Tief nach unten

Die Treppe war steil und die Stufen waren schmal, weshalb ich nie mehr als eine auf einmal nahm. Elenor krallte sich am Stoff meines T-Shirts fest und hatte sichtlich Mühe, bei der ganzen Schaukelei die Balance zu halten. Das Licht wurde zunehmend spärlicher. Als vor mir nur noch Finsternis war, blieb ich stehen und sagte: „Wir brauchen eine Lampe. Wer weiß, wie lang die Treppe noch ist ...“

„Ach, es ist dunkel da draußen?“, fragte Strom-Tom. „Sag das doch!“

„Wieso?“, fragte ich in die Schwärze.

„Na, weil ich der Strom-Tom bin! Achtung, jetzt kitzelt es vielleicht ein bisschen.“

Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper, und der schmale Treppengang erstrahlte in rötlichem Licht.

„Wie … wie hast du das gemacht?“ Verwirrt schaute ich mich nach der Lichtquelle um, und dann entdeckte ich sie auch: Mein Bauch glühte. Er glühte von innen heraus, als hätte ich eine Taschenlampe verschluckt.

„Zieh dein T-Shirt hoch“, sagte Strom-Tom. „Dann kommt mehr Licht durch.“

Ich zog mein Shirt bis zur Brust. Der Lichtschein wurde stärker und wechselte in einen warmen Orange-Ton.

„Wahnsinn!“, schnaufte ich. „Ich leuchte!“

„Heb mal den Arm hoch“, sagte Strom-Tom.

„Wieso? Was passiert dann?“

„Dann bist du ein Armleuchter!“

Das Licht flackerte im Rhythmus von Strom-Toms Lachen und auch Elenor zwitscherte vergnügt. Mir hingegen war nicht nach Scherzen zumute. Nicht jetzt. Zuerst mussten wir Omi finden.

Die Treppe endete etwa fünfzig Stufen später vor einer Metalltür, an der sich drei kleine Rädchen befanden. Bei genauerer Betrachtung stellte ich fest, dass auf den Rändern der Rädchen in regelmäßigen Abständen Zahlen und Buchstaben eingraviert waren.

Enttäuscht ließ ich den Kopf sinken. „Das ist ein Kombinationsschloss …“

„Ja, und?“, fragte Strom-Tom.

„Da kommen wir nie rein. Auf jedem Rädchen befinden sich vier Buchstaben und vier Zahlen – weißt du, wie viele Kombinationen das ergibt?“ Ich versuchte, die Zahl im Kopf zu überschlagen, doch Mathe war noch nie meine Stärke gewesen. „Das müssen Tausende sein!“

„Es sind acht hoch drei“, verbesserte mich Strom-Tom. „Also genau 512 Kombinationsmöglichkeiten.“

Dadurch sah ich meine Argumentation jedoch nicht entkräftet, weshalb ich mit einem simplen, aber nicht minder wirkungsvollen „Trotzdem!“ antwortete.

„Du willst jetzt schon aufgeben? Obwohl wir es nicht einmal versucht haben?“

Ich schüttelte meinen hängenden Kopf. „Das hat doch keinen Sinn. Wir müssen einen anderen Weg finden.“

„Vielleicht ist die Tür ja gar nicht abgeschlossen“, entgegnete Strom-Tom nach einiger Bedenkzeit.

Ich schnaufte. „Vielleicht ist sie auch gar nicht aus massivem Metall, sondern aus leckerer Milchschokolade! Vielleicht können wir uns ja einfach hindurchfressen! Das wäre in etwa genauso wahrscheinlich …“

„Woher willst du denn wissen, dass es nicht so ist?“, blaffte Strom-Tom, ohne genauer zu erwähnen, ob er meine Milch-Schokoladen- oder seine Offen-stehen-Theorie meinte.

„Warum sollte jemand ein so kompliziertes Schloss einbauen, um es dann nicht abzuschließen?“, fragte ich zurück und war überzeugt, die Diskussion damit für mich entschieden zu haben. „Kannst du mir das mal erklären?“

„Einen Versuch ist es wert“, schaltete sich Elenor ein.

„Da muss man doch nichts versuchen!“, rief ich in purer Verzweiflung. „Diese Tür ist abgeschlossen. Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand!“

„Nur weil es kompliziert aussieht, heißt das nicht automatisch, dass es auch kompliziert ist“, piepste Elenor. „Und wenn wir es nicht versuchen, können wir alle nur Vermutungen anstellen.“

„Oh Mann! Seid ihr wirklich so naiv?“ Ein weiteres Mal schüttelte ich den Kopf. „Also gut, von mir aus …“ Ich griff nach dem schweren, kalten Metallknauf und zog daran. „Seht ihr?“

Die Tür schwang leichtgängig auf. Ein hämisches Quietschen untermalte diese unerwartete Entwicklung.

„Aber das … aber ich … aber wie …“, fasste ich meine Gedanken zusammen.

„Eigentlich hast du dir gerade eine schöne Portion Strom verdient!“, sagte Strom-Tom. „Aber dein schlechtes Gewissen schmerzt schon doll genug, oder?“

Ich betrachtete eingehend meine Turnschuhe. Sie waren vollständig von einer staubig-klebrigen Panade bedeckt. „Tut mir leid“, sagte ich schließlich. „Ihr hattet recht.“ Ich sah auf. Der Raum hinter der Metalltür war groß, leer und dunkel. „Aber damit hätte doch echt keiner rechnen können!“

„Nicht alles im Leben lässt sich berechnen“, verkündete Elenor mit einem Gurren, was mir für einen Sperling äußerst ungewöhnlich erschien.

„Schon gut, Dodo!“, sagte Strom-Tom. „Ehrlich gesagt, habe ich auch nicht dran geglaubt.“

„Warum hast du dann darauf bestanden, dass wir es probieren?“, fragte ich.

„Weil du anderer Meinung warst“, antwortete Strom-Tom knapp.

Ich schüttelte ein letztes Mal den Kopf und betrat den dunklen, großen, leeren Raum. Ich ging einige Schritte und sah mich um, ohne jedoch etwas Neues zu entdecken. Dafür ertönte hinter mir plötzlich ein vertrautes Quietschen.

„Achtung, die Tür!“, rief Elenor.

Ich wirbelte herum, doch es war bereits zu spät. Mit einem unerwartet schweren Krachen fiel die Tür ins Schloss.

„Verdammt!“, schimpfte Elenor.

„Was ist los?“, fragte Strom-Tom.

„Die Tür ist zu“, sagte ich und stemmte mich gegen das kalte Metall, welches sich von meinen Bemühungen völlig ungerührt zeigte. „Und dieses Mal wirklich. Wir sind hier eingeschlossen.“

„Das ist nicht gut“, sagte Strom-Tom. „Das ist überhaupt nicht gut.“

Der leere, dunkle Raum war nicht nur groß, er war geradezu riesig, wie ich nach einigen ziellosen Schritten in verschiedene Richtungen feststellen musste. Der Lichtstrahl meines Bauches erreichte weder die anderen Wände noch die Decke. Die Finsternis um uns herum schien unendlich zu sein. Sie erinnerte mich an einen Klassenausflug in den Fünf-Finger-Wald, bei dem ich mir beim Versteckspielen so viel Mühe gegeben hatte, dass meine Lehrer ohne mich aufgebrochen waren. Stundenlang war ich allein durch den dunklen Wald geirrt, bis mich schließlich ein Förster gefunden hatte. Plötzlich wurde mir sehr kalt.

„Was machen wir jetzt?“, piepste Elenor zaghaft, als wolle sie die Stille und die Schwärze nicht stören.

„Bestimmt gibt es noch einen anderen Weg“, versuchte ich, uns alle zu beruhigen. „Es gibt immer noch einen anderen Weg. Oder?“

„Wir gehen weiter“, verkündete Strom-Tom mit einem Anflug von Zweckoptimismus. „Das haben wir ja sowieso vorgehabt.“

„Aber in welche Richtung?“, fragte ich.

„Da muss irgendwo noch eine zweite Tür sein.“

„Ich sehe keine.“ Angestrengt starrte ich in die Finsternis am Rande des Lichtscheins. „Es ist zu dunkel.“

„Mehr Licht geht nicht“, entgegnete Strom-Tom. „Das würdest du nicht überleben.“ Er überlegte. „Geh einfach drauflos! Früher oder später werden wir die Tür schon finden.“

„Aber bitte lasst uns vorsichtig sein“, tschilpte Elenor und schwang sich mit schnellen Flügelschlägen empor. Anscheinend war es ihr auf meiner Schulter nicht mehr sicher genug.

Glücklicherweise stellte sich heraus, dass der dunkle, leere Raum doch nur ziemlich groß, aber keinesfalls riesig war, denn bereits nach fünf zaghaften Schritten in dieselbe Richtung schälte sich die gegenüberliegende Wand aus der Dunkelheit.

„Hier ist eine Mauer.“

„Na bitte“, sagte Strom-Tom.

„Und ein Knopf“, fügte ich hinzu. Er war knallrot, etwa untertellergroß und befand ich sich in optimaler Druckhöhe mitten in der Wand.

„Fass den bloß nicht an!“, zirpte Elenor, während sie um meinen Kopf herumflog.

Doch es war schon zu spät. Ich zog meinen Finger aus der Vertiefung, in die ich die leuchtend rote Scheibe hineingedrückt hatte und murmelte: „Tschuldigung …“

„Warum hast du das gemacht? Wir wissen doch gar nicht, wofür der ist!“

„Er war einfach zu rot …“, war das Einzige, was ich zu meiner Verteidigung vorzubringen hatte.

„Was ist denn da draußen los?“, wollte Strom-Tom wissen.

Ich wartete. Nichts passierte. Also sagte ich: „Nichts. Nichts passiert.“

Elenor ließ sich wieder auf meiner Schulter nieder. „Gutgut, da haben wir noch mal Glück gehabt.“ Sie plusterte ihren kleinen gelben Leib auf. „Dich kann man aber auch nicht für fünf Sekunden aus den Augen lassen!“

„Manche Dinge im Leben lassen sich nicht berechnen“, entgegnete ich, kam mir jedoch bei Weitem nicht so gewitzt vor, wie ich es erhofft hatte.

„Ab jetzt wird nichts mehr einfach so gedrückt!“, zwitscherte Elenor. „Okay, Dodo?“

„Ja, okay …“, lenkte ich ein.

„Los jetzt, weiter!“, sagte Strom-Tom. „Ich will hier drinnen nicht übernachten.“

„Das kann dir doch eigentlich egal sein“, entgegnete ich. „Du bist so oder so in meinem Bauch.“

Davon abgesehen, hatte er aber recht. Wir mussten weiter. Also wandte ich mich nach rechts, glotzte in die Schwärze, wandte mich nach links, glotzte in die Schwärze, drehte mich abermals um und ging schließlich an der Wand entlang. Es dauerte nicht lange, bis mein Lichtschein auf eine Vertiefung in der Mauer fiel.

„Hier ist die andere Tür“, sagte ich erleichtert und blieb stehen. Sie sah der Metalltür, durch die wir hineingekommen waren, zum Verwechseln ähnlich.

„Ist sie verschlossen?“, fragte Strom-Tom.

„Weiß ich doch nicht“, antwortete ich schulterzuckend. „Ich darf ja nichts mehr drücken.“

„Nicht mehr einfach so“, korrigierte Elenor piepsend.

„Vielleicht haben wir ja wieder Glück“, sagte Strom-Tom. „Einen Versuch ist es wert.“

„Aber vorsichtig!“, zirpte Elenor.

Ich legte meine Hände auf das kalte Metall. Die Tür quietschte nicht einmal, als ich sie aufdrückte. Ich blinzelte dreimal schnell hintereinander und ein schwaches „Wahnsinn …“ entwich meinem Mund.

„Was denn?“, fragte Strom-Tom.

Elenors Kopf ruckte aufgeregt hin und her. „Wo sind wir?“