Zaimzaki, der Sandgott

Sie fesselten uns und trugen uns über ihren Köpfen hinaus ins Freie. Sofort wurden wir von Dutzenden Beduinen umringt. Sie waren sehr aufgeregt und redeten laut durcheinander in einer Sprache, die aus bemerkenswert vielen R-Lauten bestand. Die ganze Zelt-Stadt war in Aufruhr. Immer wieder versuchte ich, ihnen klarzumachen, dass ich doch eigentlich ihr Freund sei und dass ich gerne noch einmal versuchen würde, die Frage ihres Königs zu beantworten. Doch es war sinnlos. Sie banden uns bäuchlings auf Kamele und bestiegen dann ihre eigenen Tiere. Agerian sagte die ganze Zeit über kein Wort. Er hatte die Ausweglosigkeit unserer Lage weitaus früher erkannt als ich. Die Menschen und die Rufe um uns verschwanden, und die Kamele setzten sich in Bewegung. Bereits nach wenigen Minuten war mir von der Schaukelei ganz schlecht und schummrig. Ich erinnerte mich daran, was Omi mir einmal bei starkem Seegang geraten hatte, und fixierte einen festen Punkt am Horizont. Es half ein wenig.

Waren die Vorbereitungen noch äußerst tumultartig verlaufen, so schlängelte die Karawane sich nun beinahe lautlos durch die Wüste, wenn man von dem gelegentlichen Schnaufen der Tiere einmal absah. Wir befanden uns an der Spitze des Zuges. Hinter uns zählte ich über vierzig Kamele. Ich wusste nicht genau, was uns erwartete, aber niemand wollte die Show verpassen. Einen absurden Augenblick lang war ich fast stolz darauf, Objekt des allgemeinen Interesses zu sein.

Nach einiger Zeit begann die Landschaft, sich zu verändern. Der Sand wurde gröber, der Untergrund fester. Vereinzelt wuchsen sogar Sträucher. Die Karawane hielt. Ich schaute mich um, konnte aus meiner Position aber nichts Besonderes entdecken.

„Was ist los?“, rief ich in Agerians Richtung.

„Wir haben unser Ziel erreicht.“

Die Reiter stiegen von ihren Kamelen. Hier und da wurde leise gesprochen.

„Was ist denn unser Ziel?“, fragte ich und hatte eine unbestimmte Vorahnung, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. Tat sie dann auch nicht.

„Die Platinensümpfe“, sagte Agerian.

Wie zur Bestätigung erklang hinter uns ein nasses Klatschen, als sei gerade eine riesige Seifenblase geplatzt.

Die Platinensümpfe, dachte ich, jetzt werde ich sie also doch noch zu Gesicht bekommen. Das musste so etwas wie Schicksal sein. Ich dachte an Strom-Tom und spürte, wie sehr ich ihn vermisste.

Wir wurden von den Kamelen gezogen und zum Ufer der schwarz schimmernden Sümpfe getragen, die sich wie ein Meer aus Öl vor uns ausbreiteten. Überall auf der Oberfläche blubberte es, als würden irgendwo in der Tiefe riesige Fische atmen. Bashshar nahm uns die Fesseln ab. Er lächelte noch immer. Ich hätte ihm gerne seine Nase verbogen.

Vier Beduinen schleppten einen Monitor von der Größe einer Tischtennisplatte heran und verlegten gelb leuchtende Kabel. Am Gehäuse blinkte kurz ein Licht auf, dann erschien König Hatim überlebensgroß auf dem Bildschirm. Er saß noch immer auf seinem Kissenberg.

„Habt keine Angst! Heute ist ein großer Tag für euch! Ihr opfert euch, auf dass der herrliche Zaimzaki unser Volk beschützen wird.“

„Ich will nach Hause!“, schrie ich, so laut ich konnte. „Nach Hause, zu meiner Omi! Hört ihr? Ich will Rasenmähen und Müll rausbringen!“

„Dem Ersten gebührt der Ruhm, auch wenn seine Nachfolger es besser machen werden“, verkündete König Hatim und strich zufrieden durch seinen Vollbart. „Vollendet es!“

Diesen poetischen Worten nicht ganz angemessen, stießen mich zwei kräftige Arme einfach plump in den schwarzen Schlamm, welcher die Konsistenz von Eierpfannkuchenteig besaß. Augenblicklich versank ich bis zur Hüfte. Hilflos ruderte ich mit den Armen und strampelte mit den Beinen, was mein Sinken jedoch nur noch beschleunigte. Am Ufer wehrte sich Agerian nach Leibeskräften, doch es waren einfach zu viele Arme, die ihn in die Luft stemmten. Dann erstarrte die Szenerie auf einmal, als habe jemand die Pause-Taste gedrückt. Agerian plumpste zwischen den Beduinen auf den Boden, welche jetzt allesamt gebannt zu einer der Hügelketten hinaufglotzten. Ich war so irritiert, dass ich für einen Moment sogar das Rudern und Strampeln vergaß. Auf dem Hügelkamm erschien ein großer, quadratischer Schatten. Ein zweiter, dritter und vierter gesellte sich dazu. Plötzlich flammte ein rotes Licht auf, schoss hinunter ins Tal und setzte alle Sträucher im Umkreis von zwanzig Metern in Brand. Die Beduinen stoben auseinander, sprangen auf ihre Kamele, stießen zornige R-Laute aus und ritten davon. Die Schatten, die bei näherer Betrachtung frappierende Ähnlichkeit mit Panzern besaßen, rollten den Abhang hinunter und nahmen die Verfolgung auf, während sie rote Laser in die Nacht schossen. Ich sah ihnen nach und versank bis zu den Achselhöhlen.

„Nicht bewegen!“, rief Agerian und kam durch den Sumpf näher gewatet. „Ich zieh dich raus!“

„Nein, bleib da! Wir versinken sonst beide!“

„Halt dich fest!“ Agerian streckte mir seine Hand entgegen.

Ich griff danach, doch Agerian hatte sich schon zu weit vorgewagt. Der Sumpf zog uns beide hinab. Mein Kinn versank, dann mein Mund. Blasen zerplatzten, und ölig schwarzer Pfannkuchenteig spritzte mir ins Gesicht. Plötzlich spürte ich an meinen Füßen einen Sog. Dann riss es mich abrupt in die Tiefe. Teig schwappte in meine Nasenlöcher, bedeckte mein Gesicht und verschwand gleich darauf wieder. Ich spuckte und prustete, doch ich konnte atmen. Ich befand mich nicht mehr im Sumpf, ich rutschte auf etwas hinab. Mein Magen fühlte sich an, als säße ich in einer Achterbahn. Hektisch wischte ich meine Augen frei. Stahl raste direkt vor meinem Gesicht entlang. Ich befand mich in einer schmalen Röhre. Die Fahrt wurde immer schneller, dann verschwand auch der Stahl, ich landete unsanft auf Steinboden und überschlug mich etwa ein Dutzend Mal. Agerian kam direkt hinter mir aus der Röhre gepfeffert und schoss mich wie eine Billardkugel davon, was weitere Überschläge mit sich brachte.

Es dauerte einige Zeit, bis ich zu etwas anderem fähig war, als zu stöhnen, zu jammern und meine vielen schmerzenden Körperteile zu reiben.

„Wo sind wir denn jetzt gelandet?“, fragte ich schließlich.

„Keine Ahnung“, entgegnete Agerian. „Sieht aus wie eine Tropfsteinhöhle.“

Ich betrachtete die felsigen Wände. Eine Lichtquelle war nicht zu erkennen. Trotzdem war es taghell in der Hölle.

„Und wie sind wir hierher gekommen?“, fragte ich.

„Von dort oben.“ Agerian zeigte auf ein Loch am Rand der gewölbten Decke.

„Ja, nee …“, sagte ich und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. „Ich meine allgemein. Zuerst sind wir in den Platinensümpfen versunken, dann waren wir plötzlich in einer Art Rutsche und jetzt sind wir hier.“

Agerian nickte. Anscheinend sah er nichts Ungewöhnliches an den Stationen unserer kurzen Reise.

Ich stand versuchsweise auf. Diverse Teile meines Körpers protestierten lautstark.

„Bist du verletzt?“, fragte Agerian.

„Nein, nein, geht schon“, presste ich zwischen den Zähnen hindurch.

„Gutgut.“

Ich sah ihn erstaunt an. „Gutgut? Kommst du etwa aus Lichtwiese?“

„Lass uns gehen“, überging Agerian meine Frage. „Es gefällt mir hier nicht.“

Womit wir schon zu zweit waren.

„Aber wie kommen wir hier raus?“ Ich schaute zu dem Loch hinauf. Es befand sich in über zwei Meter Höhe.

„Am besten nehmen wir den Ausgang“, sagte Agerian und zeigte auf einen Tunnel zu unserer Linken, über dem in Leuchtbuchstaben die Worte Willkommen in San Platino flimmerten.

„Na fabelhaft!“, sagte ich und lachte zum wahrscheinlich ersten Mal an diesem Tag. „Worauf warten wir dann noch?“

Wir wollten uns gerade in Bewegung setzen, als wir das Quieken hörten. Es endete in einem Schnarren, war hell, laut und irgendwie niedlich.

„Hast du das gehört?“, fragte ich sicherheitshalber.

Agerian nickte. „Das kam von da.“ Er wies in den hinteren Teil der Hölle.

Ein fußballgroßes Etwas huschte zwischen den Gesteinsbrocken hin und her. Wieder erklang ein helles Quieken.

„Ich geh mal hin“, flüsterte ich.

„Aber vorsichtig“, mahnte Agerian. „Wir wissen nicht, was das ist. Und ob es gefährlich ist.“

„Aber das war doch ganz klein.“

„Piranhas sind auch ganz klein …“

Wir erreichten die Steine. In einer Ecke saß zusammengekauert ein pelziges Wesen, das aussah wie ein zu klein geratener Waschbär, dem ein langer Eichhörnchenschwanz gewachsen war. Nur dass es rot-gelb gestreift war.

„Es versteckt sich“, sagte ich leise. „Das ist ja süß!“

Ich griff in meine Taschen und löffelte klebrigen Teig heraus, bis ich ein letztes Popcorn fand. Vorsichtig trocknete ich es an meiner Hose ab, ging in die Knie und hielt es dem Waschhörnchen hin. „Ja, schau mal! Feini, feini Popcorn! Ja, komm! Lecker, lecker!“

Die großen Augen des Waschhörnchens wanderten zwischen mir und dem Popcorn auf meiner Handfläche hin und her. Es schien nachzudenken. Dann sprang es plötzlich hervor, schnappte zielsicher mit seinen kleinen Klauen nach dem Popcorn und verschwand mit kleinen schnellen Schritten zwischen den Steinen.

„Komm“, sagte Agerian. „Wir müssen weiter.“

„Okay“, sagte ich und stand wieder af. „Tschüss, Waschhörnchen!“

Dann gingen wir durch den Tunnel.