Die andere Seite

Ein Blitz durchzuckte meinen Körper, meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen und mir wurde schwarz vor Augen.

„Sind wir da?“, fragte Strom-Tom. Er klang ängstlich.

„Sag mir doch vorher Bescheid, wenn du mich unter Strom setzt! Verflixt und zugenäht!“ Ich fühlte mich, als hätten meine Hirnhälften die Seiten getauscht.

„Kannst du was sehen?“

Ich öffnete die Augen. Die Finsternis blieb. „Nein … ich sehe gar nichts“, stellte ich erschrocken fest. „Strom-Tom, ich bin blind!“

„Beruhige dich, Dodo! Das liegt bestimmt am Grenzübergang. Das geht gleich vorbei.“

Strom-Tom hatte recht. Nach und nach schälten sich Formen und Farben aus der Dunkelheit. Der Tunnel war verschwunden.

„Wir stehen in einem Raum“, sagte ich. Er war groß und leer und leuchtete.

„Wir stehen in einem Raum?“, echote Strom-Tom aufgeregt.

Ich sah zur Decke hinauf. „Er ist lila.“

„Lila?“

„Ja …“ Mein Blick wanderte über die Wände. „Oder eher blau.“

„Was denn nun?“, fragte Strom-Tom mit einem Anflug von Panik. „Lila oder blau?“

„Rosa“, sagte ich zu meiner eigenen Verwunderung. „Der Raum ändert seine Farbe. Jetzt ist er gelb. Das sieht … das sieht unglaublich schön aus.“ Staunend drehte ich mich im Kreis, während das Gelb in ein strahlendes Rostbraun überging. „Wirkt irgendwie beruhigend …“

„Pass lieber auf, Dodo! Das ist bestimmt ein fieser Trick.“

„Was denn für ein Trick?“, fragte ich und drehte mich weiter im Kreis.

„Damit wir uns in Sicherheit wiegen.“

„Ach, Quatsch …“ Meine Stimme schien plötzlich von weither zu kommen. „So was Schönes habe ich noch nie gesehen …“

„Ja eben! Das ist ja der Trick! Genauso wie es fleischfressende Pflanzen machen: Die Fliege sieht eine wunderschöne bunte Blüte und dann – schwupp! Wird sie gefressen!“

Strom-Toms Exkurs in die Welt der Botanik ließ mich weitestgehend unberührt. „Du musst aber auch immer gleich an etwas Schlechtes denken …“

„So ist das Leben!“, rief Strom-Tom. „Du musst auf alles gefasst sein. Ist da irgendwo eine Tür oder so was?“

Ich sah keine Tür. Die wunderschönen Farben waren das Einzige, wofür ich Augen hatte.

„Dodo? Dodo, wach auf, verdammt noch mal! Wir müssen hier raus! Und zwar schnell!“

Strom-Toms aufgeregtes Zetern störte meine staunende Begeisterung. Widerwillig stoppte ich meine kreiselnden Bewegungen und sah mich um. Zu meiner Enttäuschung fand ich die Tür auf Anhieb. „Ja, da vorne ist eine.“

„Dann los! Lass uns den Löffel holen und hier verschwinden!“

Die Tür war näher, als ich dachte. Ich drückte die Klinke hinunter, trat einen Schritt aus dem bunten Raum heraus und fiel vornüber. Die Welt um mich herum wurde schwarz. Ich schrie. Wieder fühlte es sich an, als würde mein Kopf auf links gezogen.

Das Erste, was ich danach hörte, war Vogelgezwitscher. Lautes, buntes, von allen Seiten kommendes Vogelgezwitscher. Und weit entfernt ein lang gezogenes Heulen, welches regelmäßig von einem keuchenden Hustenanfall unterbrochen wurde. Ein asthmatischer Wolf, dachte ich und schlug die Augen auf. Mein Mund öffnete sich mit einer halben Sekunde Verzögerung und presste ein kräftiges „Wooow!“ in die Welt hinaus.

„Was denn?“, fragte Strom-Tom.

Auf den ersten Blick war es einfach unbeschreiblich. Auf den zweiten waren es Bäume mit einem Umfang von zehn Litfaßsäulen und der Höhe von Wolkenkratzern, träge von den Ästen herunterhängende mannsdicke Lianen, zwischen den Stämmen wuchernde Pflanzen mit schillernden Blüten und Schwärme aus rosa-grünen kleinen Vögeln, die zwischen und über alldem umherflogen.

„Was denn, was denn?“, fragte Strom-Tom wieder.

„Wir stehen mitten im Wald“, sagte ich.

„Na und? Das haben wir vor zehn Minuten auch schon.“

„Aber nicht im Tropenwald …“

„Oh Gott, oh Gott, oh Gott, ich hab davon gehört“, jammerte Strom-Tom. „Da gibt‘s wilde Tiere! Und wenn die dich fressen, dann fressen die auch mich. Und dann bin ich im Bauch von einem Bauch!“

Eine unterarmgroße Libelle flog mit einem lauten Surren an meinem Kopf vorbei. Ihr Körper war gelb-schwarz gestreift. Eine Hummel-Libelle, dachte ich und kam mir ziemlich pfiffig vor.

„Dann mal los!“, verkündete ich gut gelaunt, stand auf und klopfte meine Hose ab, obwohl sie überhaupt nicht staubig war. Es war mehr eine symbolische Handlung.

„Du willst da wirklich reingehen?“

„Das ist unser Job, oder?“ Ich konnte es kaum erwarten, diese fremde Welt zu erkunden.

Strom-Tom schien meinen Tatendrang nur bedingt zu teilen. „Ja … leider …“

Dann schwieg er. Wahrscheinlich dachte er über einen Jobwechsel nach. Doch der Arbeitsmarkt für Strom-Männchen war nicht besonders groß, also sagte Strom-Tom schließlich: „Aber merk dir, wo wir reingekommen sind, ja? Nicht, dass wir uns nachher noch verlaufen. Mach irgendwo ‚ne Markierung, damit wir die Tür auch wiederfinden, okaykay?“

Ich drehte mich um, sah den unlackierten Türrahmen hinauf und sagte matt: „Ich glaube, das brauchen wir nicht …“

„Natürlich brauchen wir das! Sonst finden wir nachher nicht zurück!“

Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Keine Sorge“ – oder etwas, dass entfernt wie „Keine Sorge“ klang, denn leider war es mir unmöglich, den Mund vollständig zu schließen. „Die Tür finden wir auf jeden Fall wieder.“

„Und wieso?“ Strom-Tom verlor langsam die Geduld.

„Weil sie etwa 150 Meter hoch ist“, sagte ich und legte meinen Kopf ein Stück weiter in den Nacken, um die Türklinke sehen zu können.