Herr Langlöffler

Hinter mir ertönte eine Fahrradklingel. Nach der ganzen Stille war das Geräusch unglaublich laut und schrill. Erschrocken drehte ich um. Herr Langlöffler, unser Postbote, kam mit seinem gelben Postfahrrad aus der kleinen Gasse neben dem Rathaus gefahren. Er klingelte noch einmal und winkte mir zu – wie jedes Mal, wenn er mich sah. Ein warmer Schauer von Normalität erfasste mein Herz.

„Da kommt jemand“, flüsterte ich Strom-Tom zu und rief dann laut: „Hallo, Herr Langlöffler!“

Immer noch winkend fuhr er über den Marktplatz, was streng genommen überhaupt keine gute Idee war, da das Kopfsteinpflaster mindestens genauso uneben wie alt war. Doch Herr Langlöffler schien das nichts auszumachen. Mit erstaunlichem Geschick und völlig unfallfrei lenkte er das schwere Postfahrrad einhändig über die Berge und Schluchten der unterschiedlich großen Steine, bis er direkt neben mir zum Stehen kam.

„Guten Morgen, Dodo!“

Er war groß, dünn, alles in allem ziemlich unscheinbar und seit über zwanzig Jahren unser Briefträger. In all der Zeit hatte er sich äußerlich kaum verändert. Nur sein ohnehin spärliches Haar hatte sich dazu entschieden, seinen Hinterkopf zu verlassen und eine kreisrunde Lichtung zu hinterlassen. Wenn Herr Langlöffler jedoch seine blaue Briefträgermütze trug, sah er noch genauso aus wie der Mann, den ich schon als kleiner Junge zwischen den Küchenfenstergardinen hindurch bei seiner Arbeit beobachtet hatte.

„Wie geht‘s denn deiner Omi?“, fragte er. „Hat sie immer noch solche Bauchbeschwerden?“

Für einen kurzen Moment dachte ich daran, ihm die Wahrheit zu erzählen. Dann fiel mir ein, dass ich die Wahrheit gar nicht kannte und sagte stattdessen: „Es geht ihr leider nicht so gut.“

Herr Langlöffler presste die Lippen zusammen und nickte nachdenklich. „Das ist schade. Wirklich jammerschade.“ Er hörte auf zu nicken und sah mich an. „Aber bestimmt geht es ihr bald besser. Mach dir keine Sorgen. Ich habe übrigens Post für euch.“ Er lächelte und öffnete eine der Taschen, die sich in dem Korb vor seinem Lenker befanden, als müsse er sich vergewissern, dass noch alles da war. „Ich bring sie gleich als Nächstes zu deiner Omi.“

„Da wird sie sich freuen“, sagte ich, um das Gespräch zu beenden.

Herr Langlöffler sah verträumt an mir vorbei auf den leeren Marktplatz. „Mach‘s gut, Dodo. Pass auf dich auf.“

„Mach ich, Herr Langlöffler. Sie auch.“

Er trat in die Pedale und fuhr davon. Ich sah dem gelben Postfahrrad nach, bis es hinter Meyers Fleischerei verschwand, und fragte mich, welchen höheren Sinn es haben konnte, dass der letzte Mensch im Dorf ein Briefträger war.

„Ist er weg?“, flüsterte Strom-Tom in meinem Bauch.

„Ja.“

„Was stehst du dann noch hier rum?“

„Ich hab nachgedacht“, sagte ich. „Und … ich wollte dir noch danken.“

„Danken? Mir? Wofür denn? „

„Dafür, dass du mich im Bildschirmschoner-Raum nicht unter Strom gesetzt hast. Obwohl dein Chef es dir befohlen hat.“

„Ach, weißt du … unter uns gesagt, hatte ich schon lange keine Lust mehr auf den Job. Und irgendwie hat es mir in der anderen Welt auch viel besser gefallen. Außerdem ist Tante Hablieblieb ein viel netterer Name als Chef.“

„Ja, das stimmt“, sagte ich. „Es war wirklich schön in Lichtwiese.“

„Und … da ist noch was anderes“, sagte Strom-Tom.

„Und was?“

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll …“, druckste er herum.

„Spuck‘s einfach aus.“

„Okaykay. … Ich mag dich. Irgendwie.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, allerdings versuchte ich es auch gar nicht erst. „Hört, hört! … Der kleine Strom-Mann wird langsam sentimental.“

„Das sind meine alten Impulse“, spielte Strom-Tom es herunter. „Komm, lass uns weitergehen.“

Ich hatte keine drei Schritte getan, als hinter mir erneut eine Fahrradklingel erklang. Ich drehte mich um und starrte ungläubig auf das gelbe Postfahrrad, das ein weiteres Mal aus der dunklen Gasse neben dem Rathaus kam. Wieder winkte Herr Langlöffler mir freundlich zu.

„Da ist schon wieder unser Briefträger“, sagte ich verwirrt.

„Der hat sich doch gerade erst verabschiedet!“, sagte Strom-Tom.

Verwirrt schaute ich zur Fleischerei hinüber, hinter der Herr Langlöffler vor wenigen Minuten verschwunden war. „Vielleicht ist er im Kreis gefahren?“

„Macht der das öfter?“, fragte Strom-Tom, doch das Postfahrrad war bereits zu nah, um noch zu antworten.

„Guten Morgen, Dodo!“, grüßte Herr Langlöffler.

„Lange nicht gesehen“, sagte ich und versuchte mich an einem unbeschwerten Lachen, welches, wie nicht anders zu erwarten, misslang.

„Wie geht‘s denn deiner Omi? Hat sie immer noch solche Bauchbeschwerden?“

Ich sah ihn verdutzt an. „Äh, ja. Immer noch. Aber das … das haben Sie mich doch gerade eben schon gefragt. Oder?“

Herr Langlöffler nickte. „Das ist schade. Wirklich jammerschade. Aber bestimmt geht es ihr bald besser. Mach dir keine Sorgen. Ich habe übrigens Post für euch.“ Wieder öffnete er die Tasche vor seinem Lenker und warf einen flüchtigen Blick hinein. „Ich bring -“

„Das haben Sie mir doch schon alles erzählt!“, unterbrach ich ihn aufgeregt.

„… zu deiner Omi“, beendete Herr Langlöffler seinen Satz.

„Strom-Tom, bitte sag mir, dass ich nicht verrückt bin!“

„Du bist nicht verrückt“, entgegnete Strom-Tom ruhig. „Euer verwirrter Briefträger erzählt tatsächlich immer dasselbe.“

Herr Langlöffler lächelte zufrieden. „Mach‘s gut, Dodo. Pass auf dich auf.“

Dann fuhr er davon.

„Glaubst du mir jetzt?“, fragte ich.

„Ist schon ziemlich seltsam“, gab Strom-Tom zu.

„Bei meiner Omi war‘s genauso. Sie hat immer dasselbe erzählt – ganz egal, was ich gesagt habe!“

„Ich will dich nicht unnötig beunruhigen … aber das sieht mir überhaupt nicht nach den typischen Gleitstrom-Symptomen aus.“

„Was ist es dann?“

„Ich hab nicht die geringste Ahnung, Dodo …“

Ich dachte nach. „Wir müssen in den Bildschirmschoner-Raum und Elenor finden. Vielleicht weiß sie mehr.“

„Dann sollten wir uns lieber auf den Weg machen, bevor der Typ zum dritten Mal hier vorbeikommt.“

Ich nickte und ging los.

Wahrscheinlich lag es an mir, aber das Kopfsteinpflaster kam mir heute wesentlich ebener vor als sonst.