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US-Botschaft
Singapur, 27. Mai

 

Dugan saß im Konferenzzimmer und wartete. Als Ward endlich erschien, zog Dugan die Augenbrauen hoch. »Wo ist denn unser Wunderkind?«

»Gardner ist heute Morgen zurück nach Langley«, informierte ihn Ward. »Managementkonferenz.«

Dugan schnaubte. »Neuigkeiten von der Alicia?«

Ward schüttelte den Kopf. »Negativ. Die Indonesier zeigen sich unkooperativ, wie gewöhnlich, aber wir haben unser eigenes Militärpersonal am Boden, das jeden zur Verfügung stehenden Kran ortet. Und die Satelliten übermitteln Bilder aller Docks, die in der Lage sind, große Kräne aufzunehmen, und auch von jedem Hafen, der tief genug ist, einen Schwimmkran zu erlauben. Absolut nichts bisher.«

»Mist.«

Ward zuckte die Schultern. »Trotzdem ist das immer noch unsere beste Chance. Sie haben ganz offensichtlich ein Versteck gefunden, aber früher oder später müssen sie zu einem Kran, oder der Kran muss zu ihnen kommen. Geheimdienst ist ein Spiel, das Geduld verlangt, Tom.«

Ward wechselte das Thema. »Haben Sie Kairouz schon angerufen?«

»Da meine Anrufe abgehört werden, kennen Sie die Antwort«, konterte Dugan.

»Machen Sie den Anruf.«

»Und was ist mit ›Geheimdienst ist ein Spiel, das Geduld verlangt‹?«

Ward verzog das Gesicht.

»Nun bringen Sie mal nicht Ihr Magengeschwür zum Platzen. Meine Ablösung ist letzte Nacht eingetroffen. Heute Morgen, nach einer Tour der Asian Trader, habe ich ihm die Verantwortung übertragen. Jetzt erwartet Alex meinen Anruf. Ich wollte nur warten, bis er natürlich erscheint.«

»Worauf warten Sie dann noch?«, ermunterte ihn Ward.

Dugan seufzte und zog sein Handy hervor.

 

 

Die Büros der Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft
London

 

Sogar zu dieser frühen Stunde protestierte Alex’ Magen bereits, bedingt durch zu viel Kaffee, und dank des Mangels an Schlaf war er angespannt und gereizt. Alles hatte sich seit der Ankunft Brauns mit diesem Schläger Farley im Schlepptau geändert.

Er sah auf seinen überquellenden Posteingang. Seine Produktivität hatte ebenfalls gelitten, und so hatte er Mrs Coutts instruiert, keine Anrufe durchzustellen, während er versuchte, den Rückstau abzubauen.

Verärgert sah er auf die summende Gegensprechanlage.

»Ja, Mrs Coutts?«

»Tut mir leid, Sie zu stören, Sir, aber Mr Dugan ist auf Leitung eins.«

Trotz der Anspannung lächelte er. Auf Dugan war Verlass – er wusste sich an Mrs Coutts vorbeizuschmeicheln. Alex drückte die blinkende Taste.

»Thomas. Wie geht es dir? Ist Guido eingetroffen?«

»Mir geht’s gut, Alex«, antwortete Dugan. »Ich habe ihn gestern Abend am Changi-Flughafen abgeholt, und heute Morgen sahen wir uns gemeinsam das Schiff an. Es ist mittlerweile aus dem Trockendock und sollte es irgendwann nächste Woche zur ExxonMobil-Raffinerie schaffen, um zu laden. Guido hat alles unter Kontrolle.«

»Ausgezeichnet, Thomas, und danke, dass du mir geholfen hast, diesen Engpass zu überbrücken.«

»Kein Problem, Alex, aber ich wollte noch etwas mit dir besprechen. Ich glaube, ich bin bereit, dein Angebot anzunehmen und Vollzeit für dich zu arbeiten.«

Alex saß wie versteinert da. Thomas durfte nicht kommen. Nicht jetzt. Falls er spürte, dass etwas nicht stimmte, und sich an die Behörden wenden würde …

»Alex, bist du noch dran?«

»Ja, ja, Thomas. Ich bin einfach … überrascht. Warum der Sinneswandel nach all diesen Jahren? Meinst du es ernst? Was ist mit deiner Beraterfirma?«

»So ernst wie eine Herzattacke«, scherzte Dugan. »Ich denke, du hast mich endlich davon überzeugt, dass ich mehr Zeit hinter dem Schreibtisch verbringen sollte. Und da ich dir sowieso siebzig Prozent meiner Rechnungen zuschicke, mache ich mir um die Firma keine Sorgen. Falls es nicht funktionieren sollte, machen wir eben einfach so weiter wie bisher. Du weißt ja, dass Geld, dank Katys finanzieller Zauberei, für mich kein Thema mehr ist.«

»Was ist mit Katy?«, fragte Alex nach. »Wird sie nicht verletzt sein, wenn du nach London ziehst?«

Dugan lachte. »Sehen wir der Wahrheit ins Gesicht, Alex. Ich bin sowieso die meiste Zeit unterwegs, und nur weil meine kleine Schwester mich zwischen meinen Reisen in ihrem Poolhaus übernachten lässt, bedeutet das nicht, dass mich jemand arg vermissen wird. Zu den Feiertagen komme ich ja weiter heim, was ungefähr so oft ist, wie sie mich auch jetzt sehen.« Dugan hielt inne. »Wieso all diese Einwände? Versuchst du mir nun das auszureden, wovon du mich die letzten zehn Jahre überzeugen wolltest?«

»Nein, nein, keineswegs. Es kam nur unerwartet, und der Zeitpunkt ist etwas … ungünstig. Ich habe gerade jemanden als Produktionsleiter eingestellt, mit der Abmachung, dass er früher oder später in eine neue Geschäftsführerposition aufsteigen wird«, log Alex spontan. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du es dir doch noch überlegen wirst, aber wenn ich dich jetzt als Geschäftsführer einbringe, wird er es als Vertrauensbruch sehen.«

»Das kann ich verstehen, Alex. Wie wäre es damit? Es macht mir nichts aus, um die Geschäftsführerposition zu konkurrieren. Warum stellst du mich nicht zur Probe in einer gleichwertigen Position ein, sagen wir, als Leiter der Ingenieurabteilung. Und nach einer Weile entscheidest du dann, wer von uns beiden der Geeignetere ist. Falls ich mich später entschließen sollte, wieder zu gehen, bleibt dir immer noch der Neue. Falls wir uns entscheiden, dass ich weitermachen soll, hast du die Wahl. Eine Kündigung wird mir später keine Probleme bereiten, sollte sie notwendig werden.«

Diese Logik war unantastbar. Alex hielt ihn weiter hin.

»Du hast mich wirklich überrascht, Thomas. Kann ich dich zurückrufen?«

»Sicher, Alex«, antwortete Dugan, »lass dir Zeit.«

»Gut, Thomas. Bis bald.«

Alex Kairouz legte auf und vergrub das Gesicht in seinen Händen.

 

image

 

»Captain Braun, Mr Kairouz darf nicht gestört werden«, rief ihm Mrs Coutts hinterher.

Braun stand in der Tür zu Alex’ Büro, die Hand am Griff, und starrte sie verärgert über die Schulter hinweg an.

Mrs Coutts warf Alex einen Blick hilfloser Entschuldigung zu.

»Schon in Ordnung, Mrs Coutts«, beruhigte Alex sie.

Sie nickte und kehrte wieder an ihren Schreibtisch zurück.

Braun schloss die Tür und machte es sich in Alex’ Lieblingssessel bequem.

»Sie sollten die alte Kuh loswerden, Kairouz, und jemanden anheuern, der sich sehen lassen kann«, sagte er und zeigte auf die Couch. »Aber setzen Sie sich. Ich habe schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

Alex stand auf, starr vor Zorn. »Ich kooperiere, Braun, also lassen Sie meine Angestellten in Ruhe. Verstanden?«

»Für Sie immer noch Captain Braun! Außerdem kooperieren Sie nicht, sonst würde die alte Zicke sich nicht einmischen. Wenn sie nicht vorsichtig ist, wird sie einen Unfall haben. Haben Sie das verstanden? Und jetzt setzen Sie sich endlich.« Braun zeigte erneut auf das Sofa.

Geschlagen folgte Alex der Anweisung.

»Okay«, erkundigte sich Braun, »wer ist dieser Amerikaner?«

»Thomas Dugan, ein Berater und Freund von mir. Ich werde ihn abwimmeln.«

»Wird ihn das nach seinem recht logischen Vorschlag nicht skeptisch machen?«

»Vielleicht«, gab Alex zu, »aber ich kann ihn so lange hinhalten, bis Sie, was immer Sie planen, erledigt haben und wieder verschwunden sind.«

Braun schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will nicht, dass ein neugieriger Yankee anfängt, Fragen zu stellen. Besser, ihn in der Nähe und unter Kontrolle zu haben. Außerdem könnte er sich vielleicht als hilfreich erweisen.«

»Ich werde ihn abwimmeln«, wiederholte Alex.

»Ganz im Gegenteil«, wies ihn Braun mit harter Stimme an, »bieten Sie ihm einen Job an. Mit sofortiger Wirkung.«

»Nein. Es ist am besten, ihn fernzuhalten.«

Braun seufzte. »Wie ermüdend.«

Er stand vom Stuhl auf, griff sich Cassies Foto vom Schreibtisch und warf es Alex in den Schoß. Alex stellte das Foto auf den Ecktisch und starrte vor sich hin.

»Zeit, Ihre Erinnerung aufzufrischen, Kairouz? Sollen wir uns die Videos noch mal ansehen?« Braun hielt inne. »Die Kleine sieht wirklich wie Ihre tote Frau aus. Vielleicht haben Sie ja schon mit ihrer Erziehung begonnen? Sich den Spasti ins Bett geholt, was, Kairouz? Ich könnte Ihnen behilflich sein. Sie von einem Dutzend stattlicher Männer einreiten lassen, während Sie zusehen. Klingt das gut?« Braun lachte und wartete auf die vorhersehbare Reaktion.

Alex stürzte auf ihn zu, aber Braun war jünger, fitter und besser trainiert. Innerhalb weniger Sekunden lag Alex auf dem Boden, der rechte Arm hinter seinem Rücken verdreht, sein Gesicht in den Teppich gepresst.

»Diese Lektionen fangen an, mich zu nerven, Kairouz. Sobald Sie sich das nächste Mal querstellen, wird Farley den Spasti vor Ihren Augen vergewaltigen, als eine Art Vorschuss. Verstanden?«

Alex nickte und Braun ließ von ihm ab. »Gut. Und jetzt rufen Sie Dugan an.« Er lachte höhnisch. »Aber erst, nachdem Sie sich wieder unter Kontrolle haben, Sie Jammerlappen.«

Alex hörte bewegungslos zu, wie Braun den Raum verließ. Tränen ohnmächtiger Wut nässten den Teppich.

 

 

US-Botschaft
Singapur

 

»Großartig, Alex«, sagte Dugan. »Ich werde Mrs Coutts meine Flugdaten zukommen lassen. Kann ich wie gewöhnlich bei dir bleiben, bis ich eine eigene Bleibe gefunden habe?«

»Natürlich, Thomas. Cassie wird sich freuen.«

»Ich freue mich auch darauf, euch alle wiederzusehen. Bis bald«, verabschiedete sich Dugan.

Es saß so lange schweigend da, bis Ward ihn endlich ansprach.

»Was halten Sie von der Sache, Tom?«

»Ich weiß es nicht. Er … in letzter Zeit verhielt er sich schon etwas merkwürdig, und ganz offensichtlich ist er weniger von meiner Zusage begeistert, als ich es erwartet hatte.«

»Genau, irgendetwas stimmt da nicht, das ist sicher«, bestätigte Ward.

Dugan antwortete nicht.

»Haben Sie es sich anders überlegt?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich schaffe, Jesse. Ich habe zwar einige Fotos für Sie gemacht und ein wenig für Sie rumgeschnüffelt, aber ich bin kein Spion, und in den werde ich mich auch garantiert in vierundzwanzig Stunden nicht verwandeln.«

»Keine Sorge. Die Briten werden Sie unterstützen. MI5 stellt gerade ein Team zusammen.«

»Ich hoffe nur, Sie wissen, was Sie da tun, mein Freund«, seufzte Dugan.

 

 

Die Büros der Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft
London

 

Karl Enrique Braun, freiberuflicher »Problemlöser«, ehemaliger Mitarbeiter des ostdeutschen Staatssicherheitsministeriums, auch Stasi genannt, kehrte in sein großzügiges neues Büro zurück, dem ehemaligen Arbeitsplatz dreier verärgerter Schiffsinspektoren, die sich im Großraumbüro wiedergefunden hatten. Dank seiner neuen, auf die Phoenix-Schifffahrtsgesellschaft ausgestellten Kreditkarte gerade von einem ausgezeichneten Mittagessen zurück, lächelte er beim Anblick des Schildes an seiner Tür: Captain Braun – Produktionsleiter. Der »Captain«-Zusatz machte sich gut und war, genau wie sein Name, frei erfunden.

Im Dienst des ostdeutschen Staates hatte er viele Identitäten angenommen. Und als das Ende bevorstand, hatte er es schneller kommen sehen als seine ehemaligen Kollegen und war nur Stunden nach dem Fall der Mauer in Havanna eingetroffen. Das kubanische Ministerium des Inneren (MININT) war ein Zwilling des Stasi und immer auf der Suche nach Talenten, insbesondere nach Talenten, die fließend spanisch sprachen oder einen kubanischen Hintergrund hatten. Er berührte sein Gesicht. Die Kubaner verfügten über ausgezeichnete Schönheitschirurgen.

Sein nordisch gutes Aussehen und seine beinahe muttersprachliche Beherrschung von einem halben Dutzend Sprachen stellten für die Kubaner einen unschätzbar hohen Wert dar, den er zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen wusste. Er begann als »Berater« und verdingte sich später unter dem Schutz der Kubaner als freiberuflicher Agent, im Austausch gegen die Weitergabe geheimdienstlicher Informationen.

Mittlerweile ein überzeugter Kapitalist, arbeitete er für jeden, der sich sein Honorar leisten konnte, von Drogenbaronen bis hin zu afrikanischen Diktatoren.

Seine bislang besten Klienten waren lateinamerikanische Demagogen gewesen, Verfechter eines gescheiterten politischen Modells, die die Stimmen der Armen mit Versprechungen kauften, die keine Wirtschaft realisieren konnte, insbesondere nicht die verpfuschte Wirtschaft des Neo-Sozialismus.

Braun lächelte erneut. Aber keiner seiner Kunden war so nachgiebig und blind im Hinblick auf das Honorar wie dieser Idiot Rodriguez in Venezuela. Es wäre zu schade, diesen Goldesel zu verlieren, falls es nötig werden sollte, ihn aus Gründen der Schadensbegrenzung zu opfern. Andererseits hatten sich die Iraner mehr als großzügig erwiesen und verdienten seinen Feuerschutz. Braun sah einem äußerst angenehmen Ruhestand entgegen.

Er machte es sich hinter seinem Schreibtisch bequem und überdachte die neuesten Entwicklungen. Es gefiel ihm nicht, dass dieser Amerikaner sich bei Kairouz einnistete, aber das war offensichtlich ein seit Langem bestehendes Arrangement; diese Routine sollte beibehalten werden. Außerdem war Kairouz vollkommen eingeschüchtert und dieser Dugan war ein weiterer Amerikaner, den er ins Spiel bringen konnte, um die ganze Sache noch glaubhafter zu machen.

Der wartete förmlich darauf, zur Schlachtbank geführt zu werden. Braun konnte sein Glück kaum fassen.