Im Kubotel
Die Eingangstür schloss sich mit einem Geräusch, als plane sie nicht, sich in absehbarer Zeit noch einmal zu öffnen. Die Lobby war in schummriges Licht getaucht. Rot-flauschiger Teppich flutete alle Höhen und Tiefen. Aus einem angrenzenden Raum klimperte Jazzmusik. Wir wateten zur Rezeption hinüber, wo eine Empfangsdame blau leuchtete. Auch das Kostüm, das sich knalleng über ihre metallenen Rundungen spannte, war blau. Nur die wasserstoffblonde Perücke auf ihrem Kopf bildete einen Kontrast.
„Herzlich Willkommen im Kubotel, die Herrschaften!“ Ihre Stimme schwamm zwischen Honig und Zigarrenrauch. „Hatten Sie eine angenehme Reise?“
„Geht so“, sagte ich, weil eine ehrlichere Antwort zu unhöflich gewesen wäre.
Die Rezeptionistin bohrte nicht weiter nach. „Ich bin Madame Blue und stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“ Ihr linkes Auge schloss sich zu einem Zwinkern. „Möchten Sie erst Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer bringen, oder gleich auf einen kleinen Coco-Poco-Cocktail in die Bar gehen?“
„Wir reisen ohne Gepäck“, sagte Agerian.
„Dann würde ich Ihnen die Bar empfehlen.“ Sie schob ihren Körper hinter der Rezeption hervor. „Bitte folgen Sie mir.“
Mit erstaunlicher Leichtigkeit tippelten die beiden Metallpfeiler, die aus dem Minikleid ragten, durch die Lobby, drei Stufen hinauf und einen kurzen Flur hinunter. Die Musik wurde lauter. Decke und Wände der Bar waren vollständig verspiegelt, so dass es unmöglich war, Größe oder Form des Raums abzuschätzen. Alles kam ständig aufeinander zu, verschmolz und brach wieder auseinander. Mir war schwindelig, noch bevor wir den Tresen erreicht hatten.
„Bitte, meine Herren.“ Madame Blue wies auf die Barhocker. „Hier ist noch ein Plätzchen für Sie frei.“ Mit gleichmäßig rotierenden Bewegungen wickelte sie eine Kunsthaarsträhne um ihren Finger. Ich versuchte, nicht zu lange hinzusehen, was sich aufgrund der Spiegel als äußerst schwer erwies.
„Danke“, sagte Agerian.
Madame Blue schenkte ihm ein quietschendes Lächeln und hauchte etwas in sein Ohr. Dann stolzierte sie davon.
Ich klammerte mich an den Tresen und zählte die Böden des riesigen Bar-Regals, welches eine der wenigen nicht verspiegelten Flächen darstellte. Ich hatte nicht einmal den zweistelligen Bereich erreicht, als ein Roboter hinter der Theke fragte: „Was darf‘s denn sein, Jungs?“ Er trug einen Smoking mit Fliege und hatte geriffelte Getränkeschläuche anstelle von Fingern, sah aber ansonsten ganz normal aus.
„Sie haben ja acht Arme!“, berichtigte Agerian meine erste Einschätzung.
„Seid froh, dass ihr meine Beine nicht sehen könnt!“ Der Barkeeper-Roboter lachte. „Wie wär‘s mit einem spritzigen Kalimbo-Crasher? Oder vielleicht einem Bookbinder?“
„Danke, wir … wir überlegen noch“, sagte Agerian.
„Gerne doch“, entgegnete der Barkeeper und surrte davon.
Das Karussell in meinem Kopf wurde langsamer, so dass ich es wagen konnte, mich ein wenig umzuschauen. Ich drehte den Kopf und erstarrte. Irgendwo in dem Teil des Raums, den ich für das Ende hielt, befand sich eine kleine Bühne, auf der neben einem Klavier eine überdimensionale Voliere stand. In dem Käfig saß zusammengesunken ein Mädchen mit dunkelbraunen Haaren.
„Dodo, was ist denn?“, fragte Agerian. „Du bist ja kreidebleich!“
„Da vorne …“ Ich streckte den Arm aus. Mit der anderen Hand hielt ich mich wieder am Tresen fest. „Das ist Elenor …“
Ein kräftiger Mann mit Eisenmaske trat an den Käfig und zog an der Kette, die um Elenors Fußgelenk gebunden war. Sie rührte sich nicht, woraufhin der Mann kräftiger an der Kette zog. Ich stand auf.
Mit erstaunlicher Leichtigkeit drückte mich Agerian zurück auf den Barhocker. „Tu das nicht, mein Freund.“
„Wir müssen ihr helfen!“
„Nicht hier und nicht jetzt“, flüsterte Agerian. „Der Maskenmann ist nicht ihr einziger Bewacher.“
Ich suchte den Raum ab, mit dem einzigen Ergebnis, dass ich Kopfschmerzen bekam. Auf einmal standen zwei große Gläser vor uns, deren Inhalt aussah, als habe man Buttermilch und Allzweckreiniger zusammengemixt.
„Hier, Jungs, bitte schön“, sagte der Barkeeper, „eure Kalimbo-Crasher.“
„Wir haben doch noch gar nicht bestellt“, sagte Agerian.
„Das ist von dem netten Herrn da hinten an Tisch 23.“
Einer der Schlaucharme zeigte auf eine Sitzecke, von der uns ein Mann in einer blauen Uniform zuprostete. Vor ihm auf dem Tisch stand ein großes Cocktailglas. Daneben lag seine Postmütze.
„Herr Langlöffler!“, stieß ich hervor.
„Du kennst den Mann?“, fragte Agerian.
„Ja. Das war unser Briefträger.“
Wir nahmen unsere Gläser, gingen hinüber und versanken in roten Polstern.
„Hallo Dodo“, sagte Herr Langlöffler und lächelte. „Schön, dich zu sehen.“
„Was machen Sie denn hier??“, fragte ich. Das vertraute Gefühl der völligen Ahnungslosigkeit machte sich in meinem Kopf breit.
„Wahrscheinlich das Gleiche wie du“, entgegnete Herr Langlöffler. „Eines Morgens standen diese seltsamen Soldaten vor meiner Tür, nahmen mich fest und brachten mich nach Dunkelstadt. Später wurde ich dann nach San Platino verlegt.“
„Das heißt, das hier ist ein Gefängnis?“
„Nein, so kann man das nicht sagen. Wir sitzen halt rum und warten auf den großen Tag. Gibt ja sonst nicht viel zu tun. Seht ihr die Anzeigetafel über der Bar? Die mit der Elf darauf?“
Wir drehten die Köpfe. Ich sah keine Elf, auch keine Anzeigetafel, sagte aber trotzdem: „Ja, klar …“ Dann starrte ich wieder zu Elenors Käfig hinüber.
„Elf Tage müssen wir noch warten. Dann wissen wir, was man mit uns vorhat.“ Herr Langlöffler nahm einen großen Schluck von der gegorenen Milch mit Haushaltsreiniger. Dann fragte er: „Du kennst sie?“
Ich sah ihn an.
„Das Mädchen“, sagte er und nickte zum Käfig hinüber. „Elenor.“
„Woher kennen Sie Elenor?“, fragte ich zurück.
Er wischte sich über den Mund. „Jeder hier kennt sie. Sie singt jeden Abend. Das arme Ding wird ausgestellt wie ein Tier im Zoo.“
„Wenn du vorhast, sie zu befreien …“, sagte Herr Langlöffler. „Das könnte schwierig werden. Sie wird rund um die Uhr bewacht. Aber …“ Er schaute über seine Schulter und senkte die Stimme. „Vielleicht könnte ich euch helfen.“
„Wie?“, fragte ich.
„Weißt du noch, wie ich dir und deiner Omi immer die Post gebracht habe?“
Ich nickte. „Ja, natürlich.“
„Du kannst dich also an alles erinnern?“ Er sah mich seltsam an. Irgendwie prüfend, aber zugleich so, als kenne er die Antwort bereits.
Wieder nickte ich.
„Sehr gut. Hier in San Platino bin ich nämlich ebenfalls für die Post zuständig. Und zwar für die stille Post.“ Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, so dass Agerian und ich gezwungen waren, uns nach vorne zu lehnen. „Ich habe meine Ohren überall. Ich erfahre so allerhand Dinge. Und ich weiß so einiges über deine kleine Freundin Elenor.“
„Das heißt, Sie werden mir helfen?“, fragte ich.
„Ich erzähle dir, was ich weiß. Weil du es bist.“ Er zwinkerte mir zu. „Den Rest müsst ihr selbst erledigen.“
„Okay.“
„Nach dem Auftritt bringen die Wachen den Käfig deiner Freundin in den Gepäckraum des Wüstenwurms C-25. Das ist eine Art Zug. Der Hauptbahnhof befindet sich genau unter uns. Direkt unter dem Kubotel.“
„Und was ist mit den Wachen?“, schaltete sich Agerian ein.
„Die haben frei bis zum nächsten Morgen, wenn sie den Käfig wieder ins Hotel tragen müssen. Natürlich ist der Teil des Bahnhofs, wo die Wüstenwürmer stehen, nicht frei zugänglich. Aber es gibt einen Weg dorthin. Durch das Belüftungssystem. Zumindest wurde mir das so erzählt.“ Er sah von Agerian zu mir und wieder zurück. „Und? Könnt ihr damit was anfangen?“
„Ja“, flüsterte ich. „Noch heute Nacht befreien wir Elenor.“
„Gut“, sagte Herr Langlöffler und lächelte zufrieden. „Ich zeichne euch den Weg am besten auf.“ Er zog die Serviette unter seinem Cocktailglas hervor. In seiner rechten Hand steckte plötzlich ein Kugelschreiber. „Nicht, dass ihr euch nachher noch verlauft.“ Noch immer lächelte er.