Abfahrt ins Ungewisse

Ich öffnete meine Augen und blinzelte. Alles um mich herum war verschwommen.

„Dodo, kannst du mich hören?“, fragte Agerian und wischte mir mit einem nassen Geschirrtuch über die Stirn. Die Zunge des Riesenvogels.

„Mein Kopf …“

Ich tastete von der Stirn hinunter über mein Gesicht. Meine linke Augenbraue türmte sich auf wie ein Mittelgebirge, war aber entschieden wärmer.

„Er hat dich voll getroffen“, sagte Agerian.

„Wer?“

„Der Ponga-Ponger. Er hat dich voll am Kopf getroffen.“

Mit meinem gesunden Auge sah ich an Agerian vorbei zu dem Swimmingpool, in dessen Mitte eine etwa einen Meter große Figur stand. Sie sah aus wie ein Teddybär mit Boxhandschuhen. Eigentlich ganz niedlich. Am Rand des Pools lagen einige pampelmusengroße Bälle.

„Hast verloren“, nuschelte Gio-Gio irgendwo über uns.

Ein Gedanke dröhnte durch meine Hirnrinde. Plötzlich saß ich kerzengerade. „Tante Hablieblieb … Lichtwiese … Ich muss Omi finden!“

„Wovon redet er?“, fragte Gio-Gio.

„Er fantasiert“, entgegnete Agerian schnell. „Er ist noch gar nicht richtig da.“ Dann wandte er sich wieder an mich. „Komm hoch, Dodo.“ Er griff unter meine Schulter und half mir aufzustehen. Meine Beine waren noch ganz wabbelig, und mein Kopf kippte ständig nach vorne, wahrscheinlich wegen des Großen Feldbergs auf meiner Augenbraue.

„Aber Tante Hablieblieb und Omi. … Ich muss die beiden finden!“

„Nicht jetzt, mein Freund“, zischte Agerian. „Nicht jetzt.“

„Wie sieht‘s mit ‚ner Revanche aus?“ Gio-Gio verzog sein Gesicht. Wahrscheinlich sollte es ein aufmunterndes Lächeln sein.

„Ich verstehe das nicht“, sagte ich, schaute wieder zu dem Teddybären mit Boxhandschuhen hinüber und erinnerte mich an Gio-Gios Worte: Einfach kräftig gegen den Kopf werfen. „Ich hab genau das gemacht, was du gesagt hast.“

Gio-Gio zuckte mit den Schultern. Sein Sakko reagierte mit einem scharfen Reiß-Geräusch. „Manchmal verliert man, manchmal gewinnen die anderen.“ Er drehte sich um, was der Baumwollstoff ebenfalls nicht unbeantwortet ließ. „Da kommt Vinnie.“

Ed Mac Checks Gang war dermaßen großspurig, als hätte er gerade einen Oscar und einen Nobelpreis verliehen bekommen. Neben ihm stolzierte ein überdimensionaler gelber Vogel, der sich bei näherer Betrachtung als Elenor entpuppte.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte sie und schien ehrlich besorgt zu sein. „Du hast ja ein blaues Auge!“

„Ist halb so schlimm“, entgegnete ich und strich mir unwillkürlich über die Hügellandschaft namens Gesicht.

„Ponga-Ponger ist aber auch ein fieses Spiel“, sagte Mac Check und zeigte uns sein Hyänengrinsen.

„Schau mal, Dodo, mein neues Kleid!“ Elenor vollführte eine Drehung und strahlte. Sie trug eine kleidgewordene Federboa. Das Gefieder schien von Entenküken zu stammen. „Hat Vinnie mir geschenkt.“

Ich registrierte, dass sie jetzt zu Vinnies guten Freunden zählte und bemerkte, dass mir der Gedanke so überhaupt nicht gefallen wollte.

„Sie haben mich gerufen, Mr. Mac Check?“, fragte ein kleines Männchen in einem schwarzen Anzug, der so eng war, dass er aussah wie aufgemalt.

„Ah, unser C-25-Pilot! Pünktlich wie sein Wüstenwurm“, sagte Mac Check und wandte sich an uns. „Es wird Zeit, dass ihr euch verabschiedet. Ich hoffe, ihr hattet etwas Spaß in Las Voltas.“

„Na ja“, murmelte ich. „Unter Spaß verstehe ich eigentlich etwas anderes.“

„Also ich fand‘s spitze!“, trällerte Elenor und wackelte mit ihren Flügeln.

„Kümmern Sie sich darum, dass unsere Gäste eine angenehme Reise haben“, sagte Mac Check zum C-25-Piloten.

„Selbstverständlich!“ Das Männchen schlug die Hacken zusammen. „Wünschen Sie mit oder ohne?“

„Natürlich mit.“ Mac Check präsentierte ein weiteres Mal seine Zahnreihen. „So gut kennen wir unsere Freunde ja noch nicht.“ Er sah zu Gio-Gio. „Bringst du unsere Gäste bitte in ihr Abteil?“

Gio-Gio grunzte Zustimmung.

Der C-25-Pilot tanzte gut gelaunt voran. „Bitte folgen Sie mir!“

„Dodo, wir können nicht weiterfahren“, flüsterte Agerian. „Dieser Zug bringt uns direkt nach Dunkelstadt! Direkt in die Höhle des Löwen!“

Eine Planierraupe schob mich einige Schritte vorwärts. Ich drehte mich herum und musste feststellen, dass Gio-Gio zwei seiner Brüder mitgebracht hatte. Dieselben Schrankwandkörper, dieselben halslosen Köpfe und aufgeworfenen Lippen. Nur die Sakkofarben waren unterschiedlich.

„Vorwärts!“, grunzte Gio-Gios Bruder in der für die Familie typischen Freundlichkeit.

Ich verzichtete auf lange Diskussionen und setzte mich in Bewegung.

„Ich sitze am Fenster!“, verkündete Elenor und stürmte an uns vorbei.

„Wir müssen nur bis morgen durchhalten“, flüsterte ich Agerian zu. „Dann können wir uns mit dem rot-gelb gestreiften Löffel wünschen, wohin wir wollen.“

Agerian schien nicht besonders überzeugt von meinem Plan zu sein.

Zu unserer Überraschung besaß der Wüstenwurm nun einen Personenwaggon, sodass wir nicht auf dem Boden sitzen mussten. Elenor hatte es sich bereits auf einem Fensterplatz bequem gemacht, klopfte rhythmisch mit ihren Fingern auf dem kleinen Beistelltisch und forderte: „Losfahren, losfahren, losfahren!“

Nachdem Gio-Gio und seine beiden Brüder sich mit einem Grunz-Kanon verabschiedet hatten, ging ein Rucken durch den Zug, und der Wüstenwurm setzte sich in Bewegung. Ein Lautsprecher knackte, und die Stimme des Piloten erklang: „Willkommen an Bord des Wüstenwurms C-25! Ich bin heute Ihr Kapitän und begleite Sie auf Ihrer wunderschönen Fahrt nach Dunkelstadt. Gerne kümmere ich mich auch um Ihr leibliches Wohl. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise.“

„Juhu, auf geht‘s nach Dunkelstadt!“, jauchzte Elenor und vollführte einen hektischen Sitztanz. Federn flogen durch die Luft und segelten anschließend langsam gen Boden.

„Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal begegnet sind?“, fragte ich und suchte Elenors Gesicht nach einer Reaktion ab. Es kam keine.

„Du hattest gerade ein Bad in der Lagune genommen“, sagte ich. „Und ich … ich bin diesem kleinen Vogel mit dem purpurfarbenen Bauch hinterhergejagt.“

„Erinnerungen sind so was von öde“, sagte Elenor und glotzte nach draußen, wo die kahle Wüste an uns vorbeizog. „Ich will was erleben!“

Es entstand eine Stille, die man durchaus als unangenehm bezeichnen konnte.

„Also, ich könnte eine Eskimonade vertragen“, sagte Agerian. „Wie steht es mit euch?“

Elenor erwachte wieder zum Leben. „Oh ja! Ich will auch eine Eskimonade! Und zwar eiskalt!“

Agerian betätigte einen Knopf an seiner Armlehne, und der Pilot meldete sich. „Was kann ich für Sie tun?“

„Wir hätten gerne zwei Eskimonaden und …“ Agerian sah mich an. „Was möchtest du, Dodo?“

Ich überlegte. Jedoch nicht lang. Es war an der Zeit, einige grundliegende Dinge zu klären.

„Ich hätte gerne einen Tee. Eine große Tasse Brennnessel-Tee.“