Kuckuck Rosenzopf
Ich brauche lange, um zu Lilly zurückzufinden. Die Bäume rücken immer dichter zusammen, als wäre der Wald ein einziges riesiges, rosafarbenes Lebewesen, das mich nicht aus seinem Inneren entkommen lassen will. Die ganze Zeit über sehe ich Samuel vor mir, wie er losläuft und zwischen den Stämmen verschwindet, und frage mich, wo er jetzt ist, und habe zugleich fürchterliche Angst vor der Antwort. Beinahe genauso häufig denke ich daran, was für einen Ärger ich bekommen werde, was für einen Riesenärger, weil ich Samuel habe vorlaufen lassen, den kleinen, etwas moppeligen Samuel, der nicht einmal richtig Windspringen kann, und ich schäme mich dafür, überhaupt einen Gedanken daran zu verschwenden.
„Was ist passiert?“, fragt Lilly, nachdem ich sie dann doch irgendwann gefunden und mich neben sie gesetzt habe.
„Was soll denn passiert sein?“, frage ich zurück, und meine Stimme klingt irgendwie seltsam, ganz anders als sonst, so als würde jemand durch mich hindurch sprechen. „Gar nichts ist passiert.“
„Wo ist Samuel?“
„Gegangen.“
„Gegangen?“
Ich nicke.
„Wohin denn?“, fragt Lilly etwas laut, und ich muss mich zurückhalten, um nicht einfach aufzustehen und wegzulaufen.
„Nach Hause“, sage ich und kralle meine Finger in den Waldboden. „Er hatte keine Lust mehr zu warten.“
„Zu Fuß braucht er mindestens drei Tage! Und er kennt den Weg doch gar nicht!“
Ich zucke mit den Schultern. „Du weißt ja, wie Samuel ist.“
Lilly streicht sich die Haare aus dem Gesicht, kämmt sie hinter ihre großen Ohren und sieht mich sehr eindringlich an. „Dodo, was ist passiert?“ In solchen Momenten kommt sie mir groß vor, viel größer als ich, schon richtig erwachsen. „Nun sag schon!“
Sie knufft mich gegen die Schulter, und ich denke, dass es kein anderes Mädchen gibt, dass so fest knuffen kann wie Lilly, und dann verschwimmt der Wald plötzlich und alles sprudelt aus mir heraus.
„Es war nicht deine Schuld“, sagt Lilly, als ich aufgehört habe zu schluchzen, und streicht mir über den Kopf. „Samuel wollte unbedingt nach dem Eingang suchen, nicht du.“
Als ich mich wieder aufsetze, hat ihre Bluse an der Schulter, dort, wo ich mein Gesicht vergraben habe, einen dunklen Fleck. Ich fühle mich leichter.
„Glaubst du … glaubst du, er ist tot?“, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf und kaut an ihrer Unterlippe. „Er ist auf der anderen Seite. Aber es ist sehr gefährlich, die Grenze so zu überqueren, weil du nie weißt, wo du landest.“
„Woher weißt du das?“, frage ich und wische mir übers Gesicht.
„Weiß ich einfach“, entgegnet Lilly.
Ich nicke. Damit ist irgendwie alles gesagt, also warten wir. Die Dämmerung kommt schnell, die Dunkelheit gleich hinterher, und mit ihr die Kälte. Im Haus wird ein Licht entzündet. Der Wald wird still, ganz still. Der Mond geht auf und taucht die Bäume in gespenstisches Licht. Ihre Stämme werfen harte Schatten, in denen kleine Tiere lautlos umherhuschen. Wir rücken näher zusammen, und irgendwann lege ich meinen Arm um Lilly, aber ein leichtes Zittern bleibt trotzdem.
„Es ist soweit“, sagt sie nach einer langen Weile und steht auf.
Die graue Säule über dem Dach ist verschwunden.
Geduckt laufen wir über den kahlen Streifen zwischen Waldrand und Haus. Bei der Tür angekommen, drückt Lilly ohne zu zögern die Klinke herunter und schlüpft ins Innere. Im Haus ist es stockdunkel. Nur wenige Spritzer Mondlicht haben ihren Weg durch die geschlossenen Fensterläden gefunden. Ich atme viel zu laut, und mein Herz schlägt viel zu stark, doch noch mehr beunruhigt mich, dass das alles ist, was ich höre. Ich halte die Luft an und lausche angestrengt in die Schwärze: kein Schnarchen, kein gleichmäßig ruhiger Atem eines Schlafenden. Direkt neben mir spüre ich eine Bewegung, und wären meine Lungen nicht völlig leer, würde ich laut aufschreien, doch so ist Lilly schnell genug und presst ihre Hand auf meinen Mund. Ihre Augen funkeln in der Dunkelheit, und sie sieht mich an, als hätte ich beim Windspringen beide Beine benutzt.
„Tschuldigung“, hauche ich und spüre, wie ich rot werde.
Lilly nimmt meine Hand und zieht mich einige Schritte hinter sich her. Dann ist ihr Mund auf einmal so dicht an meinem Ohr, dass ich ihren Atem spüre.
„Im Keller.“
Ich schaue vor uns auf den Boden und entdecke ein Rechteck, das noch schwärzer als der Rest ist. Eine offen stehende Luke.
Die Holztreppe knarrt bei jedem Schritt. Zum Glück endet sie bereits nach acht Stufen.
Hier unten ist es schwarz wie Tinte, und ich frage mich, wie wir so den Eingang finden sollen, da beginnen Lillys Hände plötzlich zu leuchten. Sie bewegt sie schnell auf und ab, als schüttele sie etwas, und das Glühen wird stärker. Mein Gesicht scheint Bände zu sprechen, denn Lilly lächelt und flüstert: „Glüh-Räupchen.“
Der Keller ist gerade groß genug, um Platz für die Treppe und eine große, schwere Metalltür zu bieten, auf der sich neben einem Griff drei Rädchen befinden.
„Das muss er sein“, flüstert Lilly aufgeregt, „der Eingang zum geheimen Tunnel.“
Ich ziehe an dem Griff, doch die Tür rührt sich nicht.
„Verschlossen“, raune ich, weil ich irgendwie das Gefühl habe, auch mal etwas beitragen zu müssen. „Wir müssen den Schlüssel finden.“
Lilly schüttelt den Kopf. „Das ist ein Kombinationsschloss.“
Erst jetzt entdecke ich die Zahlen und Buchstaben auf den Rädchen. „Okaykay … Glück gehabt. Dann müssen wir einfach nur alle Kombinationen durchprobieren, bis wir die richtige gefunden haben.“
Wieder schüttelt Lilly den Kopf. „So viel Zeit haben wir nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Weißt du, wie viele Möglichkeiten es gibt?“
Ich schaue wieder auf die Rädchen. Auf jedem befinden sich vier Buchstaben und vier Zahlen. „Nein … Wie viele denn?“
Lilly starrt ebenfalls die Rädchen und ihre Beschriftungen an. „Viel zu viele“, verkündet sie schließlich, und das beeindruckt mich noch mehr als jede Zahl der Welt, weil Lilly die Beste im Rechnen ist. Zumindest von den Mädchen.
„Dann hat Kuckuck Rosenzopf die richtige Kombination bestimmt irgendwo aufgeschrieben“, flüstere ich.
Lilly sieht mich zweifelnd an. „Meinst du?“
„Er wohnt ganz alleine hier draußen. Ich meine, was ist denn, wenn er die Kombination mal vergisst? Dann kann er doch keinen fragen.“
„Das ist eine ungeheure Frechheit!“, krächzt plötzlich eine Stimme.
Wir wirbeln herum, und Lilly lässt vor Schreck die beiden Glüh-Räupchen fallen.
In der Ecke unter der Treppe steht, auf einen Stock gestützt, ein kleiner, alter Mann. „Ich vergesse nie etwas“, sagt er im scharfen Ton. „Nie!“
„Wer … wer sind Sie?“, stoße ich hervor.
„Man nennt mich Kuckuck Rosenzopf.“
Die Glüh-Räupchen kriechen aufgeregt über den Kellerboden und lassen die Schatten des alten, gebeugten Manns gespenstisch über die Wände tanzen.
„Seit dem Mittag wart ihr im Wald und habt gewartet“, sagt Kuckuck Rosenzopf und sein Gesicht bekommt einen listigen Ausdruck. „Ihr dachtet wohl, ich sehe euch nicht. Aber ich sehe alles. Diese alten Augen sehen weit mehr, als ihr vermutet.“
Er tritt einen Schritt aus der dunklen Ecke heraus.
„Es tut uns leid, wir wollten wirklich nicht –“, beginnt Lilly.
„Mich interessiert nicht, was ihr nicht wolltet“, schneidet ihr Kuckuck Rosenzopf das Wort ab. Auch bei näherer Betrachtung hat er keinerlei Ähnlichkeit mit einem Kuckuck, und sein rotes Gewand ist das Einzige, was entfernt an Rosen erinnert. Gut möglich, dass er als junger Mann seine Haare zu einem Zopf gebunden hat, doch jetzt sind sie zu kurz und auch zu wenige dafür. „Mich interessiert nur, warum ihr hier seid“, bringt er seinen Satz zu Ende. „Und warum ihr auf die andere Seite wollt.“
Ich suche nach einem Grund, den er nicht ablehnen kann, nach einem Grund, der ihm gar keine andere Wahl lässt, als uns über die Grenze zu lassen, aber mir will einfach keiner einfallen. Zudem habe ich das unbestimmte Gefühl, dass Kuckuck Rosenzopf den wahren Grund bereits kennt, also sage ich: „Ich suche nach meinen Eltern.“
Kuckuck Rosenzopf nickt. „Das ist ein guter Grund. Aber ich kann euch trotzdem nicht auf die andere Seite lassen.“
Ich fühle mich, als hätte mir jemand in den Magen geboxt. „Warum nicht?“
„Alles in Lichtwiese hat seinen Grund. Alles hat seine Ordnung. Wenn jemand von der anderen Seite zurückkehrt, gefährdet es diese Ordnung.“
„Es gibt noch einen anderen Grund“, sagte Lilly. „Unser Freund …“
„Unser Freund ist in den Abgrund gefallen“, sage ich. „Wir müssen ihn retten!“
Kuckucks Rosenzopfs Gesichtsausdruck verändert sich. Er sieht besorgt aus. „Ihr würdet ihn sowieso nicht finden. Auf der anderen Seite regiert das Chaos. Wir können nur hoffen, dass euer Freund seinen Weg von alleine zurückfindet. Es gibt keine andere Möglichkeit.“
Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, also sage ich: „Aber wir müssen über die Grenze!“ Und Lilly fügt hinzu: „Bitte, bitte, bitte!“
Kuckuck Rosenzopf schüttelt nur den Kopf. „Es gibt keine andere Möglichkeit“, sagt er noch einmal. „Geht jetzt. Dies ist kein Ort für Kinder.“
Doch ich kann nicht gehen. Selbst wenn ich es wollte, ich bin unfähig, mich zu bewegen. Ich kann einfach nicht aufgeben. Wahrscheinlich weiß Kuckuck Rosenzopf auch das, denn er nimmt mich am Arm und sagt: „Ich bringe euch hinaus.“ Dann erstarrt er plötzlich. Seine Augen weiten sich und sein Griff um meinen Arm wird fester.
„Was ist los?“, fragt Lilly. „Was haben Sie?“
Kuckuck Rosenzopf beginnt zu zittern.
„Dodo, was ist los?“, fragt Lilly.
Seine knochigen Finger krallen sich in mein Fleisch, und jetzt bekomme ich es auch mit der Angst zu tun. „Ich weiß es nicht. Ich hab gar nichts gemacht!“
Kuckuck Rosenzopf presst seine Augen zusammen und schüttelt immer wieder seinen Kopf. Dann gelingt es ihm, mich loszulassen. Er taumelt zurück. „Es tut mir leid, es tut mir leid.“ Er stützt sich mit beiden Händen auf seinen Stock und atmet so schwer, dass ich befürchte, er könne ohnmächtig werden. „Es … ist in Dodo …“
„Was ist in mir?“, frage ich und massiere meinen Oberarm. „Wovon sprechen Sie?“
„Ein Geheimnis … und eine Entscheidung.“ Er schaut auf. „Beides zu groß, als dass es in dir bleiben könnte. Die Konsequenzen wären nicht abzusehen.“
Erschöpft legt er seinen Kopf auf die Hände.
„Das heißt, Sie lassen uns über die Grenze?“, fragt Lilly.
Sein Nicken ist nur zu erahnen.
„Dann geben Sie uns die Kombination“, sage ich. „Wir brauchen nur die Kombination.“
„Nein, braucht ihr nicht“, entgegnet Kuckuck Rosenzopf schwach.
„Aber die Tür ist verschlossen“, sagt Lilly.
„Nur für die, die sie nicht passieren können.“
Ich verstehe nicht, was das bedeuten soll, aber Lilly sagt: „Versuch‘s noch mal, Dodo!“
Ich schaue sie fragend.
„Die Tür, Dodo! Versuch noch mal, Sie zu öffnen.“
Dieses Mal schwingt sie mit einem hellen Quietschen auf.