Das fremde Mädchen

Glücklicherweise war das bunt schillernde Dickicht bei Weitem nicht so undurchdringlich, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Überall zwischen den Stämmen, Blättern und Blüten gab es versteckte Pfade, die jedoch offensichtlich nicht von Menschenhand geschaffen worden waren. Vielmehr sah es so aus, als hätten die Pflanzen dieser fremdartigen Welt aus Rücksicht auf diejenigen, die auf ihre zwei bis zwölf Beine angewiesen waren, etwas Platz gelassen.

Ich schlängelte mich entlang der schmalen Wege, während Strom-Tom nicht müde wurde, mich auf mögliche Gefahren hinzuweisen. Schließlich kamen wir an eine Abzweigung, in deren Mitte ein kleiner, dicker, grün melierter Vogel saß. Als er mich bemerkte, plusterte er sich auf und sein runder Bauch färbte sich purpurfarben.

„Was für ein schöner Vogel“, sagte ich.

„Kann der uns fressen?“, fragte Strom-Tom.

„Ach Quatsch! Der ist viel zu klein.“

„Für dich vielleicht …“

„Ich pass schon auf dich auf.“

Der Vogel mit dem purpurfarbenen Bauch öffnete seinen kleinen Schnabel und zirpte. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber es klang wie „Dodo, Dodo“. Dann spreizte er seine Flügel – welche verglichen zu seinem voluminösen Körper sehr kurz und mickrig wirkten – und erhob sich, allen physikalischen Gesetzen trotzend, in die Höhe. Er stieß noch einmal sein helles Zirpen aus, „Dodo!“, flog einige schnelle Runden um meinen Kopf herum und verschwand dann hinter der nächsten Biegung. Und ich lief ihm hinterher.

„Warum läufst du?“, fragte Strom-Tom besorgt.

„Ich will nur sehen, wohin er fliegt.“

„Tu das nicht! Er will uns bestimmt in eine Falle locken!“

„Du Schisser!“, entfuhr es mir und ich schämte mich sogleich für den Ausdruck. „Ich will doch nur mal gucken.“

„Und was ist, wenn er auf einen Baum fliegt? Was dann, du Schlaumeier?“

„Jetzt stell dich nicht so an. Ich hab ein gutes Gefühl dabei.“ Ich drückte mich an einer Gruppe dunkelroter Sonnenblumen vorbei und fühlte mich fantastisch.

„Ein gutes Gefühl, ein gutes Gefühl“, äffte Strom-Tom mich nach. „Hör nicht auf dein Gefühl – benutz lieber deinen Verstand! Wenn du überhaupt einen hast ...“

„Jetzt lass uns nicht streiten“, sagte ich. „Wenn du den Vogel gesehen hättest –“

Ich verstummte und blieb genauso abrupt stehen, wie der Urwald geendet hatte. Vor mir lag auf einmal eine Lagune. Das türkisfarbene Wasser war absolut ruhig und die Oberfläche so glatt, dass die palmenähnlichen Gebilde am Ufer sich darin spiegelten. Es sah aus, als würden die Palmen in die Lagune hineinwachsen.

„Endlich hast du Vernunft angenommen“, kommentierte Strom-Tom mein Stehenbleiben.

Ich hörte ein Plätschern und schaute nach rechts. Nicht weit entfernt von mir badete eine junge Frau. Obwohl sie mit dem Rücken zu mir stand, war ich sofort überzeugt davon, dass sie sehr schön war. Darüber hinaus schien sie nackt zu sein. In ihrem dunkel-braunen schulterlangen Haar funkelten Tausende Diamanten. Vielleicht waren es auch nur Wassertropfen.

„Das ist das Paradies“, hauchte ich leise.

„Das ist ja eine Frechheit!“, rief die junge Frau dafür umso lauter. „He! Dreh dich sofort um!“

Ich blinzelte dreimal schnell hintereinander und stammelte: „Entschuldigung, ich, äh … Entschuldigung.“ Mehr fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Frauen gegenüber weiß ich nie genau, was ich sagen soll.

„Dreh dich gefälligst um!“, rief die junge Frau wieder.

„Äh, ja, natürlich, ich …“, sagte ich und wandte ihr den Rücken zu.

„Was ist denn los?“, erkundigte sich Strom-Tom.

„Nichts“, flüsterte ich. „Sei ruhig!“

„Ist noch jemand bei dir?“, fragte die junge Frau hinter mir.

„Was? Nein, nein, ich … ich bin allein.“

„Ich komme jetzt raus und ziehe mich an. Nicht umdrehen, hörst du?“

Ich nickte eifrig, „Ja, natürlich“, und starrte auf etwas, das wie eine Kreuzung aus Kokosnusspalme und Kirschbaum aussah.

„Ich bin fertig“, sagte die Frau.

Sie trug jetzt einen rosafarbenen Rock und eine hellgrüne Bluse. Die gelben Gummistiefel wollten nicht so recht dazu passen, trotzdem gefiel mir die Kombination.

„Sag mal, wer hat dich denn erzogen? Du kannst doch nicht heimlich einer jungen Dame beim Baden zusehen!“ Auf ihrer Schulter lag eine einzelne, ebenfalls gelbe Feder. Die junge Frau bemerkte die Feder und pustete sie davon. „Hat es dir etwa die Sprache verschlagen?“, wandte sie sich wieder an mich.

„Nein, ich, äh … also, ich … ich hab dich gar nicht … also schon, aber nicht absichtlich … ich, äh …“, stotterte ich und beendete den Satz schließlich mit: „… rein zufällig hier vorbeigekommen.“

„Aha …“ Die Antwort schien sie nur bedingt zu überzeugen. „Und wo kommst du her? Ich kenne dich gar nicht.“

„Ich? Ähm …“ Ich drehte mich abermals um, suchte nach dem Weg, auf dem ich den Urwald verlassen hatte, fand ihn nicht, zeigte stattdessen in eine ungefähre Richtung und sagte: „Da hinten.“

Die junge Frau musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Zwischen ihren Brauen bildete sich eine kleine Falte. „Und wo genau liegt dieses da hinten?“

„Sag kein Wort!“, zischte Strom-Tom in meinem Bauch.

„Was war das?“

„Ich bin auf der Durchreise“, sagte ich schnell.

„Und wo reist du so durch?“, fragte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich will dich nicht länger quälen.“ Ihr Gesicht hellte sich auf, die Falte zwischen ihren Brauen verschwand. „Willkommen in Lichtwiese! Ich heiße übrigens Elenor.“

„Was für ein schöner Name!“, sagte ich und spürte, wie das Blut in meinen Kopf schoss.

„Danke.“ Elenor lächelte und sah mich an.

Einen Moment lang schwiegen wir.

„Könntest du … könntest du mir vielleicht helfen?“, fragte ich. „Ich suche einen –“

„Ja, und du?“, unterbrach mich Elenor.

„Und ich?“, fragte ich irritiert.

„Na, wie du heißt.“

„Ach so, ja … entschuldige.“ Meine Wangen glühten. „Ich heiße Dodo.“

Elenor lachte. „Du heißt wirklich Dodo? Wie süß! Klingt wie Dodofonie.“

„Was soll das denn sein?“

„Du bist wirklich nicht von hier“, stellte Elenor fest.

„Nein, ich, äh … nein. Eigentlich nicht.“

„Das muss ich sofort Tante Hablieblieb erzählen. Wie kommen wir denn jetzt am schnellsten in die Stadt?“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich wieder die kleine Falte. „Du bist hoffentlich nicht allergisch?“

„Gegen was denn?“

„Gegen Elefanten.“

„Eine Elefanten-Allergie?“ Ich lachte. „Nicht, dass ich wüsste.“

„Gutgut“, sagte Elenor, steckte Daumen und Zeigefinger in ihren Mund und pfiff. „Halt dich an mir fest.“

„Wieso?“, fragte ich.

Irgendwo in der Ferne ertönte ein tiefes Stampfen.

„Tu es einfach. Vertrau mir.“

Elenor lächelte, und ich legte meine Hände behutsam auf ihre Schultern. Es fühlte sich gut an.

Das Stampfen kam näher.

„Was ist das?“, fragte ich. Meine Stimme hatte einen nervösen Unterton. „Etwa ein Elefant?“

„Nein, nicht direkt …“ Elenor drehte sich zu mir um. „Aber so was Ähnliches.“ Ihr Atem roch nach frisch gepflückter Pfefferminze.

Ich dachte über ihre Antwort nach, während das Stampfen immer lauter wurde. Bunte Vogelschwärme erhoben sich und überall im Dickicht knackte es plötzlich. Der gesamte Urwald war in Aufruhr. Hektisch sah ich mich um, ohne jedoch die Ursache für all die Aufregung ausmachen zu können.

„Oh Gott!“, stieß ich hervor. „Kommt das etwa hierher?“

„Ja, natürlich.“ Elenor war die Ruhe selbst. „Ich hab ihn ja gerufen.“

„Warum hast du das getan?“, rief ich, während Äste zerbrachen, und ihr Knacken wie Gewehrschüsse über uns hinweghallte. Die riesigen Bäume auf der rechten Uferseite begannen jetzt, bei jedem Stampfen zu erzittern. Meine Finger krallten sich in den Stoff von Elenors Bluse.

„Hab keine Angst, Dodo.“ Elenor legte ihre Hände auf meine. Sie waren angenehm kühl und trocken. „Bleib einfach in meiner Nähe. Der macht nichts.“

Dann barst er aus dem Dickicht hervor. Er war etwa zwei Stockwerke groß und so breit wie hoch. Sein gesamter Körper war von dichtem, hellgrünem Fell bedeckt. Er hatte einen langen Rüssel und vier Beine. Mehr Besonderheiten waren aufgrund der zu allen Seiten abstehenden Behaarung nicht zu erkennen.

Ich atmete dreimal schnell hintereinander ein und aus. Dann stieß ich hervor: „Das ist kein Elefant! Nicht mal so was Ähnliches! Das Einzige, was das Ding da mit einem Elefanten gemein hat, ist der Rüssel!“

Ein tiefes Knurren drang aus der pelzigen Kugel, die ich für den Kopf hielt, weil von dort der Rüssel herabhing.

„Ganz ruhig, mein lieber Elefanto“, wandte sich Elenor an das Wesen. „Er ist nicht von hier.“

„Elefanto?“, presste ich hervor. „Das sieht aus wie ein zu groß geratenes Meerschweinchen! In grün. Mit Rüssel!“

„Elenor“, sagte das pelzige Wesen. Es klang, als würde es eine überdimensionale Wäscheklammer auf seinem Rüssel tragen. Oder als sei es stark erkältet. „Elenor, wer ist dieser freche Kerl?“

„Das ist Dodo“, antwortete Elenor.

„Dodo?“, fragte Elefanto schnaufend. „Wie Dodofonie?“ Auch ihn schien die Ähnlichkeit köstlich zu amüsieren.

„Wir müssen ihn so schnell wie möglich zu Tante Hablieblieb bringen.“

Elefanto stieß einige verschnupfte Tröter aus. Dann ruckte die pelzige Kugel, bei der es sich tatsächlich um den Kopf handelte, kurz auf und ab. „Gutgut. Ich bringe euch hin. Steigt auf!“

„Danke schön, mein Lieber“, sagte Elenor.

Blitzschnell umschlang uns Elefantos Rüssel und schleuderte uns in die Luft. Ich schrie erschrocken auf, doch wie so häufig reagierte ich viel zu spät, denn da lagen wir bereits in einer Kuhle auf Elefantos Rücken, weshalb ich mich darauf beschränkte, meine Finger panisch in das dichte Fell zu graben, nur um kurz darauf festzustellen, dass es eigentlich ganz gemütlich war.

„Sag mal, müsste das Ding nicht eigentlich eher Meerschweinchentanto heißen?“, fragte ich flüsternd Elenor, während das mammutgroße Meerschweinchen sich mit einer Vielzahl winzigkleiner Schritte umdrehte.

„Hey, werd nicht frech, Kleiner!“, schnaufte Elefanto. Ich wusste noch immer nicht, wo sich seine Ohren befanden, aber sie schienen äußerst gut zu sein.

„Es ist ganz einfach“, sagte Elenor zu mir. „Hier in Lichtwiese gibt es nur ein Gesetz. Das Gesetz der Freiheit. Jeder kann tun und lassen, was er will. Natürlich sieht Elefanto nicht aus wie ein Elefant – aber wenn er gerne einer wäre, dann wird er auch einer. Oder er nennt sich einfach so.“

Ich überlegte. „Aber das … das ist doch bescheuert“, sagte ich und fügte schnell ein „Entschuldigung, aber ist doch so“ hinzu.

„Wieso?“, fragte Elenor. „Das ist doch toll! Bei uns kannst du alles werden, was du willst. Einfach alles!“

„Ja …“ Ich überlegte weiter. „Und was war Elefanto vorher?“

„Ich war ein Junge“, antwortete Elefanto, der sein Wendemanöver inzwischen beendet hatte.

„Und jetzt bist du ein Fantasiewesen aus Meerschweinchen und Elefant?“

„Ja.“ Der pelzige Kopf wippte auf und ab. „Das waren meine beiden Lieblingstiere, und ich konnte mich einfach nicht entscheiden.“

Ich sah Elenor an. „Aber wenn man alles sein kann, was man will … warum hast du dich dann nicht auch verwandelt?“

Elenor senkte den Blick. „Wir müssen jetzt los.“

Elefanto schnaubte zustimmend und trabte los. Mit erstaunlicher Gewandtheit huschte er zwischen den Baumstämmen und unter tiefen Ästen hindurch und sprang über schmale Flussbetten. Aufgrund seiner Proportionen hinterließ er dennoch eine Schneise der Verwüstung. Er wurde immer schneller, bis er seine Höchstgeschwindigkeit – 73,6 Stundenkilometer, wie mir Elenor später erzählte – erreicht hatte. Zum weiteren Verlauf des Ritts kann ich nur wenig sagen, da ich die meiste Zeit über mein Gesicht in Elefantos Fell vergrub und bei jedem Richtungswechsel kurze, spitze Schreie ausstieß.

Nach einer halben Ewigkeit wurde Elefanto langsamer und blieb schließlich stehen. Vorsichtig hob ich meinen Kopf und öffnete die Augen. „Oh … Wahnsinn!“

„Wir sind zu Hause“, sagte Elenor.

„Da drin wohnst du?“

Es sah aus wie ein gigantischer, mittelalterlicher Palast, dessen Mauern über und über mit Perlmutt besetzt war.

„Gefällt es dir?“, fragte Elenor.

„Und wie …“, antwortete ich staunend.

Die Sonne trat hinter den Wolken hervor, als hätte sie nur auf unsere Ankunft gewartet, und das gesamte Gebäude erstrahlte in einem einzigen Glitzern und Glänzen.

„Sind das alles Muscheln?“, fragte ich.

„Ja.“

Es mussten Abertausende sein. „Wo habt ihr die denn alle gefunden?“

„Die haben wir nicht gefunden, Dodo.“ Elenor lachte und schüttelte vergnügt den Kopf. „Die sind zu uns gekommen.“

Ich löste meinen Blick von dem funkelnden Palast und sah Elenor an. „Wie meinst du das?“

„Die Muscheln sind alle freiwillig hier. Um das Schloss zu verschönern.“

„Du meinst … die leben noch?“

„Ja, natürlich! Was dachtest du denn?“ Sie verzog das Gesicht. „Wir schmücken uns doch nicht mit toten Lebewesen. Das ist ja eklig!“

„Nein, natürlich nicht“, sagte ich, weil Elenor mich so vorwurfsvoll ansah.

„An den Mauern fließt frisches Meerwasser hinab, damit die Muscheln nass bleiben. Und damit sie kein Heimweh bekommen.“

„Muscheln haben Heimweh?“, fragte ich erstaunt.

„Natürlich, Dodo. Jedes Lebewesen hat Heimweh. Auch Muscheln.“

„Das wusste ich nicht“, sagte ich und kam mir plötzlich ziemlich dumm vor.

Elenor lächelte. „Dafür bist du jetzt ja hier. Komm, wir gehen hinein.“

„Okay …“

Wir verabschiedeten uns, Elefanto trötete „Gerngern, keine Ursache“, und der lange Rüssel setzte uns sanft auf den Boden.