Band 12 oder Die verlorenen fünf Bände
Ich liege auf dem Rücken. Der Untergrund ist hart. Meine Beine fühlen sich ziemlich lang an. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin auch nicht mehr in der Höhle. Wenn ich meine Füße bewege, knirscht es leise. Erde. Sand. Schotter.
„Strom-Tom?“, sage ich schwach. Mein Mund fühlt sich an, als hätte ich Löschpapier gelutscht. „Was ist passiert?“
Es antwortet niemand. Wie so häufig.
„Ich finde das langsam echt nervig …“ Meine Zunge ist so trocken, dass sie beim Sprechen knistert. „Ständig wache ich irgendwo auf, kann mich an nichts erinnern und fühle mich wie durch den Fleischwolf gedreht. Das ist auf Dauer ziemlich anstrengend, kann ich dir sagen.“
Mein Gesicht ist heiß, als würde ich unter einer riesigen Wärmelampe liegen. Ein Windhauch streicht über mein T-Shirt und kühlt meine Wangen. Windhauch, denke ich. Und gleich darauf: Kraken-Orang-Utan! Ich sehe seine riesigen Affenlippen gegeneinander flappen und bin auf den Beinen, noch bevor ich meine Augen aufgerissen habe. Mein Herz erschreckt sich genauso doll wie ich und springt aufgeregt in meinen Hals auf und ab. Ich wirbele herum, doch ich kann den Kraken-Orang-Utan nirgends entdecken, auch nach der vierten Umdrehung nicht, also komme ich taumelnd zum Stehen und beschließe, mir die Panik für ein anderes Mal aufzuheben – gibt ja immer wieder mal eine passende Gelegenheit. Ich setze mich zurück in den Staub und warte darauf, dass der Schwindel nachlässt. Über mit strahlt ein blauer Himmel. Eine bis zwei Straßen kreuzen genauso viele Bahnlinien und schlängeln sich dann zwischen grün-braunen Feldern entlang, in der Ferne reihen sich Spitzdachhäuser aneinander. Hinter mir steht eine leuchtend gelbe Telefonzelle. Eine gelbe Telefonzelle. Ich bin wieder zuhause. Ich stehe auf und klopfe mir den Staub von der Hose.
„Strom-Tom?“ frage ich, doch bekomme keine Antwort. „Strom-Tom? Bist du da?“ Ich stocke. „Oder bin ich … bin ich etwa tot?“
Ich fühle mich eigentlich nicht tot, aber was heißt das schon? Ich schaue an mir herab. Die Stelle am Straßenrand, an der ich gelegen habe, ist noch gut zu erkennen. Ich frage mich, wie lange ich dort gelegen habe und denke: Ein Sonnenstich, ein Hitzeschlag – und nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit beide Begriffe im Lexikon nachzuschlagen, um endlich herauszufinden, ob sie tatsächlich dasselbe bedeuten.
„Strom-Tom, weißt du, was ich glaube?“, frage ich in die Stille hinein. „Ich glaube, ich hab das alles nur geträumt. Lichtwiese, Las Voltas, die Fahrt im Wüstenwurm – das war alles nur eine Art Traum. Ich lag die ganze Zeit über hier vor der Telefonzelle und hab vor mich hin fantasiert.“
Eine weitere Erkenntnis poppt in meinem Kopf auf wie eine umgekehrte Seifenblase, und ich verstumme schlagartig, weil Selbstgespräche nun mal ziemlich seltsam sind.
Es gibt keinen Strom-Tom. Wenn das alles nicht real war, gibt es auch keinen Strom-Tom. Und Agerian, Elenor, Tante Hablieblieb und Strom-Klaus gibt es genauso wenig. Auf einmal fühle ich mich sehr einsam.
Ich stehe eine Zeitlang einfach da und warte darauf, dass etwas passiert, doch wie immer, wenn man das tut, verändert sich überhaupt nichts. Mit einem Sonnenstich ist nicht zu spaßen, sagt Omi immer, also überlege ich, einen Krankenwagen zu rufen, finde in meinen Hosentaschen jedoch kein Kleingeld, überlege anschließend, ob Notrufe nicht sowieso kostenlos sind, und komme zu dem Schluss, dass ich mich eigentlich ganz gut fühle. Mir ist nur ziemlich warm. Also mache mich auf den Heimweg.
Ich bin noch nicht lange unterwegs, als hinter mir ein Klingeln ertönt. Es ist Herr Langlöffler mit seinem gelben Postfahrrad. Seine verlängerte Stirn glänzt im Sonnenschein. Er klingelt noch einmal und winkt – wie jedes Mal, wenn er mich sieht. Ich will ihn ignorieren und einfach weitergehen, schließlich war er es, der uns beim Wüstenwurm in eine Falle gelockt hat, doch ich erinnere mich gerade noch rechtzeitig daran, dass das alles ja nur in meinem Kopf geschehen ist.
„Guten Morgen, Dodo!“, grüßt Herr Langlöffler und kommt neben mir zum Stehen.
Ich übergehe die Begrüßung, was sonst gar nicht meine Art ist, und frage: „Sie wissen nicht zufällig, wie spät es ist?“
Herr Langlöffler sieht mich verdattert an, fängt sich aber recht schnell. „Aber selbstverständlich. Pünktlichkeit ist für einen Postboten das A und O!“ Er schiebt den Ärmel seiner Uniform zurück und runzelt die Stirn. „Schon kurz nach drei Uhr. Dachte nicht, dass es schon so spät ist.“
Ich rechne. Um elf Uhr elf kam der Anruf. „Und heute ist Montag, richtig?“
Herr Langlöffler nickt. „Ja, ja, Montag.“ Schweißtropfen laufen über seine Schläfen. Er scheint mit seinen Gedanken ebenfalls woanders zu sein.
„Dann war ich fast vier Stunden lang weg“, murmele ich.
„Ja, ja, die Zeit vergeht wie im Fluge“, entgegnet Herr Langlöffler abwesend. „Besonders wenn man noch jung ist.“
„Hmh“, mache ich, weil mir auf die Schnelle nichts anderes einfällt.
„Wie geht es deiner Omi?“, wechselt er das Thema. „Hat Sie immer noch solche Magenbeschwerden?“
„Seitdem Strom-Klaus nicht mehr in ihrem Bauch hockt, ist alles wieder gutgut“, antworte ich gedankenversunken.
Herr Langlöffler nickt, als würde das durchaus Sinn ergeben. Vielleicht ist er als Briefträger noch ganz andere Geschichten gewohnt. Vielleicht hört er mir auch einfach nicht zu.
„Sie haben ein Paket für meine Omi“, sage ich zum einen, um die unangenehme Stille zu verscheuchen, zum anderen, um zu überprüfen, ob man mit Hilfe von Sonnenstichen möglicherweise in die Zukunft sehen kann.
„Nein, für deine Omi hab ich heute nichts dabei“, enttäuscht mich Herr Langlöffler. „Aber für dich.“ Er öffnet die große Posttasche an seinem Fahrradlenker und holt ein braunes Päckchen hervor. „Bitte sehr.“
„Von wem ist das?“, frage ich und betrachte das braune Packpapier.
„Steht denn kein Absender drauf?“
„Nein.“
„Dann weiß ich es auch nicht.“ Er lächelt unverbindlich. „Wenn du es aufgemacht hast, bist du sicher schlauer.“
Ich schüttele das Päckchen in der Hoffnung auf ein verräterisches Geräusch, doch es klötert nur unbestimmt.
„Ich muss dann auch wieder“, verkündet Herr Langlöffler und bringt seine Pedale in Stellung. „Mach‘s gut, Dodo. Und pass auf dich auf!“
„Mach ich, Herr Langlöffler. Sie auch.“
Er nickt ein letztes Mal, wischt sich über die Stirn und fährt davon.