstand ausgesetzt sahen, fliehen würden.
Aber die Explosion der Boote änderte die Situation. Anderson war verunsichert. Beim Gewehrfeuer von oben zuckte er zusammen. Verdammt, sie brachten die Geiseln um. Er stürzte die Stufen nach oben, gerade als eine Explosion von der anderen Seite des Tankers her zu hören war.
Sheibani eilte zur Backbordseite. Richards’ Blick überflog kurz die Männer, die regungslos am Boden lagen, und setzte an, ihm rückwärts nach draußen zu folgen.
»Was war das?«, verlangte er zu wissen.
Gerade hatte er die backbordseitige Tür erreicht, als Anderson von Steuerbord her um sich feuernd die Brücke erreichte. Draußen ließ sich Sheibani in Deckung fallen. Richards begann zurückzuschießen, gerade als eine von Andersons schlecht gezielten Kugeln von einem Fensterrahmen abprallte und Richards’ kugelsichere Weste mit stechender Kraft traf. Er zog sich durch die Tür zurück und duckte sich neben Sheibani.
Alles umsonst, dachte Anderson, während er Deckung suchte. Diese Schweinehunde haben alle umgebracht.
»Meine Güte«, grollte Holt. »Sie könnten nicht mal den Arsch eines Bullen mit ’ner Bassgeige treffen.«
Erleichterung überkam Anderson. »Alles okay, Dan?«
»Natürlich bin ich nicht okay, Sie Schwachkopf«, fuhr Holt ihn an. »Der Hundesohn hat mich angeschossen.« Und mit belegter Stimme dann: »Und die anderen haben sie umgebracht.«
Anderson feuerte auf eine Bewegung hin, gerade als Santos von Steuerbord aus hereinstürzte und sich neben Bonifacio fallen ließ.
»Boney lebt«, sagte Santos. »Nicht zu viel Blutverlust. Ich denke, er wird überleben.«
»Gott sei’s gedankt«, bekräftigte Holt hinter dem Leitstand. Kriechend sicherte er sich Yousifs Waffe und rutschte dann vorwärts, um Anderson zu unterstützen.
»Ben«, meinte Anderson, »motivieren Sie sie doch mit einer der Granaten, uns zu verlassen.«
»Verdammter Mist«, fluchte Richards. »Lassen wir sie einfach zurück und verschwinden wir.«
»Das waren die Ingenieure. Die Brückencrew hat Dinge aufgeschnappt. Und dank Ihnen könnten sie überleben.«
Sie stritten sich. Sheibani überlegte gerade, Richards selbst zu erschießen, als eine Granate unregelmäßig hüpfend an ihnen vorbeirollte, über die Wand des Decks sprang und unter ihnen auf dem Rettungsboot explodierte.
»Beim Barte des Propheten, ich wünschte, wir hätten einige der Granaten behalten.«
»Ich habe eine.« Richards tastete seine Seitentasche ab.
»Dann werfen Sie sie endlich, Sie Idiot. Und vergessen Sie nicht, den Stift zu ziehen.«
Sheibani hob den Kopf beim Geräusch des Hubschraubers, der auf sie zuzukommen schien.
»Unsere zahnlosen Freunde möchten das Schauspiel bewundern, Richards. Bitte enttäuschen Sie sie nicht.«
Mit großer Geschwindigkeit näherte sich der Hubschrauber von Steuerbord, als der Pilot aufgrund von Mündungsfeuer innerhalb des Steuerhauses nach oben zog. Auf der anderen Seite des Schiffes explodierte etwas, und ein großer, bewaffneter Mann in blutigem Overall stürzte die Steuerbordstufen ins Steuerhaus hoch. Eine Schießerei folgte.
»Die mögen sich wohl nicht«, meinte der Pilot.
»Offensichtlich die Guten und die Bösen, aber wer ist wer?«, fragte sich Broussard, als ein kleinerer Mann ebenfalls die Treppe zum Steuerhaus hocheilte.
»Firmenoveralls«, bedeutete Vega. »Das ist die Crew. Die bösen Jungs müssen Backbord sein.«
Der Pilot umrundete das Schiff gerade rechtzeitig, um eine Granate auf einem Rettungsboot explodieren zu sehen. Broussard richtete sein Fernglas auf die schwarz gekleideten Figuren, die sich achtern hinter der Brückentür duckten. Einer sah nach oben.
»Sheibani!«, schrie Broussard. »Dieser Killer! Bringen Sie uns näher ran!« Er lud einen vollen Clip. Vega folgte seinem Beispiel.
Der Pilot verlangsamte den Chopper und studierte die Waffen in den Händen der Terroristen.
»Lieutenant«, drängte Vega. »Dieser Halunke hat drei meiner Männer getötet. Einem hat er bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Wir können hier oben nicht untätig rumhängen und nichts tun … Sir!«
»Verstanden, Chief«, erklärte der Pilot und brachte den Hubschrauber seitwärts näher an das Schiff heran.
»Okay, Junior«, nickte Vega, der auf dem Deck mit den Füßen zur Tür hin saß. »Versuchen wir unser Glück.« Er rollte zur Seite und hob die Knie an, zwischen denen er die Beretta mit beiden Händen festhielt und zielte. »Pressen Sie die Knie zusammen«, forderte er Broussard auf, der ihn nachahmte. »Das gibt uns mehr Halt und wir bieten kleinere Zielscheiben. Falls sie uns erwischen sollten, werden wir allerdings Sopran singen.«
»Lieutenant«, instruierte Vega weiter, »halten Sie uns relativ hoch, damit wir nicht versehentlich einen Treffer von den eigenen Leuten abbekommen. Und lehnen Sie uns seitwärts, um uns Sicht auf die Ziele zu geben.«
»Verstanden, Chief. Waidmannsheil.«
Broussard versuchte, den Gedanken an eine Kugel in seinen Eiern zu verdrängen.
»Ziel links«, sagte Vega, was bedeutete, er würde Richards übernehmen.
»Sheibani gehört mir«, bestätigte Broussard.
»Dann los, Junior«, gab Vega das Kommando.
Eine verirrte Kugel heulte an Sheibani vorbei. Er zielte auf das dunkle Viereck der Hubschraubertür, in dem er nichts außer einer unbestimmten Masse erkennen konnte.
»Beeilen Sie sich, Sie Trottel«, rief er. »Wir müssen sie töten, um nach drinnen zu kommen.«
Die Tür befand sich zu seiner Linken. Um weniger Angriffsfläche zu bieten, würde Richards linkshändig werfen.
Neben ihm wurde eine Kugel von einer Schotte abgelenkt. Er zog den Stift und drehte sich nach links.
Vega war klar, dass ihr Versuch absurd war. Sie schossen nach unten, mussten sich also keine Gedanken machen, dass die Kugeln die Distanz nicht überwinden würden. Im Prinzip konnten sie aber nur die generelle Umgebung anvisieren und auf das Beste hoffen. Dennoch schoss er bedacht, passte sich an, als der Pilot die Entfernung reduzierte. Er war dankbar, dass sein Ziel nicht zurückfeuerte, bis er sah, dass der Mann den Arm nach hinten bog, um etwas zu werfen. Vega verstand sofort und leerte seinen Clip so schnell, wie er nur den Abzug drücken konnte.
Keine von Vegas Salven trafen sein Ziel direkt, aber ein Querschläger streifte das Fußgelenk des Mannes mitten im Wurf. Er zuckte zusammen und ließ die Granate frühzeitig fallen. Die segelte vorwärts über das Windverdeck, um weit unten auf dem Hauptdeck aufzuprallen und harmlos explodierend über die Seite zu fallen.
Broussard, der neben Vega von dessen ausgestoßenen Hülsen bombardiert wurde, wechselte ebenfalls auf Schnellfeuer.
»Ich hau ab.« Bedrängt von einschlagenden Kugeln duckte sich Richards und richtete sich dann nur kurz leicht auf, um nach hinten zu hinken.
Sheibani folgte ihm und überholte ihn dann in seiner Hast, die Stufen hinunter in die Sicherheit des Deckshauses zu erreichen.
Andersons Freude über ihren Rückzug war nur von kurzer Dauer.
»Der Kartenraum«, rief er und eilte zusammen mit Santos durch den Vorhang.
Santos hielt die Tür offen und stand zur Seite, was Anderson einen sicheren Schuss auf jeden erlaubte, der die Stufen hochkommen würde. Sie hörten, wie unten eine Tür schlug, gefolgt von eiligen Fußtritten, die die Stufen hinunterrannten.
»Sie sind auf der Flucht«, flüsterte Anderson. »Es ist vorbei, Ben.«
»Noch nicht, Boss«, sagte Santos und stürzte vorwärts.
Die Stufen bestanden aus solidem Stahlblech. Santos wusste, dass eine Explosion auf einer Ebene die anderen Ebenen nicht gefährden würde. Auf dem D-Deck ließ er eine Granate los, die er in einem bestimmten Neigungswinkel so von der Schotte auf dem Deck unter ihnen abprallen ließ, dass sie den fliehenden Entführern die Treppen hinunter nachhüpfte.
»Für Paco und Juni.« Leise sprach er die Namen seiner Cousins aus, während er in Deckung ging.
Sheibani hörte das Scheppern und sprang die letzten Stufen auf das B-Deck hinunter. Er griff nach der Handschiene, schleuderte sich um den Treppenabsatz herum und setzte seinen Sprint nach unten fort. Seine Füße trafen nur jede dritte Stufe. Er befand sich bereits weit außerhalb des Detonationsbereichs, als die Granate hinter dem Rücken des lahmenden Richards explodierte.
Sheibanis Ohren klingelten, als er seinen Weg eiligst fortsetzte. Er war dankbar dafür, Richards’ Tod aufgeschoben zu haben. Ursprünglich hatte er geplant, die Leiche des Amerikaners auf der Brücke zurückzulassen. Seine Behauptung, Fluchtausrüstungen für sie beide vorbereitet zu haben, war eine Lüge.
Aber Allah hatte den Amerikaner als Schild bewahrt. Er verdrängte Richards aus seinen Gedanken. Er musste dem Treppenhaus entkommen. Nur noch ein Deck.
In kürzester Zeit erreichte Santos den Treppenabsatz, rutschte in Richards schleimigen Überresten aus und fiel auf die Knie. Von dort aus warf er dann die nächste Granate, wieder so, dass sie von der Schotte des darunterliegenden Decks abprallte. »Für Victor«, rezitierte er den Namen seines Schwagers, bevor er sich zurückzog. Er hörte, wie sich die Feuertür des Hauptdecks öffnete. Verfehlt, dachte er, während er die Explosion abwartete.
Die Brandschutztür des Hauptdecks schlug hinter Sheibani zu. Mit zugehaltenen Ohren rannte er den Flur hinunter. Die Granate ging hoch. Nach der Explosion richtete er seine Waffe auf die Feuertür. »Nun zeig dich schon, mein dummer Freund«, flüsterte er.
Der Ingenieur riss die Brandschutztür auf und zog sich sofort wieder in die Sicherheit des Treppenhauses zurück. Kugeln trafen die Metallbeschläge der Tür, die sich wieder vor ihm schloss. Sheibani verfluchte sich dafür, auf diesen Trick hereingefallen zu sein, und überdachte die Situation. Falls der Affe noch Granaten hatte, hätte er eine geworfen. Und falls er bewaffnet sein sollte, konnte er nicht schießen, ohne sich selbst dem Feuer auszusetzen. Sheibani befreite sich mit einer Hand von seiner kugelsicheren Weste, die er aufs Deck fallen ließ. Danach näherte er sich rückwärts einer Tür an Steuerbord. Sobald er wieder auf dem Deck stand, sicherte er die schwere, wasserdichte Tür mittels ihrer mächtigen Verschlussvorrichtung. Um seinen Verfolger aufzuhalten, verriegelte er noch die sechs zusätzlichen Verschlusseinrichtungen. Grinsend legte er seine Tauchausrüstung an. Der Hubschrauber hing immer noch Backbord, der Affe zitterte im Treppenhaus, sicher zufrieden damit, den Idioten Richards getötet zu haben. Sie würden das Schiff noch nach ihm durchsuchen, wenn er schon halbwegs an Land wäre.
Auf der Suche nach der Waffe des toten Kidnappers schlich Santos erneut die Stufen hoch. Bei seiner Rückkehr auf das Hauptdeck vernahm er das Verriegeln einer wasserdichten Tür. Seinen Kopf schützend riss er die Feuertür auf, entdeckte keine Gefahr und drang in den Flur vor. Allerdings nicht Steuerbord, hinter Sheibani her, sondern Backbord. Vorsichtig verließ er das Deckshaus auf der gegenüberliegenden Seite und umrundete achtern das Maschinengehäuse. Er bewegte sich jetzt zielgerichtet, ohne Eile.
Sheibani lachte laut, als er den Scooter bei den Griffen packte, dessen Gewicht auf seine Oberschenkel verlagerte und ihn dann Richtung Schiffswand zog. Gut einen Meter von der Reling entfernt verdunkelte sich seine Welt.
Die Sprengfallen waren Santos Idee gewesen. Anderson hatte jeden Wasser-Scooter angehoben, um es Santos zu ermöglichen, mit dem Klebeband aus der Bootsmann-Werkstatt eine Granate in der Einbuchtung direkt vor dem Propellergrill zu befestigen.
Der nach unten gerichtete Handgranatengriff wurde vom Gewicht des Scooters gegen das Deck gedrückt. Dann hatte Santos den Granatengriff am Deck befestigt, um zu vermeiden, dass sein lautes Geräusch beim Herabfallen die Terroristen alarmierte, sobald sie die Einheiten anhoben. Und danach hatte er die Stifte gezogen.
Santos wartete außer Sicht. Er befürchtete, dass seine Sprengfallen zu offensichtlich sein könnten, und hatte deshalb dem Kidnapper zur Ablenkung im Treppenhaus Druck gemacht. Falls es diesem letzten Mann gelingen sollte, die Falle zu entschärfen, beabsichtigte er, nach vorn zu laufen und die verbleibenden Granaten auf ihn hinunterregnen zu lassen.
Beim Klang der Explosion zuckte Santos zusammen und rannte dann an den verbrannten Teilen des Wasser-Scooters vorbei zu der Stelle, wo Sheibani regungslos lag. Sein Oberkörper war intakt, aber beide Beine waren oberhalb der Knie abgetrennt. Helles, arterielles Blut spritzte aus den Stümpfen und sammelte sich auf dem Deck. Sheibani stöhnte.
Santos ging in die Knie und brachte sein Gesicht nahe an das des Mörders heran.
»Kannst du hören, du vaterloser Sohn einer Hure?«, fragte Santos.
Sheibani nickte.
»Dann nimm dies für die Männer, die du heute getötet hast.« Santos spuckte Sheibani ins Gesicht.
Der Iraner sah ihn mit höhnischem Grinsen an, während ihm der Speichel die Wangen hinunterlief.
»Und das«, flüsterte Santos, als er sich erhob und seinen Reißverschluss öffnete, »ist von ihren Familien. Glaubst du, Allah wird dich nach Pisse stinkend in seinem Paradies empfangen?«
Sheibanis Lächeln erlosch, als der Urin ihm in die Augen biss.
Santos saß zusammengekauert in seinem blutigen Overall da, starrte die Leiche an, umfasste seine Knie und weinte. Tränen der Trauer um seine Familie, um seine Freunde, um seine Schiffskollegen überwältigten ihn. Tränen nach dem Ende des Terrors. Aber überwiegend Tränen der Erleichterung, dass die Mütter und Väter und Frauen und Kinder seiner Schiffskollegen, wenn sie um ihre Männer trauerten, sicher sein konnten, dass ihre Männer gerächt waren, und dass Benjamin Honesto Santos sich nicht wie ein verängstigter Hase versteckt hatte, um seine Aussage abzuwarten.
Der Hubschrauber schwebte. Seine Insassen starrten auf den schluchzenden Mann. In schockierter Stille hatten sie die Szene verfolgt, die sich gerade unter ihnen abgespielt hatte.
»Wer zum Teufel ist dieser Kerl?«, fragte der Pilot.
»Seinen Namen kenne ich nicht«, sagte Broussard, »aber er ist mein neuer bester Freund.«
»Amen«, bestätigte Vega.