Wo sind wir?

Ich öffnete meine Augen und blinzelte in ein grelles Licht.

„Er ist wach“, sagte die alte Frau und hörte auf, an meiner Schulter zu rütteln.

Erschrocken riss ich meine Augen so weit auf, dass es wehtat, und schob mich im Krebsgang an der kalten Wand entlang, bis ich die Ecke erreichte. „Wer sind Sie?“

„Ganz ruhig“, sagte die alte Frau und trat einen Schritt zurück. Sie war klein und sah aus, als hätte sie die letzte Woche in der Badewanne verbracht. Ihre Haut war von einem Meer aus kleinen Falten überschwemmt. Von ihrem Kopf standen graue Locken ab.

„Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten“, sagte sie, erreichte damit jedoch nur, dass ich mich noch tiefer in der Ecke drängte und meine Knie an den Körper presste.

„Wo bin ich?“, fragte ich und sah mich hektisch um. Mit wenigen Blicken erkannte ich einen fensterlosen Raum mit niedriger Decke. Die Wände waren genauso wie Decke und Boden weiß gekachelt, so dass lediglich die Schwerkraft es ermöglichte, oben und unten auseinanderzuhalten – wobei im Notfall die kleine schwarze Tür in der Ecke vielleicht auch noch einen brauchbaren Anhaltspunkt geliefert hätte. Die Kacheln selbst waren groß, matt und schienen von innen zu leuchten. Abgesehen von dem Glimmen erinnerten sie an übergroße Badezimmerfliesen.

Eine Zelle, dachte ich. Ein Kerker. Ein Operationssaal.

„Wo … wo … wo bin ich?“, stotterte mein Mund.

„Das wissen wir nicht“, krächzte die alte Frau und verzog das Gesicht. Ihre Wangen erinnerten an zerknülltes Silberpapier.

„Wo bin ich?“, fragte ich wieder, da es mir schwerfiel, mehr als zwei Silben am Stück zu verstehen. Mit dem Fragen hingegen klappte es schon ganz gut.

„Wir hatten gehofft, dass du uns das verraten könntest“, sagte eine warme, weiche Stimme. Erst jetzt entdeckte ich die große Frau, die in der schräg gegenüberliegenden Ecke des Raums stand. Ihre Haut war genauso makellos wie ihre Stimme und zugleich so hell, dass ihre Gestalt mit der Wandverkleidung zu verschmelzen schien. Ganz still stand sie da mit geraden Schultern, das Kinn ein wenig zur Seite gedreht. Wie eine griechische Statue.

„Wie heißt du?“, fragte sie.

„Ich?“, fragte ich zurück, während ich mit beiden Händen den Dachboden meines Verstands durchwühlte. „Ich … ich weiß es nicht.“ Hilfesuchend sah ich von der Faltenfrau zur griechischen Statue und wieder zurück. „Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern!“

„Das geht uns genauso“, entgegnete die Faltenfrau. Sie beugte sich vor und lächelte, was zwei Reihen kleiner, elfenbeinfarbener Zähne zum Vorschein brachte. „Wir tun dir nichts. Du musst wirklich keine Angst haben.“

„Hab ich auch gar nicht“, entgegnete ich, entschied mich aber trotzdem dafür, noch etwas länger mit angezogenen Knien in der Ecke zu hocken. „Wer hat uns hier eingesperrt? Und warum überhaupt?“

„Auch das wissen wir nicht“, sagte die Statue und stellte sich in die Mitte des Raums. „Als wir zu uns kamen, war die Tür verschlossen. Wir riefen nach Hilfe, doch es hat niemand geantwortet.“

Mein Verstand klarte allmählich auf, was ich sogleich für einige Überlegungen nutzte. „Aber es muss doch einen Grund dafür geben, dass wir hier sind. Ich meine, es wird ja niemand grundlos eingesperrt!“ In meinem momentanen Zustand hörte sich das durchaus logisch an. Meine Knie begannen zu schmerzen. Ungelenk stand ich auf. „Es muss also einen Grund geben“, sagte ich, um den Faden nicht zu verlieren, und stützte mich an der Wand ab, weil mir schwindelig wurde. „Und den … den müssen wir herausfinden!“

„Ich kann mich an nichts erinnern“, sagte die Faltenfrau mit brüchiger Stimme. „An rein gar nichts.“ Sie senkte den Blick. Auf einmal sah sie so klein und zerbrechlich aus, dass ich sie gerne in den Arm genommen hätte.

„Wir finden schon raus, was passiert ist“, sagte ich leise und wischte mir über die Augen. Der Schwindel legte sich.

„Dodo?“, erklang plötzlich eine dumpfe Stimme.

Die Faltenfrau sah mich mit großen Augen an. Ihr grauer Lockenkopf ruckte herum und spähte in jede Ecke unserer gut beleuchteten Zelle, obwohl es da rein gar nichts zu sehen gab außer den kahlen Wänden und der verschlossenen Tür.

„Was war das?“, fragte die Statue, ohne eine Miene zu verziehen.

„Woher soll ich das wissen?“, fragte ich zurück.

„Hallo?“, fragte die dumpfe Stimme.

Die Faltenfrau starrte jetzt mich an. Ihr Blick glitt an mir herab. „Das kommt aus deinem Bauch!“

„Mein Bauch ist völlig leer“, sagte ich und trat einen Schritt zur Seite, doch die kleinen, blitzenden Augen folgten mir.

„Hey, Dodo, kannst du mich hören?“, fragte die Stimme.

„Das kommt tatsächlich aus deinem Bauch“, stellte die Statue ungerührt fest.

Sie hatten recht. Der Ursprung der Stimme lag ganz eindeutig irgendwo zwischen meinem Hosenbund und meinem Brustkorb. Ich klopfte mein T-Shirt ab, ohne jedoch einen Lautsprecher oder ähnliches entdecken zu können. Also sagte ich: „Äh, ja, wir … wir können dich hören.“

„Ampere sei Dank!“, rief die Stimme. „Geht es dir gut, Dodo?“

Ich sah von der Faltenfrau zur Statue und wieder zurück. Niemand fühlte sich angesprochen, also antwortete ich: „Ja … doch … schon …“

„Gutgut“, sagte die Stimme. „Ich dachte schon, bei dir wären alle Sicherungen durchgebrannt. Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“

„Tschuldigung“, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, worum es ging, und glotzte weiterhin irritiert in die Runde.

„Kann es sein, dass du Bauchredner bist?“, fragte die Statue.

„Aber ich mach doch gar nichts“, hielt ich dagegen.

„Das stimmt“, pflichtete mir die Faltenfrau bei. „Deine Lippen haben sich überhaupt nicht bewegt.“

„Aber ich mach doch wirklich nichts!“, versuchte ich zu erklären. So langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. „Das ist mein Bauch, der da spricht – nicht ich!“

„Was ist denn da draußen bei euch los?“, wollte die Stimme wissen.

„Sehen Sie?“, fragte ich und zeigte auf meinen Bauch, obwohl es da überhaupt nichts zu sehen gab.

„Wirklich sehr beeindruckend“, kommentierte die Faltenfrau.

„Aber ich …“ Ich schüttelte den Kopf und verstummte.

„Wenn wir mehr über dein bisheriges Leben herausfinden, erfahren wir auch, warum du hier bist“, sagte die Statue. „Also, konzentrier dich!“

„Bestimmt hast du mal im Zirkus gearbeitet“, vermutete die Faltenfrau.

„Ich hab nie in einem Zirkus gearbeitet!“, rief ich voller Verzweiflung. „Das ist mein Bauch, der da redet! Mein Bauch! Verstehen Sie?“

Die Faltenfrau sah mich erschrocken an. „Ist ja gut, mein Junge. Ich hab‘s nicht böse gemeint.“

„Wollt ihr mich veräppeln?“, fragte mein Bauch. „Ich bin‘s doch! Der Strom-Tom!“

„Red mit ihm“, sagte die Statue. „Vielleicht kann uns dein Bauch mehr über dich erzählen.“

Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte ich. Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht. Und dieses Gefühl kam mir auf einmal seltsam vertraut vor.

„Okay …“, sagte ich und atmete tief durch. „Hallo, Bauch.“

Ein tiefer Seufzer hallte meine Speiseröhre hinauf. „Oh, Mensch, Dodo … du warst ja schon vorher nicht der Hellste, aber jetzt wird es wirklich anstrengend mit dir.“

„Entschuldigung“, sagte ich und fühlte mich tatsächlich schlecht, weil ich nicht besser auf mein Gedächtnis aufgepasst hatte.

„Du heißt also Dodo“, stellte die Statue fest. „Das ist doch schon mal ein Anfang.“

„Verdammte V2-Box“, brummte mein Bauch. „Also gut, jetzt passt mal alle schön auf. Ich will das nämlich nicht zweimal erzählen müssen.“ Er macht eine Pause. „Ich bin der Strom-Tom, und ich befinde mich im Magen von Dodo. Die Frau mit der schönen Stimme ist Tante Hablieblieb und die Frau mit der alten Stimme ist Omi.“

„Was erlaubst du dir?“, fragte die Faltenfrau. „Ich bin doch nicht alt!“

„Sie sind Dodos Omi“, beharrte mein Bauch.

„Dodos Omi?“, echote ich und glotze die Faltenfrau an, welche ihrerseits mit einer Mischung aus Skepsis und Unglauben zurückstarrte.

„Ja“, sagte mein Bauch, „das ist deine Omi, Dodo.“

„Na gut“, sagte die Statue, „jetzt haben wir zumindest schon mal Namen für uns. Ob es unsere richtigen sind, können wir immer noch herausfinden.“ Sie wandte sich wieder an meinen Bauch. „Kannst du uns sagen, wie wir hierhergekommen sind?“

„Und ob ich das kann“, entgegnete Strom-Tom. „Der Chef hat uns gefangengenommen, weil wir versucht haben, den gestreiften Löffel zurückzuholen.“

Dann erzählte er uns die ganze Geschichte von Anfang an. Er berichtete, wie er in der Telefonzelle draußen an den Bahngleisen in meinen Mund gesprungen war. Er beschrieb, wie wir die alte Eis-Friedel getroffen hatten und über die Grenze gegangen waren. Er schwärmte von Lichtwiese und von unserer ersten Begegnung mit Elenor. Er schilderte, wie wir den rot-gelb gestreiften Löffeln gestohlen und gleich darauf hatten erkennen müssen, einen großen Fehler begangen zu haben. Er erzählte von unser Suche nach Omi, von dem vergifteten Löffel, von unserem Postboten Herrn Langlöffler, der Projektion Steinbrücker Teich Version 3.2 und davon, wie wir letztendlich doch noch erkannt hatten, dass wir die ganze Zeit über in einem riesigen Holo-Raum gefangen gewesen waren. Und er berichtete auch davon, wie wir in eine Welt zurückgekehrt waren, die nicht mehr dieselbe war, und wie uns die Soldaten gefangengenommen hatten.

„Das hört sich ja alles ganz spannend an“, sagte Tante Hablieblieb. „Aber warum kann sich keiner von uns daran erinnern?“

„Wegen der V2-Box“, sagte Strom-Tom. „Mit dem Ding haben die eure Gehirne angezapft, um eure Erinnerungen zu extrahieren. Und dabei dann anscheinend auch gleich alles gelöscht. Mich haben sie als Einzigen nicht erwischt, weil ich ja in Dodos Bauch war.“

Ich warf einen Blick in den Dachboden meines Verstandes, welcher plötzlich erschreckend leer war. „Und wo sind meine Erinnerungen jetzt?“

„Sehr wahrscheinlich auf einer externen Volatil-Memorybox.“

„Woher weißt du das alles?“, schaltete sich Omi ein.

„Ganz einfach“, entgegnete Strom-Tom. „Während Dodo über die V2-Box am Hauptrechner angeschlossen war, hab ich mich mal mit meinen Kontakten an deren Intranet drangeklemmt und dabei eine Menge interessanter Dinge erfahren.“

„Dann weißt du doch sicherlich auch, wie wir hier rauskommen können, oder?“, fragte Tante Hablieblieb.

„Ja, das auch“, sagte Strom-Tom. „Aber lass mich doch erst mal erzählen.“

„Ich fürchte, uns fehlt die Zeit für noch eine lange Erzählung.“

„Nee, wir haben genug Zeit. Ist doch sowieso schon alles viel kürzer als beim letzten Mal. Außerdem sind solche Hintergrund-Informationen doch wichtig. Gerade für den Leser.“

„Für welchen Leser denn?“, fragte Omi, doch Strom-Tom antwortete nicht darauf.

Ich zuckte mit den Schultern. „Von mir aus.“

„Wenn es denn unbedingt notwendig ist“, seufzte Tante Hablieblieb.

„Gutgut. Aber mach erst mal einen Seitenumbruch. Das Kapitel wird sonst zu lang.“