Omi ist weg

Wir durchsuchten jeden Winkel des Hauses: Das Wohnzimmer, die Küche, das Badezimmer, die Räume im ersten Stock und den Dachboden. Omi blieb verschwunden, genauso wie der rot-gelb gestreifte Löffel. Ich ging sogar hinaus in den Garten und schaute im Schuppen nach – was natürlich überhaupt keinen Sinn ergab, hatte ich doch mit eigenen Augen gesehen, wie Omi von der Terrasse ins Haus gegangen war. Ich rief nach ihr, doch niemand antwortete. Nur die alte Frau Koslowski linste neugierig über den Bretterzaun. Wahrscheinlich stand sie auf einem Hocker, denn eigentlich war Frau Koslowski ziemlich klein und der Zaun ziemlich hoch.

„Haben Sie meine Omi gesehen?“, fragte ich ohne Hoffnung.

„Wen?“, fragte sie und hustete. Die schrumpelige Nasenspitze verschwand mitsamt den neugierigen Augen hinter den Holzbrettern. Anscheinend hatte Frau Koslowski zusätzlich auf Zehenspitzen gestanden, was in ihrem Alter bestimmt sehr anstrengend war.

„Meine Omi“, wiederholte ich.

Einige Sekunden verstrichen, bis Frau Koslowski jenseits der Bretterwand sagte: „Natürlich habe ich das.“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Wo? Wo haben Sie sie gesehen?“

Wieder ließ die Antwort auf sich warten. „Bei Gemüse-Schulze.“

„Wo?“ Ich presste mein Ohr gegen die Holzbretter.

„Gemüse-Schulze!“, krakeelte Frau Koslowski mit aller Kraft und jede Silbe einzeln betonend. „Auf dem Wochenmarkt! Letzten Dienstag!“

In Ermangelung eines Gegenübers starrte ich den Zaun verständnislos, dann vorwurfsvoll an. „Und danach? „

„Danach?“, krächzte Frau Koslowski. „Nee, danach nicht.“

Wortlos drehte ich mich um und stiefelte zurück ins Haus. Elenor saß mit angelegten Flügeln auf der großen Standuhr im Flur und pickte lustlos auf das Gehäuse ein. Es war bereits Viertel vor neun. Bald würde es dunkel werden.

„Ich kann Omi einfach nicht finden“, sagte ich und wischte mir über die Stirn. Meine Hand glänzte nass. „Aber irgendwo muss sie doch sein!“

Elenor sah auf und zwitscherte: „Beruhig dich, Dodo! Wir werden sie schon finden.“

Ich begann, unruhig im Flur auf und ab zu gehen. Elenors kleine Sperlingsaugen sahen mir aufmerksam dabei zu.

„Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!“, sagte ich auf der Türschwelle zum Wohnzimmer und drehte mich um.

„Sie wollte den Löffel abgeben“, tschilpte Elenor. „Das hat sie dir doch gesagt, oder?“

„Ja“, antwortete ich, ging bis zur Küche, drehte mich abermals um und kam wieder zurück. „Aber sie ist hier nirgends!“

Elenor legte ihren gefiederten Kopf schief. „Dann ist sie wahrscheinlich rausgegangen.“

„Niemals!“ Ich blieb stehen und schüttelte vehement den Kopf. „Ihre Haare waren nicht frisiert. Omi würde nie mit ungemachten Haaren auf die Straße gehen!“

„Gutgut, okay …“ Elenors Schnabel verschwand kurz unter ihrem linken Flügel. „Dann ist sie vielleicht im Keller?“

„Wir haben keinen Keller.“

Elenor stieß ein schrilles Tschilpen aus, was wahrscheinlich ihren Verdruss zum Ausdruck bringen sollte. Danach war nur noch das Ticken der Standuhr zu hören.

„Wenn ich auch mal was sagen dürfte …“, meldete sich Strom-Tom.

Elenors Kopf ruckte hektisch umher. „Dodo, hast du das gehört?“

Ich sah zur Zimmerdecke und suchte nach einer Ausrede, doch alles, woran ich denken konnte, war Omi. Also sagte ich: „Das kam aus meinem Bauch.“

Die kleinen, schwarzen Augen fixierten mich, und Elenor piepste ungläubig: „Aus deinem Bauch?“

Ich nickte. „Darf ich vorstellen: Das ist Strom-Tom.“ Ich machte eine Pause und wandte mich an meinen Bauch. „Strom-Tom, das Mädchen, das du hörst, ist Elenor. Aber eigentlich ist sie ein Vogel.“

„Ja, ja, das weiß ich doch alles!“, blaffte Strom-Tom. „Ich war doch dabei, schon vergessen?“

Tatsächlich hatte ich durch die ganze Aufregung das kleine Männchen in meinem Magen beinah vergessen, aber das gab ich natürlich nicht zu.

„Wer ist das?“, piepste Elenor.

„Strom-Tom“, sagte ich noch einmal.

„Und was macht er in deinem Bauch?“

„Das erkläre ich dir ein anderes Mal“, sagte ich. „Zuerst müssen wir Omi und den Löffel finden.“

„Ich wüsste vielleicht, wo sie ist …“, schaltete sich Strom-Tom wieder ein.

„Und warum solltest gerade du mir sagen, wo wir sie finden?“, fragte ich gereizt. „Dir haben wir das alles doch erst zu verdanken. Du willst doch gar nicht, dass wir den Löffel wiederfinden!“

„Dodo“, zwitscherte Elenor. „Lass deinen Bauch doch mal ausreden.“

Ich verstummte und schüttelte den Kopf.

„Danke“, sagte Strom-Tom. „Zufällig hab ich nämlich Kontakte.“

„Kein Wunder!“, lachte ich bitter. „Du bist ja auch der Strom-Tom!“

„Sehr witzig, Dodo … wirklich, sehr witzig.“ Strom-Tom machte eine Pause. Dann sagte er: „Das war nicht deine Omi, die mit dem Löffel abgehauen ist.“

„Nein, natürlich nicht!“, fiel ich ihm mit wedelnden Handbewegungen ins Wort. „Ich hab mich auch schon immer gewundert, wer diese alte Frau ist!“

„Das war nicht deine Omi“, wiederholte Strom-Tom ruhig. „Das war Strom-Klaus. Er ist in deiner Omi. So wie ich in dir bin. Schon seit vielen Jahren. Was denkst du, warum sie immer solche Bauchschmerzen bekommt, wenn du sie nach deinen Eltern fragst?“

Ich schluckte trocken. Alles ergab plötzlich einen Sinn. Alles war so offensichtlich, dass ich mich fragte, warum ich nicht selbst darauf gekommen war. Ich grübelte, bis mein Hirn zu summen anfing, mein Mund sich öffnete, und ich entschlossen sagte: „Das ist nicht wahr!“

„Es tut mir leid“, sagte Strom-Tom. „Wirklich …“ Wieder machte er eine Pause. „Strom-Klaus …“, setzte er an. „Wie soll ich sagen? Strom-Klaus gehört nicht unbedingt zu den Nettesten von uns.“

„Was heißt das?“, fragte ich und lauschte dem Summen in meinem Kopf.

„Na ja, er nimmt seinen Job halt sehr ernst“, erklärte Strom-Tom. „Wenn er den Auftrag hat, jemanden auf Trab zu halten, dann macht er das auch. Was glaubst du denn, warum deine Omi immer so viel und so hart gearbeitet hat? Das nennen wir in der Fachsprache: Unter Strom stehen.“

„Das … das nennen wir auch so.“ Mein Kopf fühlte sich an wie ein Bienenstock zu Frühlingsbeginn.

„Echt?“, fragte Strom-Tom erstaunt. „Na ja, auf jeden Fall sind wir für so was zuständig. Magenkrämpfe, Sodbrennen, Übelkeit – da ist häufig einer von uns am Werk.“

„Du bist da auch noch stolz drauf, oder?“

„Es ist nun mal mein Job“, sagte Strom-Tom kleinlaut. „Und den will ich nicht verlieren. Wer stellt denn heutzutage noch einen arbeitslosen Strom-Fachmann ein?“

„Bei uns ist gerade eine Stelle freigeworden“, tschilpte Elenor. „Wir suchen händeringend einen Krabbelkasten-Leuchter.“

„Tatsächlich?“

„Könnt ihr das vielleicht auf später verschieben?“, unterbrach ich das Vorstellungsgespräch und wandte mich wieder an Strom-Tom. „Wo ist meine Omi jetzt? Wo hat Strom-Klaus sie hingebracht?“

„Vor eurem Schuppen … befindet sich eine Geheimtür“, antwortete er zögerlich.

„Du meinst die Schuppentür?“

„Nein, davor.“

„Aber davor ist keine Tür!“

„Genau deshalb nennt man sie ja Geheimtür“, erwiderte Strom-Tom genervt. „Weil man sie nicht sieht!“

„Aber da ist doch wirklich nichts!“, beharrte ich. „Überhaupt nichts!“

„Doch. Rasen.“

Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, was sich aufgrund des Bienenschwarms in meinem Kopf jedoch als recht schwierig herausstellte.

„Verstehst du jetzt, warum du den Rasen vor dem Schuppen nie mähen durftest?“, fragte Strom-Tom.

Und erneut fragte ich mich, wie ich so lange so blind gewesen sein konnte.

Wir gingen hinaus in den Garten. Das grüne Ungeheuer erwachte bereits beim ersten Versuch. Missmutig spuckte es Grasfontänen nach mir, während ich es mühsam durch das hüfthohe Gras schob. Sogar für seine messerscharfen Zähne war es eine Herausforderung, doch nach und nach lichtete sich das Dickicht vor dem Schuppen.

„Da ist nichts“, sagte ich und strich Grashalme von meinem T-Shirt.

„Da muss etwas sein!“, entgegnete Strom-Tom. „Mäh einfach weiter!“

Eine Bahn später hörten wir das Geräusch. Ein metallisches Klonk. Ich zog das grüne Monster zurück und beugte mich vor.

„Da … da ist etwas“, sagte ich, doch es ging im Grollen des Ungetüms unter. Ich ließ den Sicherheitshebel los, das Monstrum verstummte, und ich sagte es noch einmal: „Da … da ist etwas.“

Elenor kam herbeigeflogen, setzte sich auf meine Schulter und trällerte: „Das sieht aus wie eine …“

„Wie eine Tür“, ergänzte ich.

„Eine Geheimtür“, verbesserte Strom-Tom.

„Eine Geheimklappe“, verbesserte ich abermals und kam mir ziemlich gewitzt vor.

„Mach sie auf“, zirpte Elenor aufgeregt.

Die Tür, bei der es sich eigentlich um eine Klappe handelte, da sie ja horizontal und nicht vertikal befestigt war, erwies sich als leichter, als sie aussah.

„Und?“, fragte Strom-Tom ungeduldig. „Was seht ihr?“

„Eine Treppe“, sagte ich und starrte in das dunkle Loch zu meinen Füßen. Die Sonnenstrahlen reichten keine zwanzig Stufen weit. Dahinter herrschte absolute Schwärze. „Eine ziemlich lange Treppe.“

Niemand entgegnete etwas. Ich wartete einige Sekunden lang, aber auch das änderte nichts.

„Und jetzt?“, fragte ich schließlich.

„Jetzt gehen wir da hinunter“, zwitscherte Elenor auf meiner Schulter.

Ich schaute wieder in das Loch hinab. Auf meinen Unterarmen bildete sich eine beachtliche Gänsehaut. Ich blickte hinauf in den hellblauen Himmel, atmete tief durch und machte mich an den Abstieg.