Die Prüfung des Königs

Ich erwachte von meinen eigenen Schreien.

„Beruhige dich, mein Freund. Beruhig dich.“ Der Reiter hockte neben mir auf dem sandigen Boden. „Du hast nur geträumt.“

Die Welt hatte ihre Farbe wiedererlangt. Ich lag auf einem Bett aus schillernd bunten Kissen. Über mir spannte sich eine schwere Plane. Eine Öllampe warf lange Schatten in das Zeltinnere.

„Wo bin ich?“, fragte ich.

„In Sicherheit.“

Ich wollte aufstehen, doch der Reiter hielt mich behutsam zurück. „Langsam, mein Freund, ganz langsam. Du hast eine lange Reise hinter dir.“

Hinter ihm saß ein weiterer Mann. Er war groß und massig und trug ebenfalls ein schwarzes Gewand. Sein Gesicht war ein dunkler Fleck, aus dem eine aufdringlich große Nase hervorstach. Der Mann beugte sich vor und flüsterte dem Reiter etwas ins Ohr.

„Das werden wir bald sehen“, erwiderte der Reiter.

Der andere Mann stellte eine weitere Frage. Dabei wirbelte seine Nase wie ein Taktstock hin und her.

„Gleich, Bashshar“, sagte der Reiter. „Gib ihm noch ein paar Minuten.“

Bashshar stand auf und ging wortlos hinaus. Als er den Vorhang beiseite schob, war für einen Moment der wolkenlose Nachthimmel zu sehen.

„Wie lange habe ich geschlafen?“, fragte ich.

„Viele Stunden“, antwortete der Reiter.

„Kommt mir vor, als wären es Tage gewesen.“

„Wie fühlst du dich?“

Ich horchte in mich hinein. „Gut. Sehr gut.“ Es entsprach der Wahrheit. Ich fühlte mich blendend. „Mir kommt es vor, als könnte ich endlich wieder klar sehen. So als ob der Schleier vor meinen Augen endlich verschwunden wäre.“

Der Reiter nickte. „Die Wirkung des Birkenwassers.“

Ich horchte weiter und erschrak. „Ich … ich kann …“, stotterte ich und verstummte gleich wieder, bis ich das gesamte Ausmaß der Veränderung erkannt hatte. „Ich kann mich wieder erinnern!“, stieß ich schließlich hervor. „An Lichtwiese, an Elefanto, an Elenor! An einfach alles!“

Wieder nickte der Reiter. „Schon ein kleiner Schluck Birkenwasser genügt, um all deine Gehirnzellen zu regenerieren. Auch die bereits abgestorbenen.“

„Das ist gut“, sagte ich und nickte ebenfalls. „Sehr gut. Großartig!“

Ich nickte noch einige Zeit weiter, während ich meine neu gewonnenen Erinnerungen erkundete. Der Reiter beobachtete mich aufmerksam dabei.

„Ich heiße Agerian.“

Er streckte mir seine Hand entgegen. Sie war warm und erstaunlich weich.

„Ich bin Dodo.“

Ein Lächeln breitete sich auf Agerians Lippen aus. „Wie Dodofonie?“

„Das höre ich andauernd“, entgegnete ich. „Aber ich weiß noch immer nicht, was dieses Wort überhaupt bedeutet.“

„Es ist der Name einer Oper. Einer sehr schönen sogar.“

Ich überlegte. „Sag mal, Agerian, du weißt nicht zufällig, wie man nach Dunkelstadt kommt?“

Etwas in seinem Gesicht veränderte sich. Seine Augen wurden schmaler. So als ziele er auf etwas weit Entferntes. „Was willst du dort?“

„Ich muss jemanden befreien. Elenor. Sie wird in Dunkelstadt gefangengehalten.“

„Warst du schon einmal dort?“

„Ja, aber nur kurz. Wir haben eine Sightseeing-Tour gemacht. Kann ich dir nicht empfehlen, ist sehr eigenartig.“

Agerians Gesichtszüge entspannten sich. „Ich werde dir den Weg zeigen. Später.“ Er stand auf.

Ich sah zu ihm hinauf. „Wohin willst du?“

Wie auf ein stilles Kommando hin öffnete sich der Vorhang und eine spitze Nase schob sich ins Zelt.

„Agerian, es ist soweit“, sagte die Stimme, die anscheinend zu der Nase gehörte, welche im Gesicht eines Mannes namens Bashshar zu ihrer eindrucksvollen Länge herangewachsen war.

„Komm, Dodo“, sagte Agerian. „Es ist Zeit zu gehen.“

Wir traten hinaus in die Nacht und gingen zwischen den Zelten hindurch, von denen manche die Größe eines Ein-Familien-Hauses hatten. Es war kalt. Ich schlang die Arme um mein dünnes T-Shirt und zitterte. Beduinen in schwarzen Gewändern unterbrachen ihre Gespräche und sahen uns nach. Etwas abseits standen einige Ziegen dicht gedrängt hinter einem Gatter. Ihr Fell leuchtete im Mondschein.

„Der großherzige König Hatim erwartet uns“, wandte sich Bashshar zum ersten Mal an mich. Kleine Wolken stiegen aus seinem Mund auf.

„Du hast sehr viel Birkenwasser getrunken“, sagte Agerian. „Unser ehrwürdiger König setzt große Hoffnung in dich.“

„Und was genau soll ich tun?“, fragte ich.

„Du hast die Ehre, König Hatim die Zukunft vorauszusagen.“

„Aber ich … ich bin doch kein Hellseher.“

„Es ist nicht ratsam, dem König eine Bitte abzuschlagen“, sagte Bashshar. „Du wärst nicht der Erste, der unserem herrlichen Sandgott Zaimzaki geopfert wird.“

Ich glaubte, ein Lächeln im Schatten der riesigen Nase zu erkennen.

Das Zelt, vor dem wir stehenblieben, hätte jedem Wanderzirkus ausreichend Platz geboten. Sogar eine Elefanten-Nummer wäre nicht ausgeschlossen gewesen.

„Sprich nur, wenn du direkt angesprochen wirst“, sagte Agerian, bevor er den schweren Vorhang beiseite schob.

Im Inneren des Zirkuszelts war es angenehm warm. Unzählige Neonlampen flackerten lilafarben von der Decke. An den Wänden hingen riesige Flachbildschirme und präsentierten Diashows von Wüstenlandschaften. Die Mitte des Raums wurde von einem roten Teppich bedeckt, auf dem sich ein beachtlicher Berg aus Kissen auftürmte, auf dessen Gipfel wiederum ein recht kleiner Mann mit einem jedoch sehr beeindruckenden Vollbart saß. Irgendwo im Dunkeln brummten Heizlüfter.

Der Vollbart nickte in unsere Richtung, und Agerian flüsterte mir zu: „Komm!“

Wir gingen bis zum Teppichrand.

„Und jetzt verbeugen.“

Wir verbeugten uns.

„Oh, du großherziger König Hatim“, schwärmte Bashshar. „Wir haben eine große Freude für dich: Einen jungen Mann namens Dodo, der Birkenwasser getrunken hat.“

„Herzlich willkommen in meinem Königreich, Dodo“, sagte König Hatim. Er hatte eine überraschend tiefe Stimme für seine Statur.

„Danke“, sagte ich. „Es freut mich sehr, bei Ihnen zu Gast zu sein.“

König Hatim bedachte mich mit einem gutmütigen Lächeln. Dann fragte er: „Warum hast du von unserem heiligen Birkenwasser gekostet?“

„Ich wusste nicht, dass es Birkenwasser war“, sagte ich. „Ich war einfach sehr, sehr durstig.“

König Hatim nickte zufrieden, als hätte er genau diese Antwort erwartet. „Ich habe Fragen an dich, Dodo.“

„Okay“, sagte ich und begann zu schwitzen.

„Aber denke daran: Wenn du redest, dann muss deine Rede besser sein, als es dein Schweigen gewesen wäre.“

„Okay“, sagte ich wieder und wischte mir über die Stirn.

„Ich werde dir drei Fragen stellen. Wenn du sie alle richtig beantwortest, wird unmessbarer Reichtum dein Lohn sein. Solltest du aber versagen, so gehört deine Seele den Göttern.“

„Und was genau heißt das?“

„Hab keine Angst, Dodo. Wer im Meer schwimmen kann, geht in einem Bach nicht unter.“

Ich verzichtete darauf zu erwähnen, dass ich überhaupt nicht schwimmen konnte.

„Bist du bereit?“, fragte König Hatim.

Ich nickte und pulte an meinen Fingern.

König Hatim lehnte sich in seinem Kissenberg vor. „Die erste Frage lautet: An welchem Tag kommen die 5/78-Soldaten aus Dunkelstadt zurück?“

„Das … äh …“ Ich spürte, wie meine Wange glühten. „Ich weiß es nicht, tut mir leid.“

Doch so schnell gab der König nicht auf. „Beim letzten Angriff konnten wir uns erfolgreich gegen sie verteidigen, deshalb werden sie nun in doppelter Anzahl zurückkommen. Konzentriere dich! Wann erfolgt der nächste Angriff?“

„Ich weiß es nicht“, stammelte ich. „Wirklich nicht. Woher denn auch? Ich bin doch kein Hellseher.“

Enttäuscht ließ König Hatim sich in die Kissen zurücksinken. „Ein goldener Sattel macht einen Esel noch lange nicht zum Pferd. Dieser Junge ist wertlos. Bringt ihn in die Platinensümpfe!“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung, und aus den Schatten der Ecken traten Beduinen hervor. Sie bildeten einen Kreis um uns. Einige von ihnen trugen Säbel in den Händen, andere schwere Ketten.

„Das ist deine eigene Schuld, Agerian“, sagte Bashshar. Dann ging er zwischen den Beduinen hindurch. Niemand hielt ihn auf.

„Ich hab euch doch gar nichts getan!“, rief ich. „Ich würde es euch doch sagen, wenn ich etwas wüsste!“

„Warum hast du nicht irgendwas erfunden?“, zischte Agerian, während die Beduinen langsam auf uns zukamen. „Jetzt sitzen wir ganz schön in der Patsche, mein Freund …“

Die Zeit der Gastfreundschaft war vorbei.