Der Katzenbaum

Ich lief durch dichtes Unterholz. In den Baumkronen blühten die Lullaba-Blumen. Die Luft roch nach Apfelkernen und Jasmin. Ich sprang über Sträucher, sprang in die Luft und griff nach den Früchten. Der Boden unter meinen Turnschuhen war weich und uneben. Meine Beine waren seltsam kurz und meine Schuhe hatten Klettverschlüsse.

Ich war sechs Jahre alt und die Welt war ein einziges großes Abenteuer.

Ich lief immer weiter durch das bunt blühende Dickicht.

„Komm schon, Samuel!“, rief ich. „Da vorne ist es!“

Erst als ich die Krakrak-Bäume erreichte, deren mannshohe Wurzeln schon vor Hunderten von Jahren dem Erdreich entwachsen waren und wie hölzerne Wälle das Unterholz zerteilten, blieb ich stehen.

„Samuel!“

Ich drehte mich um. Samuel war nicht mehr da. Gerade eben war er noch direkt hinter mir gewesen. Ich starrte in die undurchdringliche Wand aus Blättern, Sträuchern und Lianen, durch die ich gerade gekommen war, doch meine Augen waren in diesem Dschungel keine große Hilfe. Also schloss ich sie und lauschte: Überall knackte es, zirpte es, zwitscherte es.

„Samuel?“, rief ich noch einmal.

„Wir dürfen gar nicht hier sein!“, keuchte es aus dem Unterholz.

Das Knacken wurde lauter, und Samuel stand plötzlich neben mir. Er schwitzte und war ganz weiß im Gesicht. Nur seine Wangen glühten pampelmusenrot.

„Das ist streng verboten“, sagte er und stützte die Hände auf die Knie. „Mensch, Dodo, wenn uns hier jemand erwischt …“

„Sei doch nicht so ein Angsthase! Wir sind ja fast da.“ Ich zeigte auf die Wurzeln der Krakraks.

„Aber wenn uns jemand erwischt …“, schnaufte Samuel wieder.

„Uns erwischt aber keiner“, sagte ich und versuchte, überzeugt zu klingen.

Samuel schaute auf und schwitzte. Seine blonden Locken klebten an seiner Stirn. „Wie kannst du dir da sicher sein?“

„Es ist verboten, diesen Teil des Waldes zu betreten. Also darf auch kein anderer hier sein.“

Samuel überlegte. „Trotzdem …“

„Ich war schon tausendmal hier“, log ich. „Und mich hat nie jemand erwischt!“

„Das stimmt nicht“, sagte Samuel leise.

„Natürlich stimmt das!“

Samuel antwortete nicht. Schweiß tropfte von seinem Kinn.

„Dann lauf doch nach Hause, wenn du solche Angst hast!“

Eine Kolibri-Ente erhob sich aufgeregt schnatternd in die Lüfte.

„Du Angsthase!“, schrie ich Samuel an, weil er sich noch immer nicht rührte, und weil auch ich auf einmal so ein komisches Gefühl im Magen hatte.

„Ich bin kein Angsthase“, sagte Samuel.

„Dann komm jetzt! Beweis es!“

Ich ließ ihn stehen und suchte die Baumwurzel nach einer geeigneten Stelle zum Hochklettern ab. Dann stieg ich hinauf.

„Dodo, warte auf mich!“, rief Samuel und kletterte hinterher.

Zwischen den Wurzeln klafften schwarze Spalte, die so tief waren, dass man den Boden nicht sehen konnte. Die anderen Kinder erzählten sich, dass dort unten Salamander-Spinnen lebten; achtbeinige, untertellergroße Tiere, die ungeduldig züngelnd darauf warteten, dass jemand zu ihnen hinunterfiel. Aber daran glaubte ich natürlich nicht. Schließlich war ich schon sechs und kein kleines Baby mehr. Trotzdem klopfte mein Herz bis zum Hals, als ich mich an den Rand der Wurzel stellte.

„Vielleicht … vielleicht gibt es noch einen anderen Weg“, sagte Samuel. „Wir könnten es außen herum versuchen.“

„Es gibt keinen anderen Weg“, sagte ich und schaute hinauf in die Baumkronen, zwischen deren Blättern die Sonnenstrahlen glitzerten. „Guck einfach nicht nach unten.“

Und dann sprang ich, klammerte mich an die Rinde der nächsten Wurzel, um nicht herunterzufallen, stand gleich wieder auf und sprang zur übernächsten – immer weiter, bis ich schließlich den Waldboden auf der anderen Seite erreicht hatte. Meine Hände waren rot und brannten, doch das bemerkte ich kaum. Ich hatte es geschafft.

„Wir sind da“, sagte ich, als Samuel mich eingeholt hatte.

In der Mitte der kleinen Lichtung ragte ein einzelner Baum auf. Er stand auf einem Hügel, trotzdem wirkte er wie ein Winzling zwischen all den Krakraks, die ihn in sicherem Abstand umringten. Alles an ihm war von dichtem fliederfarbenem Haar bedeckt: der kurze Stamm, die spitzen Blätter und die langen, dünnen Äste, die an die Finger eines alten Mannes erinnerten

„Ist er das?“, fragte Samuel. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Ist das der Katzenbaum?“

Ich nickte. „Ja.“

Wir betraten die Lichtung und gingen die Anhöhe hinauf. Der Boden war kahl, noch nicht einmal Gras wuchs hier. Ein tiefes, wohliges Schnurren hallte uns entgegen. Es schien aus dem dichten Blattwerk der Baumkrone zu kommen. Mit jedem Schritt wurde das Schnurren lauter. Es war wirklich angenehm in den Ohren.

„Er hat ja sogar Fell!“, sagte Samuel und sah mit großen Augen zum Baum hinauf. „Wie eine richtige Katze. Komm, wir gehen näher heran!“

Er schien auf einmal überhaupt keine Angst mehr zu haben.

„Dodo, komm!“

Ich schüttelte den Kopf. „Das ist zu gefährlich.“

„Warum? Das ist doch nur ein Baum.“

„Nein“, flüsterte ich. „Er ist viel mehr als nur ein Baum.“

„Wie meinst du das?“, fragte Samuel und sah mich an.

Ich antwortete nicht. Das Schnurren war verstummt. Er hatte uns bemerkt.

„Hallo, meine Hübschen“, drang eine tiefe Stimme zwischen den Blättern hervor.

Samuel zuckte erschrocken zusammen. „Er kann sprechen?!“

„Ja“, sagte ich. „Er kann sprechen, und er weiß alles.“

„Das stimmt, Dodo“, schnurrte der Katzenbaum.

„Er kennt deinen Namen!“, rief Samuel, und auf einmal war er wieder sehr blass.

„Er weiß alles“, sagte ich noch einmal. „Alles über Lichtwiese und alles über uns.“

„Das stimmt“, miaute der Katzenbaum.

Wenn er sprach, raschelten seine Blätter, und einen kurzen Moment lang schimmerte etwas Weißes in der dichten Baumkrone. So als würde sich dort ein Maul voller scharfer weißer Zähne befinden.

Samuel legte die Stirn in Falten. „Weiß er dann auch … dass ich letzte Woche Lilly geküsst habe?“

Ich dachte an Lilly mit ihren abstehenden Ohren, an ihr Lachen und daran, wie sie auf ihrer Unterlippe kaute, wenn sie nervös war. In meiner Brust steckte plötzlich ein heißer Stein und für einen Augenblick vergaß ich sogar, warum wir hierher gekommen waren.

„Hast du nicht!“, stieß ich hervor.

„Hab ich wohl“, sagte Samuel und pustete sich die verschwitzten Locken aus der Stirn. „In der Pause vom Windspringen.“

„Hat er nicht“, brummte der Katzenbaum.

„Hab ich wohl!“, rief Samuel noch einmal, doch ich sah, dass er log, und der glühende Stein in meiner Brust verschwand so schnell, wie er gekommen war.

„Hast du nicht“, schnurrte der Katzenbaum. „Aber du würdest sie gerne einmal küssen, oder?“

Samuel schaute zu Boden und vergrub seine Hände in den Hosentaschen. „Ich hab sie aber wirklich geküsst.“

„Ist schon gut, Samuel“, sagte ich und legte ihm meine Hand auf die Schulter.

Er schüttelte sie ab, ohne aufzusehen und zog mit der Schuhspitze Linien durch die staubige Erde.

„Sehr geehrter Katzenbaum“, sagte ich und versuchte, meine Stimme fest und erwachsen klingen zu lassen, doch es wollte mir einfach nicht gelingen. „Wir sind zu Ihnen gekommen, weil ich eine wichtige Frage an Sie habe.“

„Genauso wie viele anderen vor dir“, miaute der Katzenbaum. „Und ich konnte alle ihre Fragen beantworten. Aber sie mussten dafür bezahlen. Nichts im Leben ist umsonst. Das weißt du doch – oder, Dodo? Für jede Antwort musst du bezahlen.“

„Und … und wie viel?“, fragte ich und ärgerte mich über das Zittern in meiner Stimme.

„Das kommt ganz auf deine Frage an“, schnurrte der Katzenbaum und seine Blätter knisterten vor Vorfreude, während die langen, dünnen Äste auf und ab wippten.

„Gib ihm nichts!“, rief Samuel trotzig und kickte einen kleinen Stein den Hügel hinunter. „Er lügt dich sowieso an. Der doofe Baum weiß nämlich überhaupt nichts! Nicht einmal, dass ich Lilly geküsst hab!“

„Aber das war doch nur ein Scherz“, schnurrte der Katzenbaum. „Natürlich hast du Lilly geküsst. Letzte Woche in der Pause vom Windspringen. Ich weiß das – jeder weiß das. Hab keine Angst. Ich bin nichts weiter als ein einsamer alter Baum. Aber vielleicht können wir ja trotzdem Freunde sein?“

Samuel sah auf. „Sie wollen mein Freund sein?“

Er hatte nicht viele Freunde. Eigentlich war ich sein einziger.

„Sehr, sehr gerne sogar“, miaute der Katzenbaum. „Warum kommst du nicht mal her und streichelst mein Fell. Du wirst erstaunt sein, wie weich es ist.“

„Bleib hier, Samuel“, flüsterte ich. „Geh nicht näher heran.“

Doch Samuel hörte nicht auf mich. Er trat einen Schritt vor und nahm die Hand aus der Tasche. Er wollte über einen der langen, fellbedeckten Äste streichen. Ein Zittern durchfuhr den Baum, die Blätter wisperten, etwas Weißes blitzte zwischen ihnen auf, und ich griff nach Samuels Arm und zog ihn mit aller Kraft zurück.

„Nicht anfassen!“, rief ich. „Sonst packt er dich!“

„Sonst packt er mich?“ Ungläubig sah Samuel erst mich und dann den Baum an, der jetzt wieder völlig regungslos auf der Lichtung stand.

„Mit seinen langen Ästen“, sagte ich. „Er packt dich und dann frisst er dich!“

„Er frisst Kinder?“

Ein Schaudern durchfuhr das Blattwerk, und Samuel nickte. Er hatte verstanden. Trotzdem ließ ich seinen Arm erst wieder los, als er einen Schritt zurücktrat.

„Du Spielverderber!“, fauchte der Katzenbaum, und dieses Mal waren die scharfe Fangzähne ganz deutlich zu sehen. „Ich wollte doch nur ein bisschen an ihm knabbern! Kinder schmecken nun mal am besten.“ In der Baumkrone ertönte ein hohles Klappern, als würden große Zähne aufeinanderschlagen. „Aber genug davon. … Also, Junge, was ist mit deiner Frage?“

„Ich … ich würde gerne wissen …“, sagte ich und verstumme. Mein Herz schlug bis zum Hals. „Ich würde gerne wissen, ob meine Eltern noch leben?“, setzte ich von neuem an. „Und wo ich sie finden kann?“

„Das ist eine sehr, sehr schwierige Frage“, brummte der Katzenbaum.

„Aber Sie können sie mir doch beantworten, oder?“

Die fellbedeckten Äste federten leicht auf und ab, die Blätter wisperten. „Ja, das kann ich.“

„Dann sagen Sie es mir! Bitte!“

„Das ist nicht so leicht“, miaute der Katzenbaum. „Dass mit deinen Eltern … das ist ein großes Geheimnis, musst du wissen.“

„Das sagt mir jeder!“, rief ich. „Aber niemand sagt mir, was das Geheimnis ist! Bitte, Herr Katzenbaum, verraten Sie es mir!“

Ein tiefes Schnurren ertönte. „Also gut … Ich sage dir die Wahrheit, ich verrate dir das Geheimnis. Aber was bekomme ich dafür?“

„Ich gebe Ihnen alles, was ich habe“, sagte ich und beeilte mich, die blauen, grünen und roten Münzen aus meinen Hosentaschen hervorzuholen. „27 Blaukronen und 14 Fuchspfennige“, zählte ich von der rechten in die linke Hand.

„Das reicht nicht“, fauchte der Katzenbaum.

„Hier“, sagte Samuel und legte einige Geldstücke dazu. „Das sind zwölf Blaukronen. Mehr hab ich nicht.“

„39 Blaukronen“, addierte ich zusammen. „39 Blaukronen und 14 Fuchspfennige. Das ist alles, was wir haben.“

„Dein Freund scheint ja doch ganz nett zu sein“, schnurrte der Katzenbaum. „Schmeckt der auch so gut?“

Ich stand da mit den bunten Münzen in meiner Hand und war unfähig, etwas zu entgegnen. Die Verzweiflung war einfach zu groß.

„Das war nur ein Scherz“, miaute der Katzenbaum und seine Äste tanzten auf und ab, als würde er lachen. „Ein Scherz, nicht mehr. Jetzt hab dich nicht so, Dodo! Du verstehst doch Spaß, oder?“

„Ja“, sagte ich und meine Stimme kam mir plötzlich seltsam fremd vor.

„Gut“, schnurrte der Katzenbaum. „Was wäre das Leben ohne Spaß?“

„Und was …“ Ich schluckte trocken. „Was wollen Sie dann, Herr Katzenbaum?“

Er antwortete nicht sofort. Und als er es endlich tat, sprach er so leise, dass ich den Kopf drehen und mich nach vorne lehnen musste, um alles zu verstehen. „Birkenwasser …“, hauchte er. „Ich will Birkenwasser.“

„Aber das … das ist doch ausgestorben“, sagte Samuel. Auch er sprach jetzt ganz leise.

„Aber nur in Lichtwiese“, raunte der Katzenbaum. „Ich kann euch sagen, wo es noch welches gibt.“

„Ich war noch nie außerhalb von Lichtwiese“, flüsterte ich und mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.

„Es ist nicht weit“, surrte der Katzenbaum. „Aber gefährlich ist es. Vielleicht stirbt auf dem Weg sogar einer von euch beiden. Wer weiß?“

„Wir können dabei sterben?!“, stieß Samuel hervor.

„Nicht so laut!“, zischte der Katzenbaum. „Wir wollen doch nicht, dass Tante Hablieblieb uns hört, oder? Das würde unser kleines Geschäft sofort zunichte machen.“

„Und wo … wo finden wir das Birkenwasser?“, fragte ich.

„Ihr dürft niemandem davon erzählen, hört ihr?“, flüsterte der Katzenbaum. „Wirklich niemandem!“

Ich nickte. Ein Windstoß fegte über die kleine Lichtung und entlockte dem Blattwerk ein helles Rauschen.

„Was ist das?“, fragte der Katzenbaum.

„Keine Ahnung“, sagte Samuel und schaute mich an. „Aber vielleicht weiß er ja, wie wir hierher gekommen sind?“

„Wovon redet ihr?“, fragte ich.

Samuel legte seine Hand auf meine Schulter. „Ist alles Ordnung?“

„Ja“, sagte ich. „Warum fragst du das?“

„Ist er tot?“, schnurrte der Katzenbaum.

Samuel betrachtete mein Gesicht. Seine Locken wirbelten wild umher. Er sah durch mich hindurch. Als wäre ich gar nicht da. Der Wind wurde stärker. Kleine Steine kullerten den Anhang hinunter.

„Ich glaube, er atmet“, sagte Samuel.

„Samuel!“, rief ich. „Samuel, kannst du mich hören? Ich bin doch hier!“

Ich wollte nach seiner Hand greifen, ich wollte ihn berühren, damit er spürte, dass ich noch da war, dass ich verstand, was sie sagten, doch der Wind drückte meine Arme mit unheimlicher Kraft nach unten.

„Er schläft“, miaute der Katzenbaum.

Samuel drehte sich zu ihm um. „Soll ich ihn wecken?“ Er schrie es, weil der Wind in einen Sturm übergegangen war.

„Ja“, miaute der Katzenbaum. „Aber sei vorsichtig.“