Das Ende von Lichtwiese

„Dodo!“, schnaubt Lilly.

Es klingt, als hätte ich gerade etwas falsch gemacht, doch ich weiß nicht, was das sein könnte. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Ich sehe eine Wiese und ein wenig entfernt auf einer Anhöhe ein Wäldchen aus dünnen, astlosen Stämmen. Die Bäume sind so hoch, dass sie wie rosa Striche aussehen.

„Du hörst mir ja gar nicht richtig zu!“, beschwert sich Lilly.

Sie starrt mich mit funkelnden Augen an. Neben ihr sehe ich Samuel und Berty Bird, den Vogel mit dem langen Hals, dem Entenkopf und den rot-gelb gepunkteten Adlerschwingen. Ich schaue an mir herunter und sehe kurze Hosen, Schienbeine voller Schrammen und Turnschuhe mit Klettverschlüssen. Ich bin wieder sechs Jahre alt. Meine Überraschung hält sich in Grenzen.

„Dodo!“, reißt Lilly mich aus meinen Beobachtungen.

„Doch, doch, ich hab jedes Wort verstanden“, sage ich schnell, weil sie so böse guckt.

„Was habe ich denn gesagt?“

„Dass wir … das …“ Ich wische über mein Gesicht. Meine Wangen werden plötzlich ganz warm. „Dass wir uns beeilen sollten?“

Samuel grinst schadenfroh und hat sichtlich Mühe, nicht laut loszulachen.

„Nein, Dodo“, sagt Lilly und ihre Ohren wackeln dabei angriffslustig. „Ich habe gesagt, dass Berty Bird uns morgen um dieselbe Zeit hier wieder abholen wird.“

„Hat sie gesagt, hat sie gesagt“, plappert der große Vogel ihr nach.

„Für den Fall, dass er den Pfiff nicht hört“, fährt Lilly fort.

„Hört er schon, hört er schon, hört alles!“, versichert Berty Bird und wackelt so schnell mit seinem Entenschnabel, dass mir schwindelig wird, und ich frage mich, ob er als Küken vielleicht in eine Schale mit Jallajalla-Tee gefallen ist. Das würde zumindest seine Unruhe erklären.

„Trotzdem“, sagt Lilly. „Sicher ist sicher.“

„Ja, ja, sicher ist sicher und doppelt hält besser, man weiß ja nie“, bestätigt der Vogel, reckt den Kopf in die Höhe und stößt vor lauter Aufregung einen langen, spitzen Schrei aus.

Samuel zuckt erschrocken zusammen und hört endlich auf zu grinsen.

„Psst!“, macht Lilly. „Nicht so laut!“

„Nicht so laut, nicht so laut, ganz leise“, wispert Berty Bird.

„Ganz ruhig“, sage ich und will seinen Hals streicheln, doch er weicht aus.

„Ich bin doch ganz ruhig“, entgegnet er. „Völlig ruhig, absolut ruhig, ruhiger kannst du gar nicht sein!“

„Und bitte schrei nicht, wenn du wegfliegst“, sagt Lilly. „Es darf niemand wissen, dass wir hier sind. Verstehst du?“

„Klarklar, ich verstehe alles, kein Problem, überhaupt kein Problem.“

„Gutgut, dann bis Morgen.“

„Morgen um dieselbe Zeit! Ich werde da sein, keine Sorge, absolut zuverlässig“, bestätigt Berty Bird, breitet seine Flügel aus und schwingt sich mit einigen mächtigen Schlägen empor. Er fliegt wie eine ganz normale Mischung aus Ente und Adler. Nur sein Schnabel ist unablässig in Bewegung, so als führe er Selbstgespräche.

„Kuckuck Rosenzopf lebt in dem Rirken-Wäldchen“, sagt Lilly und zeigt auf die dünnen, rosafarbenen Bäume. „Aber seid vorsichtig! Die Grenze verläuft direkt durch den Wald.“

Ich nicke, obwohl ich nicht den blassesten Schimmer habe, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Nacheinander schlängeln wir uns zwischen den dicht beinanderstehenden Baumstämmen hindurch. Erst Lilly, dann ich, dann Samuel.

„Da ist es“, sagt Lilly nach einer Weile und bleibt stehen.

Das Haus steht auf einem kleinen Hügel und ist alt und windschief. Auf dem Spitzdach fehlen Dutzende von Schindeln. Der Schornstein hat die Form eines S.

„Da kommt Rauch raus!“, zischt Samuel, der von dem kurzen Fußmarsch schon wieder ganz rot und verschwitzt ist.

„Das sehen wir selbst!“, zische ich zurück, zum einen, weil ich mich ärgere, dass er es zuerst entdeckt hat, zum anderen, weil ich ihm das schadenfrohe Grinsen noch immer übelnehme.

„Dann müssen wir warten“, beschließt Lilly und macht es sich im Schneidersatz auf dem Waldboden bequem.

„Warum?“, fragt Samuel, und dieses Mal bin ich froh, dass er schneller war, denn Lilly verdreht ihre Augen und schüttelt den Kopf, sodass ihre Haare ins Gesicht fallen.

„Weil das bedeutet, dass Kuckuck Rosenzopf zu Hause ist, du Doofi.“

„Ja, und?“, reitet sich Samuel noch tiefer rein.

„Denkst du etwa, er lässt uns einfach so in den geheimen Tunnel?“, fragt Lilly.

„Warum denn nicht?“

„Weil wir Kinder sind.“ Sie kämmt ihre Strähnen zurück hinter die großen, abstehenden Ohren, wo sie jedoch nicht lange bleiben. „Und weil du einen … einen triftigen Grund brauchst, um die Grenze zu passieren.“

„Aber ich habe einen Grund“, sage ich. „Und außerdem bin ich schon groß.“

Lilly antwortet nicht, und wahrscheinlich ist das auch besser so.

„Vielleicht ist der Eingang zum Tunnel ja gar nicht im Haus“, sagt Samuel.

„Der geheime Tunnel liegt unter dem Haus von Kuckuck Rosenzopf“, entgegnet Lilly in einem Ton, der eigentlich keine Widerworte zulässt.

„Ja, der Tunnel vielleicht – aber was ist mit dem Eingang? Der kann doch auch woanders sein. Irgendwo ums Haus herum oder im Wald vielleicht.“

„Der Eingang ist ebenfalls im Haus“, erwidert Lilly bestimmt. „Das weiß ich von meinem Vater.“

Ich überlege. „Aber dein Vater geht doch gar nicht in die Häuser hinein. Er überbringt die Glückwünsche an der Tür und dann verabschiedet er sich. So hat er das jedes Jahr bei uns gemacht.“

„Bei uns auch!“, bestätigt Samuel.

„Der Eingang ist im Haus“, wiederholt Lilly, doch es klingt schon nicht mehr so überzeugt.

„Das kannst du doch gar nicht wissen!“, geht Samuel zum Angriff über. „Woher willst du das denn wissen?“ Er schaut mich an. „Das kann sie doch gar nicht wissen!“

Lilly antwortet nicht.

„Lilly“, sage ich und beuge mich zu ihr hinunter. „Wenn wir dem Katzenbaum bis morgen Abend kein Birkenwasser gebracht haben, war alles umsonst.“

Sie versteckt sich hinter ihren Haaren und kaut auf ihrer Unterlippe.

„Bist du dir sicher, dass der Eingang im Haus ist?“

„Bin ich nicht, aber –“, setzt sie an.

„Wusste ich‘s doch!“, triumphiert Samuel. „Du weißt nämlich auch nicht immer alles!“

„Darum geht es doch gar nicht!“, fährt Lilly ihn an. „Es ist zu gefährlich, noch tiefer in den Wald zu gehen.“

„Aber warum?“, frage ich.

„Wegen der Grenze. Selbst mein Vater hat Angst, tiefer hineinzugehen.“

„Aber warum?“, frage ich noch mal. „Was ist so gefährlich an der Grenze?“

„Dodo, das weiß ich doch auch nicht.“ Lilly sieht mich an. „Ich weiß nur, dass es sehr, sehr gefährlich ist. Kannst du mir das nicht einfach glauben?“

Samuel tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn und streckt seine Zunge raus. Beides traut er sich nur, weil er hinter Lilly steht.

„Du kannst ja hier warten, wenn du Angst hast, Hasenzahn“, sage ich und knuffe Lilly gegen die Schulter – nicht zu fest, sodass es einen blauen Fleck geben könnte, aber auch nicht zu sanft –, weil es sie immer aufmuntert, wenn ich sie knuffe und Hasenzahn nenne, doch diesmal klappt es nicht. „Wir passen schon auf uns auf.“

Dann laufe ich einfach los und umkurve die Baumstämme wie Slalomstangen. Nach nicht mal dreißig Bilbog-Ellen schnauft Samuel hinter mir: „Nicht so schnell, Dodo! Warte auf mich“, und ich werde langsamer, weil ich an Lillys Worte denken muss.

„Ich könnte wetten, dass der Eingang auf der Rückseite liegt“, keucht Samuel und zeigt in die Richtung von Kuckuck Rosenzopfs Haus. Hinter dem kleinen Hügel scheint der Wald zu enden. „Deshalb stehen da auch keine Rirken mehr.“

„Kann schon sein“, flüstere ich, weil das Haus nun wirklich nicht mehr weit entfernt ist.

„Ganz bestimmt sogar!“, sagt Samuel und hat es plötzlich sehr eilig. „Aber du musstest ja die ganze Zeit auf Lilly hören!“

Ich hasse es, wenn er sich wie der Anführer aufspielt, aber wir haben zum Streiten keine Zeit, also zische ich nur so laut ich kann: „Wir sollten trotzdem vorsichtig sein!“, während Samuel zwischen den rosafarbenen Stämmen verschwindet.

Ich laufe ihm hinterher und denke: Ihm wird sowieso bald die Puste ausgehen. Wie zur Bestätigung beginnt Samuel zu pfeifen, als wäre er ein großer Gummireifen, der ein Loch hat.

„Du weißt doch, wie Mädchen sind“, schnauft er irgendwo vor mir. „Die haben alle –“

„Die haben alle was?“, frage ich.

Samuel antwortet nicht. Ich bleibe stehen und lausche. Auch der Gumma-Reifen ist verstummt.

„Samuel?“

Wahrscheinlich versteckt er sich hinter einem Baum, um mich zu erschrecken.

„Samuel, lass den Blödsinn!“, zische ich. „Wir müssen den Eingang finden.“

Ich gehe einen Schritt weiter und erstarre. Links und rechts von mir stehen die letzten Rirken. Dahinter gibt es keinen Wald mehr und auch keinen Waldboden, nur noch den blauen Himmel. Und darunter einen schwarzen Abgrund. Zitternd lege ich mich auf den Bauch und robbe vor bis zum Rand. Der Abgrund ist so tief, dass ich den Grund nicht sehen kann.

„Samuel!“, rufe ich. „Samuel, kannst du mich hören?“

Doch die Grenze verschluckt es.