Projektion S.T., Version 3.2

Ich drehte mich im Kreis, ohne jedoch den Ursprung der Stimme erkennen zu können. „Wer … wer ist da?“, fragte ich den Kopf in den Nacken gelegt, weil ich der Meinung war, die Stimme sei von oben gekommen.

„Ich bin Ihre Projektion Steinbrücker Teich, Version 3.2“, verkündete die Stimme mit einer strahlenden Mischung aus Stolz und Euphorie. „Ruhemodus deaktiviert.“

Die Wasser-Projektion unter meinen Füßen färbte sich hellblau, so dass tief unten der Grund des Teichs sichtbar wurde. Erschrocken machte ich einen Sprung zurück – was natürlich völlig sinnlos war, da ich mich weiterhin in beträchtlicher Entfernung zum Ufer befand.

„Das ist nicht der Steinbrücker Teich!“, stieß ich hervor.

„Das ist der Steinbrücker Teich, Version 3.2“, verbesserte mich der Teich mit einem Höchstmaß an Zurückhaltung und Gutmütigkeit. „Wünschen Sie, Fische zu sehen?“

„Ich will hier sofort runter!“

„Flunder“, jubelte der Teich, als läge darin die Erfüllung seines Seins. „Ich wiederhole: Sie wünschen Flunder. Eine sehr gute Wahl, wenn mir die Anmerkung gestattet sei.“

„Was? Nein!“

„Ich korrigiere: Sie wünschen Stein. Bitte definieren Sie: Stein-Butt oder Stein-Beißer.“

„Strom-Tom, was zum Teufel ist das?“

„Hat es doch gesagt“, entgegnete Strom-Tom. „Das Programm, das für den Teich verantwortlich ist. Und anscheinend denkt es, du wärst der Chef.“

„Wie kommt es darauf?“

„Bei der Spracherkennung wundert es mich, dass es überhaupt irgendwas wahrnimmt. Gib ihm einfach irgendeinen Befehl, damit es uns in Ruhe lässt!“

„Vielleicht hab ich sogar eine bessere Idee.“ Ich wandte mich an den Teich. „Ähm … Sehr geehrtes Programm …“

„Programm meldet sich!“, meldete sich das Programm voller Arbeitseifer.

„Du erfüllst mir jeden Wunsch?“

„So haben Sie mich programmiert, Chef.“

„Okay, dann habe ich eine Aufgabe für dich.“ Ich glaubte, das Programm vor Vorfreude knistern zu hören. „Ich wünsche mir eine Tür.“

„Ich wiederhole Tür. Und wo wünschen Sie die Tür?“

„Hmh …“ Ich sah mich etwas ratlos um. „Ähm … tja ...“

„Genau hier!“, rief Strom-Tom, dem es anscheinend nicht schnell genug ging. „Direkt vor uns … mir!“

„Vertikal oder horizontal?“, erkundigte sich das Programm in einem Tonfall, als hinge davon der Fortbestand der menschlichen Zivilisation ab.

„Vertikal oder horizontal?“, fragte ich zurück.

„Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?“, fragte das Programm und schaffte es dabei, kompetent und zugleich unterwürfig zu klingen.

„Okay.“

„Bitte warten. Rechenzeit beträgt fünf Sekunden.“ Das Programm zählte bis auf eins herunter und verkündete dann freudestrahlend: „Ergebnis: Eine Tür auf einem See ergibt unter biometrischen Gesichtspunkten keinen Sinn. Deshalb Vorschlag: Keine Tür.“

„Und wenn ich es dir befehle?“, fragte ich vorsichtig.

„Dann führe ich auch sinnlose Aktionen aus“, jauchzte das Programm. „Sie sind der Chef.“

„Gut. Dann will ich jetzt hier eine Tür. Und zwar vertikal.“

„Tür, vertikal“, beglückwünschte mich das Programm voller Herzlichkeit.

Aus dem Nichts heraus erschien eine gewöhnliche Zimmertür aus rot lackiertem Holz.

„Ich hoffe, meine Farbauswahl sagt Ihnen zu.“

Ich griff nach der Klinke. Meine Hand fasste ins Leere. Ich ging durch die geschlossene Tür – und stand weiterhin auf dem hellblauen, viel zu großen Teich.

„Es funktioniert nicht“, sagte ich. „Das ist zwar eine Tür, aber kein Ausgang.“

„Ich bedaure aufrichtig, dass meine Arbeit Ihren Ansprüchen nicht gerecht wird“, betonte das Programm mit einer perfekten Mischung aus Mitgefühl und Unterwürfigkeit.

„Programm!“, rief Strom-Tom. „Wir brauchen einen Ausgang!“

„Bitte warten … Rechenzeit: drei Sekunden.“ Erneut zählte das Programm rückwärts und verkündete dann voller Zufriedenheit: „Es gibt 2475 Ausgänge. Korrigiere: 2476 unter Berücksichtigung Ihrer roten Tür. Bitte wählen Sie einen Ausgang!“

„2476 Ausgänge?“, fragte ich.

„Das sind virtuelle Ausgänge“, sagte Strom-Tom und wandte sich wieder an das Programm: „Wo befinden sich die … die …“ Er verstummte. Anscheinend suchte er nach dem richtigen Begriff. „Projektionslöcher!“, schallte es aus meinem Magen. „Genau! Wo befinden sich die Projektionslöcher?“

Sofort ratterte das Programm vergnügt los: „Meinten Sie: A) Projektions-Dots, B) Projektions-Schaltpläne, C) Projektions-Bus, D) Projektions-Schieber, E) Projektions-Schlauch, F) Projektions-Freiflächen, G) Projektions-Sicherheit, H) -“

„Stopp!“, rief Strom-Tom und das Programm verstummte augenblicklich. „Die Freiflächen! Wo sind die Freiflächen?“

„F) Projektions-Freiflächen“, entgegnete das Programm hochmotiviert. „Projektions-Freiflächen sind Holo-Flächen, die frei von LC-Dots sind. Sie bestehen üblicherweise aus Materialien wie A) Beton, B) Kunststoff, C) Kautschuk, D) -“

„Stopp!“, rief ich und das Programm verstummte abermals. „Wo sind diese Freiflächen?“

„Frage: Wo sind diese Freiflächen?“, wiederholte das Programm begeistert. „Antwort: Einfach. Folgen Sie immer der Wand und biegen bei der nächsten Möglichkeit nach links ab!“

„Da wären wir sowieso längs gegangen!“, sagte Strom-Tom verärgert. „Dann hätten wir uns den ganzen Mist hier auch sparen können.“

„Entfernung der Freifläche: 38,75 Meter“, ergänzte das Programm mit ungebrochener Heiterkeit. „Gute Reise!“

„Ja, danke“, erwiderte ich anstandshalber.

Strom-Tom hingegen gab nicht so viel auf gutes Benehmen. „Nichts wie weg hier! Das Ding geht mir gehörig auf die Nerven!“

„Nerven“, echote das Programm begeistert. „Die Nerven. Kurze Nerven haben lange Beine. Nerven. Ich nerve, du nervst, er …“

So schnell mein geprelltes Knie es zuließ, humpelte ich über den Teich aus hellblauen LC-Dots, während meine lädierte Linke über die unsichtbare Wand strich, damit wir die Freifläche nicht verpassen würden, das Programm weiter Nerven deklinierte und Strom-Tom fluchte: „Ich wusste es! War ja klar, dass es gleich wieder mit irgendeinem Schwachsinn anfängt!“

„Anfangen“, wiederholte das Programm scheinbar willkürlich, jedoch nicht ohne die entsprechende Begeisterung. „Der Anfang. Aller Anfang ist schwer. Ich fange an, du fängst an …“

Als es bei der 3. Person Plural angekommen war, rutschte meine Linke plötzlich ins Leere. „Hier ist es!“, rief ich und bog nach links. Die Hände abwechselnd nach vorne und zur Seite streckend, ging ich weiter, bis der Gang nach rechts knickte. An seinem Ende befand sich eine silberne Schwingtür ohne Knauf oder Türgriff, wie man sie in Restaurantküchen vorfindet. Ich humpelte weiter und stieß die Tür auf. Ein langgezogenes Quietschen verriet mir, dass sie kein Hologramm war. Der Raum dahinter war dunkel. Der Fußboden bestand aus grobem Stein, mehr konnte ich nicht erkennen.

„Und?“, fragte Strom-Tom. „Haben wir‘s geschafft?“

„Glaube schon“, sagte ich, während sich die Tür hinter mir mit kürzer werdenden Quietschern schloss und die Finsternis um mich herum sogar noch einen Tick schwärzer wurde. „Ist nur ziemlich dunkel hier.“ Direkt neben meiner Schulter leuchtete ein bonbonroter, kreisrunder Knopf. „Da ist ein Knopf.“

„Nicht drücken!“, rief Strom-Tom, doch da stach mein Zeigefinger bereits herzhaft in die Mitte des roten Kreises.

„Entschuldigung ...“, sagte ich leise.

„Schon wieder??“, fragte Strom-Tom. Eine nicht zu überhörende Spur von Ungläubigkeit lag in seiner Stimme.

„Tut mir leid, ist wohl so eine Art Reflex. Kann‘s mir selbst nicht erklären. Muss an der Farbe liegen.“

Dann ging das Licht an. Es war nicht auszumachen, woher es kam. Lampen, Glühbirnen oder Scheinwerfer waren nicht zu sehen. Es wurde einfach hell.

„Das ist der Raum mit der Eisentür und dem Kombinationsschloss“, sagte ich. „Aber … wie kann das denn sein? Dann müssten wir ja … im Kreis gelaufen sein. Außerdem …“ Verwirrt sah ich mich um. Von der silbernen Schwingtür fehlte jede Spur. „Wie sind wir überhaupt hier reingekommen? Und woher kommt auf einmal das Licht?“

„Da ist jetzt doch völlig egal!“, entschied Strom-Tom kurzerhand. „Ist die Treppe noch da, über die wir runtergekommen sind?“

„Ja. Warum sollte die nicht mehr da sein?“

Strom-Tom überging meine Frage. „Dann los! Hoch mit dir! Wir müssen deine Omi und Elenor retten!“

Er hatte recht. Wir waren schon viel zu lange hier unten. Also stieg ich die hohen Stufen des schmalen Stollens hinauf und öffnete die Geheimklappe zu Omis Garten.