Der Brennnessel-Tee-Test
Nachdem ich meine Bestellung aufgegeben hatte, passierte einen langen Moment lang erst einmal überhaupt nichts. Der Wüstenwurm surrte mit seinen vielen, kleinen, unglaublich schnellen Beinen über den Sand, draußen flogen die scheinbar immer gleichen Muster aus Felsen und Kakteen vorbei, und Elenor rutschte unruhig in ihrem Sitz hin und her, was ihr gelbes Federkleid zu einem rhythmischen Rascheln veranlasste.
Dann knackte es endlich im Lautsprecher und der Pilot sagte: „Können Sie das bitte noch einmal wiederholen?“
„Meine Bestellung?“, fragte ich.
„Ganz genau“, erwiderte der Pilot. „Damit auch jeder weiß, worum es geht.“
„Es geht um unsere Getränkewünsche, oder?“, fragte ich vorsichtshalber.
„Selbstverständlich. Aber vielleicht erinnern sich ja nicht mehr alle daran.“
„Alle?“ Ich sah erst Elenor an, dann Agerian und machte abschließend einen Schwenk durch den Rest des Großraumabteils, um wirklich sicher sein zu können. „Aber außer uns Dreien ist doch niemand hier.“
„Es geht darum, dass manche Leser das Ende von Band 5 vielleicht schon wieder vergessen haben“, schaltete sich Strom-Tom ein. „Die haben auch noch andere Sachen zu tun. Wie zum Beispiel Staubsaugen, die Steuererklärung machen oder aufpassen, dass die Nudeln nicht überkochen.“
„Außerdem sind wir zu fünft, nicht zu dritt“, ergänzte Strom-Klaus.
In meinem Kopf hatte sich innerhalb weniger Sekunden eine Vielzahl von Fragen angesammelt, welche nun alle gleichzeitig versuchten, sich durch das Nadelöhr namens Mund nach draußen zu drücken, und sich dabei hoffnungslos ineinander verkeilten.
„Steuererklärung machen?“, setzte sich durch und schoss ins Freie.
„Zum Beispiel“, entgegnete Strom-Tom.
Stück für Stück löste sich der Fragen-Pfropfen. „Was denn für Leser überhaupt? Und was für ein Band 5?“
„Also wir hätten gerne zwei Eskimonaden“, unterbrach Agerian meine Aufarbeitung der Geschehnisse.
„Eiskalt, bitte“, ergänzte Elenor, ohne ihren Blick von dem Wüstenpanorama abzuwenden.
„Und du wolltest doch auch etwas trinken“, sagte Agerian zu mir. „Oder, Dodo?“
„Was?“, presste ich an den anderen Fragen vorbei.
„Du wolltest einen Brennnessel-Tee“, half Strom-Tom mir auf die Sprünge.
Ich nickte. „Ja, stimmt.“
„Dann los! Bestell einen!“
In Ermangelung eines direkten Gegenübers wandte ich mich in Richtung des Lautsprechers, auch wenn das streng genommen natürlich keinen Sinn ergab und sagte: „Ich hätte gerne einen Brennnessel-Tee.“
„Igitt!“, dröhnte es uns entgegen. „So etwas Abartiges führen wir nicht!“
„Brennnessel-Tee“, wiederholte ich für den Fall, dass der Pilot irrtümlicherweise Kakerlaken-Auflauf mit Maden-Ragout verstanden hatte. „Ich hätte gerne eine Tasse Brennnessel-Tee.“
„Tut mir leid“, sagte der Pilot in einem nicht besonders bedauernden Tonfall. „Das werden Sie zwischen hier und Dunkelstadt nirgendwo bekommen.“
„Aber warum denn nicht?“, fragte ich.
„Weil Brennnessel-Tee das ekeligste Getränk überhaupt ist!“
„So ein Mist!“, fluchte Strom-Tom, und ich musste ihm zustimmen.
Agerian sah genauso ratlos aus, wie ich mich fühlte. Elenor starrte noch immer aus dem Fenster, doch ich glaubte, ein kleines Lächeln in ihrem Gesicht zu erkennen.
„Wer so was trinkt, isst auch Kalaku-Kraut zum Frühstück!“, verlieh der Pilot seinem Ekel weiter Ausdruck.
Obwohl ich nur eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was Kalaku-Kraut war, sprudelte Empörung in mir hoch. „Na, hören Sie mal! Was fällt Ihnen eigentlich ein? Meine Omi trinkt jeden Tag Brennnessel-Tee! Und die würde niemals irgendein Kraut zum Frühstück essen! Brennnessel-Tee ist übrigens sehr gesund. Der hilft besonders gut bei …“ Ich stutzte. „Moment mal …“
Agerian betrachtete mich mit sorgenvoller Miene, und sogar Elenor schenkte mir einen Seitenblick.
„Das ist es!“, rief ich. „Meine Omi! Bei uns im Küchenschrank haben wir jede Menge Brennnessel-Tee.“
Schlagartig hellte sich Agerians Gesicht auf. „Okaykay, das ist gut. Das ist sogar sehr gut! Dann wünschen wir uns einfach in die Speisekammer deiner Omi.“
Elenors Kopf ruckte herum. „Wünschen? Wie wollt ihr euch etwas wünschen? Ihr habt doch nicht etwa den rot-gelb gestreiften Löffel?!“
„Ähm …“, machte ich und spürte, wie die Luft aus mir entwich.
„Tja …“, sagte Agerian. „Hatten wir dir … das nicht erzählt?“
Elenor schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war versteinert, das Lächeln verschwunden.
„Haben wir wohl vergessen“, sagte Agerian.
„Du wolltest ja lieber Shoppen gehen“, fügte ich hinzu und fühlte mich gleich wieder besser.
„Wo ist er?“, frage Elenor.
„In meinem Bauch“, sagte ich. „Strom-Tom hat ihn.“
„Und Strom-Klaus“, ergänzte Strom-Klaus, der anscheinend befürchtete, dass man ihn sonst vergessen könnte.
„Wir müssen den Löffel da rausholen“, verkündete Elenor in einem Tonfall, als handele es sich um verschüttete Minenarbeiter.
„Warum?“, fragte Strom-Klaus. „Hier drinnen ist er doch supersicher.“
Elenor schaute von mir zu Agerian und wieder zurück. Etwas in ihr schien zu brodeln. „Ihr wollt den Löffel doch benutzen, richtig?“
Obwohl es eindeutig eine rhetorische Frage war, konnte ich nicht anders, als zu nicken.
„Dafür müsst ihr aber an ihm lecken“, fuhr Elenor fort und hob die Stimme. „Und das geht wohl etwas schwer, wenn er in Dodos Bauch liegt!“ Ihr Federkleid raschelte aufgeregt.
„Das ist überhaupt kein Problem“, entgegnete Strom-Tom ruhig. „Dodo sagt mir einfach, was er sich wünscht, und ich denke dann daran, wenn ich am Löffel lecke. Ganz simpel, oder?“
Wortlos drehte sich Elenor Richtung Fenster. Es sah nicht so aus, als würde das Lächeln bald zurückkehren.
„Na gut, dann los“, sagte ich. „Wünsch uns in Omis Speisekammer!“
„Nicht so schnell“, bremste Strom-Tom meine Euphorie. „Schon vergessen? Jeden Tag nur einen Wunsch. Und heute haben Strom-Klaus und ich uns schon etwas gewünscht: die Flucht aus Dunkelstadt in deinen Bauch.“
„Ach ja, stimmt …“ Ich rutschte ein Stück in meinen Sitz hinein.
„Dann warten wir halt bis Mitternacht“, schlug Agerian vor. „Hat jemand eine Uhr dabei?“
„Gleich halb sechs“, entgegnete Strom-Klaus. „Das heißt, noch sechseinhalb Stunden.“
„Okay“, sagte ich und setzte mich wieder aufrecht hin. „Um Mitternacht wünschen wir uns zu mir nach Hause und dann …“ Ich linste zu Elenor hinüber. Sie zeigte keine Reaktion. „Und dann sehen wir weiter.“
„Gutgut, so machen wir‘s“, sagte Agerian und drehte sich um. „Was ist denn nun mit den Eskimonaden? Ich bin wirklich durstig.“
Zu meiner Überraschung sprach er ebenfalls unsinnigerweise in Richtung des Lautsprechers. Vielleicht vermutete er dort auch das Mikrofon.
„Im vorletzten Waggon steht ein Getränkeautomat“, entgegnete der Pilot nach dem obligatorischen Knacken. „Bitte bedienen Sie sich.“ Seit der Brennnessel-Tee-Diskussion war er seltsam schmallippig geworden.
Agerian stand auf. „Willst du auch eine, Dodo? Wir sitzen hier bestimmt noch einige Zeit lang fest.“
„Vielleicht ist es besser, wenn wir zusammenbleiben“, äußerte ich meine Bedenken.
„Du schaffst das schon. Außerdem sind deine Strom-Männchen ja auch noch da.“
Agerian klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und ging durch den schmalen Gang zwischen den Rückenlehnen. Kurz darauf zischte die Waggontür.
Sechseinhalb Stunden, dachte ich. Sechseinhalb Stunden und wir würden uns nach Hause wünschen, und ich würde allen zeigen, dass Elenor die echte Elenor war. Alles würde gut werden.
„Wann hast du aufgehört, mir zu vertrauen?“, fragte Elenor.
Ihr Blick war vorwurfsvoll. Ich spürte, Hitze in mir aufsteigen.
„Aber ich vertraue dir doch“, sagte ich und wischte mir über die Stirn.
„Tust du nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sonst hättest du mir erzählt, dass ihr den rot-gelb gestreiften Löffel habt.“
„Aber …“, begann ich. „Aber ich wollte dir doch davon erzählen. Wirklich! Es war nur immer jemand in der Nähe, deshalb konnte ich nicht.“
Sie schüttelte erneut den Kopf, sah aus dem Fenster und schwieg, was irgendwie noch schlimmer war, als wenn sie mir weiter Vorwürfe gemacht hätte.
Ich hielt die Stille nicht lange aus.
„Elenor … bitte, du musst mir glauben! Ich wollte dir von dem Löffel erzählen, und ich vertraue dir.“
„Agerian versucht, einen Keil zwischen uns zu treiben.“
Ich überlegte. „Warum … warum sollte er das tun?“
„Sag du es mir.“ Sie sah mich an und zog die Augenbrauen hoch.
„Könntest du bitte kurz mal Elenors Hand nehmen?“, fragte Strom-Tom in einem Höchstmaß an Freundlichkeit. „Nur ganz kurz?“
„Warum?“, fragte ich.
„Damit ich ihr einen saftigen Stromschlag verpassen kann für den ganzen Mist, den sie erzählt!“
Elenor zeigte sich unbeeindruckt. „Und Strom-Tom hilft Agerian dabei.“
„Strom-Tom ist mein Freund“, hielt ich dagegen. „Und Agerian hat mir das Leben gerettet.“
„Wenn du meinst …“ Ihre Augenbrauen wanderten wieder Richtung Haaransatz. Das Federkleid raschelte. „Du solltest dich vielleicht mal fragen, warum die beiden dich dazu bringen wollen, deinen nächsten Wunsch für Brennnessel-Tee zu verschwenden – anstatt deine Omi zu retten.“
„Weil …“, setzte ich an und verstummte.
Elenor lehnte sich nach vorne. „Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Hätte ich mich ebenfalls vorgebeugt, hätten sich unsere Nasen berührt.
„Hörst du, Dodo? Deine Omi ist in großer Gefahr. Wir müssen sie so schnell wie möglich retten. Sie und Tante Hablieblieb. Das ist jetzt das Allerwichtigste! Damit können wir nicht noch einen Tag warten!“
„Warum hörst du ihr überhaupt zu?“, fragte Strom-Tom. „Wir machen den Test mit ihr – ganz egal, was sie erzählt.“
„Was für einen Test?“, fragte Elenor.
Ich antwortete nicht.
„Was für einen Test, Dodo?“
„Einen Test halt …“
Irgendetwas in meinen Brustkorb zog sich zusammen. Plötzlich fühlte ich mich gar nicht gut.
Elenor rückte noch ein Stück nach vorne. „Siehst du das denn nicht? Sie versuchen, uns gegeneinander aufzubringen. Und wenn wir nichts dagegen unternehmen, dann gelingt ihnen das auch.“ Sie griff nach meiner Hand. „Dodo, wir müssen zusammenhalten.“
Ich nickte. Ein Rucken durchfuhr meinen Körper.
„Ich sag dir jetzt, was das Beste für uns alle ist.“ Sie strich über meinen Handrücken. „Wir bleiben hier. Im Wüstenwurm sind wir sicher. Und bis nach Dunkelstadt sind es noch mehr als drei Tage. Wir können Omi und Tante Hablieblieb retten und uns danach alle zusammen nach Lichtwiese wünschen.“
Ich sah sie an. „Woher weißt du, wie weit es nach Dunkelstadt ist?“
„Von Eddie. Was glaubst du denn, warum ich so viel Zeit mit ihm verbracht habe? Um Informationen zu bekommen. Ich habe das für uns getan!“
Es ergab Sinn. Und es wäre ein Leichtes, beim Piloten die Reiszeit nach Dunkelstadt zu erfragen. Ich begann, Elenor zu glauben. Wahrscheinlich wollte ich ihr auch glauben.
„Du hast recht …“, sagte ich leise, doch laut genug, dass Strom-Tom es hören konnte.
„Dodo, bist du bescheuert?!“
„So verliebt kann er doch gar nicht sein!“, mischte sich nun auch Strom-Klaus ein.
„Das versteht ihr nicht“, sagte ich.
Hinter mir erklang das Zischen der Waggontür. Plötzlich brach Tumult aus. Schritte polterten, Glasflaschen klirrten, Agerian schnaufte.
„Jemand hat den hinteren Teil des Zugs abgekoppelt!“, stieß er hervor.
„Wie meinst du das?“, fragte ich, obwohl Agerians Aussage eigentlich keinen Raum für Interpretationen bot.
„Habt ihr das denn nicht bemerkt?“
Ich schüttelte verwirrt den Kopf.
„Da!“, keuchte Agerian, packte mich und drückte mein Gesicht gegen die Scheibe. Die Flaschen in seinem Gewand klimperten hektisch. In der Ferne sah ich die zurückgelassenen Waggons zu einem schwarzen Punkt am Horizont zusammenschrumpfen. „Ich konnte gerade noch auf die andere Seite springen. Sonst säße ich jetzt da drin. Ich wäre elendig in der Wüste verdurstet!“ Agerians Stimme brach. Für einen gestandenen Wüstenkrieger war er ganz schön panisch. „Jemand hat versucht, mich umzubringen!“