Leseprobe

 

Laura

Ich erinnere mich an einen Tag Ende Januar. Es war der 28., ein Dienstag. Ich weiß das so genau, weil an diesem Tag die Challenger vom Himmel fiel. Ich klingelte an seiner Haustür, eine ramponierte Tür aus Sicherheitsglas, die zu einem fünfstöckigen Haus im Osten Mannheims gehörte. Sozialer Wohnungsbau, wie er manchmal scherzte, obwohl es wahr sein musste. Die Tür war schon abgeschlossen, und so kam er von ganz oben herunter. Außer Atem, als sei er ganze Treppenabsätze auf einmal heruntergesprungen, umarmte er mich und wollte mich küssen, als ich ihm sagte, die amerikanische Raumfähre sei explodiert.

Es gibt solche Augenblicke. Wir stehen noch halb auf der Straße, Autos, die im Schritttempo einen Parkplatz suchen, ein Junge, der sein Fahrrad abschließt und sich an uns vorbei ins Treppenhaus drängt. Es ist kalt, und sein Atem kommt stoßweise, kleine Wolken, die aus seinem Mund quellen, mir ins Gesicht.

Er sagt nichts, hält noch immer meinen Arm, und ich stehe auf Zehenspitzen, um seinen Kuss zu erwidern. Es gibt solche Augenblicke, in denen man sich als Teil von etwas Größerem fühlt. Historische Augenblicke, wie man so schön sagt. Nicht so bedeutend wie der 11. September, aber doch groß genug, um sich für den Rest seines Lebens daran zu erinnern. Vielleicht ist das verrückt, aber ich fühlte mich geborgen. Ganz und gar geborgen, trotz der Kälte, trotz der vorbeihastenden Menschen. Und ganz und gar wirklich.

Wahrscheinlich wirst du das nicht verstehen. Es war ein schreckliches Unglück, und ich war bei einem Mann, der nicht mein Freund war, ein Mann, zu dem ich alle paar Wochen ging, um mit ihm zu schlafen. Aber in diesem Augenblick da auf der Straße fühlte ich mich ihm näher als irgendwann sonst, ihm und mir und allen anderen Menschen auf der Welt.

In meinem Gedächtnis ist es hell. Ein strahlend kalter Wintertag. Und doch muss es schon 20 Uhr gewesen sein. Und dunkel, natürlich, sonst wäre die Haustür nicht abgeschlossen gewesen.

Im Grunde kann ich nicht viel über ihn erzählen. Ich kam gegen acht und blieb bis elf, manchmal ein paar Minuten länger. Ich wollte nicht zu spät nach Hause kommen, obwohl mein Freund wusste, wo ich war und was ich tat. Um Viertel nach acht lagen wir also schon im Bett. Wir schliefen zwei oder drei Mal miteinander. Dann zog ich mich an und er brachte mich die Treppe hinunter. In der Haustür blieb er lächelnd stehen, rauchte eine Zigarette und sah mir zu,  wie ich meinen R5 aus einer zu schmalen Lücke zwischen den Platanen herausmanövrierte. Manchmal winkte er mir nach. Geredet haben wir nicht viel.

Er hatte eine kleine Wohnung, ein Wohn-Schlafzimmer mit Esstisch und zahllosen Bücherregalen. Ein langgezogenes, immer kaltes Bad und eine Küche, in der sich die Umzugskartons stapelten, obwohl er seit Jahren eingezogen war. Hinter einem niedrigen Raumteiler stand ein Schlafsofa, eines jener Ausführungen, die man elegant mit einer Hand aufklappen konnte und die ein perfektes französisches Bett ergaben. Nicht, dass er jemals viele Umstände gemacht hätte. Vielleicht beim ersten Mal. Ich erinnere mich nicht. Meistens war das Bett fertig, wenn ich kam. Auch angeboten hat er mir nichts. Ich hatte einmal erwähnt, dass ich keinen Wert auf Alkohol lege, und damit schien der Fall für ihn erledigt zu sein. Er war nicht der Typ, der einen mit einer Flasche Champagner im silbernen Kühler empfängt. Oder Kerzen aufstellt.

Das einzige Zugeständnis an eine romantische Atmosphäre war das Foto einer offenen Tür, durch die man hinaus ins Nichts sehen konnte. Das Bild war mit einer Reißzwecke auf Kopfhöhe des Bettes an die Wand gepinnt. Ein Schwarzweißbild, auf das er mit der Hand geschrieben hatte: »Wer, wenn nicht du, wann, wenn nicht jetzt?« Wenn er auf mir lag, drehte ich manchmal den Kopf zur Seite, um diesen Satz zu lesen. Immer und immer wieder zu lesen. Er hatte eine schöne, fast weibliche Schrift. Schlicht und geschwungen. Viele Rundungen, die aufeinander folgten wie die Rücken von Tieren. Eine endlose Folge von Ws und Ns, die vor meinen Augen im Rhythmus seiner Stöße miteinander verschmolzen.

Denke jetzt nicht, dass ich glaubte, was da stand, dass es mehr bedeutete als die Laune des Augenblicks. So naiv war ich nicht. Und dennoch verstand er es, einem genau dieses Gefühl zu geben. Jeder von uns wahrscheinlich. Und das waren nicht wenige, glaub mir.

Es fing schon so an. Das muss ein, zwei Jahre vorher gewesen sein. Sein Seminar hieß ‚Die Sozialpsychologie der Liebesbeziehung’ oder so ähnlich. Er mochte solche Themen: Attraktivität, Verliebtsein, Liebe… Schöne große Worte. Die Studentinnen, und es waren vorwiegend Studentinnen, hingen an seinen Lippen.

In der ersten Reihe saß Monica mit ihren Glubschaugen. Sie war ganz in Pink. Ich glaube, das war damals ihre Lieblingsfarbe, denn sie lief immer so herum. Ich fand Monica unglaublich attraktiv. Groß, dunkle Haut, kurzes schwarzes Haar. Androgyn würde man heute sagen. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte ich mich in sie verliebt. Na ja, bis auf die Augen, sie quollen ihr aus dem Gesicht, dass man Angst hatte, sie könnten herausfallen, so dunkel geschminkt, als müsse man das extra betonen, und glänzend, als stünden ihr Tränen darin. Aber das waren wohl die Linsen.

Und ich komme rein mit meinem langen blonden wallenden Haar – ich sah damals aus wie einer jener Rauschgoldengel, mit denen man den Weihnachtsbaum schmückt – stöckle zu einem freien Platz, es war wirklich voll, 15 oder 20 Leute, und lächle so unschuldig wie möglich. Das war das, was ich gut konnte damals. Im Vergleich dazu ist eine Barbie-Puppe eine böse Hexe.

Natürlich war ich zu spät, und er macht eine ironische Bemerkung, irgendwas über die Schönheit der späten Stunde, aber erst nach einer kleinen Pause, in der er mir nachstarrt, auf die Haare oder – eher – auf den Hintern, den ich unter meinem engen Rock vorsichtig pendeln lasse. Bis ich mich umständlich gesetzt habe, bleibt es dann still, und ich fange Monicas wütenden Blick auf.

Er muss damals um die dreißig gewesen sein. Am meisten hat mich sein Schnauzbart gestört, der viel heller war als sein Haar, braun, fast rötlich. Er passte so wenig zu ihm, dass man meinen konnte, er sei aufgeklebt. Er hing links und rechts von seiner Oberlippe herunter und ließ ihn stets etwas traurig wirken oder griesgrämig. Ich glaube, er stutzte ihn nicht sehr häufig. Ich weiß nicht, warum er ihn trug. Ich glaube, ohne ihn hätte er besser ausgesehen. Auf jeden Fall sah er nicht wie ein angehender Professor aus, eher wie ein kleiner Gewerkschaftsfunktionär. Ich will damit sagen, er sah überhaupt nicht intellektuell aus. Wirklich nicht.

Lass mich überlegen. Außer Monica saß da noch Katja, langes Haar, schlank, mit einem riesigen Busen und langen Spinnenhänden. Dann Svenja, eine hübsche Blondine, die Psychoanalytikerin geworden ist. Sie muss sein Typ gewesen sein nach allem, was ich über ihn weiß. Aber sie haben nie miteinander geschlafen, haben sich nur gegrüßt, so als seien sie alte Bekannte, die vergessen haben, woher sie sich kennen. »Ich habe einen Pferdearsch«, hat sie Jahre später einmal zu mir gesagt. Aber das war übertrieben. Und es gibt viele Männer, die auf große Hintern stehen, oder etwa nicht? Und dann Liv, ein dürres Mädchen, das in Wirklichkeit Olivia hieß und unglaublich blasiert schauen konnte, wahrscheinlich aber nur unglaublich schüchtern war. Möglich, dass ich mich täusche. Mag sein, dass sie gar nicht da war. In meiner Erinnerung sitzt mein ganzes Semester in diesem Seminar. Es ist das, was ich vor mir sehe, wenn ich an meine Studienzeit denke. Auf jeden Fall hat Liv ihn dann später geheiratet. Nicht zu fassen.

Liv war der Grund, warum wir uns getrennt haben. Aber das war später, viel später. Erst mussten sie sich kennen lernen. Das war auf dem Sommerfest des Instituts. Und ich war zufällig dabei.

Zu Vorlesungsende fand ein großes Fest statt. Meistens im Gang der Alten Anatomie. Klingt nicht sehr spannend und war es auch nie. Es muss Ende Juni gewesen sein. Die Vorbereitungen für das Fest waren in vollem Gange. Es war so heiß, wie es hier nur im Juni sein kann. Auf dem Rasen hinter dem Hauptgebäude saßen einige Kommilitonen und sonnten sich. Andere lasen oder redeten. Währenddessen schleppten die Leute von der Fachschaft die Stereoanlage rein, die Boxen und unzählige Bier- und Wasserkisten. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, also genau der richtige Ort, um zu schauen und um gesehen zu werden.

Er stand bei seinem Motorrad und redete mit Karl-Heinz, einem Lockenkopf, mit dem ich hin und wieder ein wenig flirtete. Oder er mit mir, denn er war einer der charmantesten Jungs, die man sich vorstellen kann. Jahre später hat er in einem Wutanfall seinen Hund gegen die Wand geworfen und ihm das Genick gebrochen. Das habe ich von Katja. Sie hat Karl-Heinz geheiratet und zwei Kinder von ihm bekommen. Aber das erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.

Sie standen beide bei diesem Motorrad und sahen den Frauen hinterher. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie sich fachmännisch über ihre verschiedenen Vorzüge unterhalten hätten, aber als ich bei ihnen stehen blieb, sprachen sie über irgendwelche Rechenzentren und Computernetze. Karl-Heinz arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft in der EDV-Beratung am Rechenzentrum. Eigentlich ging es darum, eine elektronische Mitteilung nach Norwegen zu schicken, was nicht ganz einfach zu sein schien, weil man zuerst über Rom nach Washington musste, um dann von Kanada nach Nordeuropa zurückzukehren. Sie redeten über Gateways und Netzknoten und solche Dinge, die mir schon damals herzlich egal waren, und heute bin ich froh, dass ich meine Emails mit einem einzigen Knopfdruck in die ganze Welt verschicken kann.

Ich nahm seine Hand, und er drückte mich an sich, was Karl-Heinz zu erstaunen schien. Er wusste offenbar nicht, dass wir etwas miteinander hatten. Bald ließ Karl-Heinz uns allein, bestand aber darauf, ich müsse später am Abend mit ihm einige neue Cocktailrezepte aus der Getränkedatenbank der Stanford University abrufen und gleich ausprobieren.

Nach einer Weile gingen wir zu mir. Zum ersten und zum letzten Mal. Ich hatte ein kleines Zimmer in der Brunnengasse, nicht einmal 50 Meter vom Institut entfernt. Ich schlief selten dort, denn meistens wohnte ich bei meinem Freund in Schriesheim. Was ich an diesem Tag tat, war ganz gegen meine Prinzipien. Aber vieles, was ich mit ihm tat, war gegen meine Prinzipien.

So habe ich gleich bei unserem ersten Rendezvous mit ihm geschlafen. Und ich habe mehr als einmal mit ihm geschlafen. Und ich habe in meinem eigenen Bett mit ihm geschlafen. Alles Dinge, die ich sonst nie tue.

Weißt du, ich hatte mit meinem Freund eine Vereinbarung. So eine typische 70er-Jahre-Vereinbarung, auch wenn die eine Weile vorbei waren. Jeder durfte mit anderen schlafen, du weißt schon, Monogamie ist unmenschlich, diese ganze Leier. Man durfte sich nur nicht verlieben. Und deshalb gab es diese eine Regel: eine Nacht, mehr nicht. Na ja, Nacht – ein  Mal eben. Und das haben wir so gehalten, jahrelang. Mit dieser einen Ausnahme. Ich glaube, wir kamen uns wie die großen Eroberer vor, mein Freund und ich. Stell dir vor, ich hatte einen Schal mit Playboy-Häschen drauf. Peinlich, nicht?

Dieses eine Mal bei mir war besonders schön. Vielleicht, weil es so unglaublich heiß war, vielleicht, weil er mich nicht ausgezogen, sondern aufs Bett geworfen und genommen hat, schnell und heftig, vielleicht auch, weil es mein Zimmer war, etwas mehr von mir im Spiel war als sonst.

Danach habe ich ihm meinen Slip geschenkt. Zur Erinnerung, habe ich ihm gesagt. Auf das Semesterfest bin ich dann ohne gegangen. Lauter verrückte Dinge, die ich sonst nie tue.

So streifte ich später durch die verdunkelten Räume und spürte diese seltsame Kühle zwischen den Beinen. Bist du schon einmal ohne Slip ausgegangen? Es ist ein wenig wie Barfußlaufen. Du fühlst dich frei, frei und verletzlich, aber vor allem frei. Deshalb bin ich an diesem Abend viel gelaufen, glaube ich. Immer auf der Suche nach einem Luftzug, der mit den Rock heben könnte, der hinauf blasen könnte, um die Feuchtigkeit zu trocknen, die tropfenweise aus mir herauslief. Diese kühle Stelle mitten im mir, diese Kühle inmitten dieser unglaublichen Hitze. Es war, als spürte ich mein Herz zwischen den Beinen pochen.

Er war natürlich auch da, aber wir sprachen nicht miteinander, blieben kein einziges Mal beieinander stehen. Wenn wir uns auf unseren Wegen trafen, warfen wir uns einen langen Blick zu, und im dichtesten Gedränge berührten sich unsere Hände.

Er schien sehr um Olivia bemüht, war ihr stets auf den Fersen, unterhielt sich lebhaft mit ihr, tat so weltmännisch, wie er es nur mit Frauen tun konnte. Aber ich war nicht eifersüchtig. An diesem Tag hatte ich alles von ihm, und niemand auf der Welt hätte es mir wegnehmen können. Und das Beste war, es war unser Geheimnis.

Doch Liv wuchs, wurde größer und größer. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat. Vielleicht durch ihre zur Schau getragene Gleichgültigkeit, ihre Unnahbarkeit. Ich glaube, das hat seinen Ehrgeiz angestachelt. Aber ich wollte nicht warten, bis er mich verließ.

Das letzte Mal haben wir nicht einmal miteinander geschlafen. Ich hatte meine Tage. In dieser Hinsicht bin ich altmodisch. Wenn ich meine Tage habe, lasse ich mir nicht einmal die Hose ausziehen. Ich befriedigte ihn deshalb mit dem Mund, und als er gekommen war und sich schwer atmend auf den Rücken fallen ließ, sagte ich es ihm.

Ich glaube, er verstand es zunächst gar nicht. Und ich konnte ihm nicht sagen, dass ich Angst hatte, er würde mit mir wegen Liv Schluss machen, und ich konnte ihm erst recht nicht sagen, dass ich Angst hatte, ich würde mich in ihn verlieben, hätte es bereits getan.

Irgendwann fragte er mich nach dem Grund. Ich sagte, es würde mir keinen Spaß mehr machen, mit ihm zu schlafen. Er stützte sich auf, um mich anzusehen. Mir war nach weinen zumute, aber ich setzte mein harmlosestes Lächeln auf. Ich kann sehr tapfer sein. Dann zog ich meinen BH an, meine Bluse. Er blieb liegen, starrte an die Decke. Ich küsste ihn zum Abschied auf die Stirn. Noch zu Hause schmeckte ich ihn. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

 

Nicole

Ich wundere mich, dass du mich gefunden hast. Ich lebe seit 25 Jahren in London, bin mehr Britin als Deutsche. Und aus der Übung, was das Deutsche angeht, obwohl ich die Sprache mag. Zum Abschied habe ich ihm damals ein Gedicht geschrieben. Auf Deutsch. Schließlich komme ich aus Frankfurt.

Warum interessierst du dich so für ihn? Bist du Journalistin oder so was? Na ja, es geht mich nichts an. Ich will dir alles erzählen. Warum nicht? Nach bestem Wissen und Gewissen. Sagt man das so? Lass mich überlegen. Ich glaube, es ist Jahre her, dass ich zum letzten Mal an ihn gedacht habe.

Es war in Bologna. Und in Italien. Na ja, Bologna liegt in Italien. Ich meine, wir waren noch woanders. Er hatte einen nagelneuen Fiat Uno, und mit dem sind wir an die Küste gefahren. In die Cinque Terre, glaube ich. Aber das war am Schluss. Es liegt ja alles so nahe beieinander. Es waren nur ein paar Wochen. In Deutschland habe ich ihn nur noch einmal gesehen.

Also Bologna. Es muss im Sommer 1986 gewesen sein. August. Mein Professor hatte mich zum Doktorandenkolloquium der Europäischen Gesellschaft für Sozialpsychologie angemeldet. Klingt, als wäre es gegen meinen Willen gewesen, und so war es auch. Ich hatte keine Lust hinzufahren. Drei Wochen in einer fremden Stadt, drei Wochen unter lauter fremden Menschen. Und mir ging es schlecht damals. Ich hatte mich kurz zuvor von meinem Freund getrennt, und es verging kein Tag, an dem ich nicht geheult habe. Aber dann habe ich gedacht, warum nicht? Warum nicht Bologna? Vielleicht kommst du auf andere Gedanken.

Weißt du, Bologna ist eine wunderbare Stadt. Wo du hinschaust, Arkaden. Bogengänge, Säulen. Es ist die perfekte Stadt für einen Regentag. Du kannst stundenlang durch die Stadt laufen, ohne nass zu werden. Leider hat es in diesen drei Wochen kein einziges Mal geregnet. Ich habe gedacht, komm im Herbst wieder, im November. Aber wie das so ist. Man nimmt sich so vieles vor!

Und die Universität! Ich glaube, sie ist die älteste Europas. Seminarräume wie im Kloster. Meterdicke Mauern, dunkles, uraltes Holz. Überall Balken an den Decken. Kaum ein Lichtstrahl, der von draußen hereingefallen wäre. Zum Glück, müsste ich sagen, denn wir schwitzten trotzdem, tropften den ganzen Tag vor uns hin, als würden wir langsam schmelzen.

Wir waren etwa sechzig Leute, Doktoranden aus ganz Europa. Dazu kamen die Profs, ganz illustre Namen übrigens. Gut organisiert und vor allem völlig kostenlos. Dafür haben wir in winzigen Zweibettzimmern im Gästehaus der Uni gewohnt. Aber dazu später.

Die anderen kamen aus den verschiedensten Ländern. Auch aus dem Osten. Ich erinnere mich vor allem an die Polen. Vielleicht wegen der Frauen. Dann Franzosen, Engländer, Spanier, Portugiesen. Wir Deutsche waren zu sechst oder zu siebt. Hängt davon ab, wo du mich dazuzählst. Und natürlich die Italiener, die waren die größte Gruppe. 

Vielleicht denkst du, dass ich abschweife, aber das ist nicht so. Bologna ist wichtig. Wir waren uns beide so fremd, wir waren beide so mit uns selbst beschäftigt, dass wir uns unter anderen Umständen nicht einmal angesehen hätten. Wir waren nicht füreinander bestimmt, wie man so schön sagt, und haben nie aufeinander gewartet. Es war Zufall, ein glücklicher Zufall, ein Zufall, der ohne diese Stadt nicht möglich gewesen wäre, ohne diese seltsame Stimmung, das Neue, von dem du ständig umgeben warst. Manchmal musst du weit gehen, um bei dir anzukommen, um Kraft zu schöpfen für das, was dich bei deiner Rückkehr erwartet. Und das haben wir getan. Er wie ich.

In der ersten Woche passierte nichts, jedenfalls nicht zwischen uns. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich ihn groß beachtet hätte. Aber ich wusste seinen Namen, allein schon, weil er zur deutschen Fraktion gehörte. Er hatte in Heidelberg studiert, glaube ich, und promovierte in Mannheim. Dass es da überhaupt Sozialpsychologie gab!

Wie soll ich ihn beschreiben? Er war sehr widersprüchlich. Er konnte so zurückhaltend sein, dass man ihn nicht wahrnahm, um sich kurz darauf bis zur Aufdringlichkeit um einen zu bemühen. Er schwieg stundenlang, brachte kaum ein Wort über die Lippen, um dich dann zuzuquasseln, dass dir der Kopf dröhnte. Und so war er auch beim Sex, er war der zärtlichste Mann, dem ich je begegnet bin, aber er konnte auch grob sein. Schwer zu verstehen, ich weiß.

Auch fachlich war er schwer zu durchschauen. Die Professoren schienen viel von ihm zu halten, aber er hatte wenig publiziert und arbeitete seit Jahren an einer Doktorarbeit, von der niemand wusste, wie weit sie gediehen war, geschweige denn, wann und ob sie jemals fertig würde.

Er wirkte sehr selbstsicher und behandelte uns andere ein wenig von oben herab, möglicherweise, weil er ein paar Jahre älter war als die meisten von uns. Aber als er einen Vortrag halten musste, war er nervös wie ein Erstsemester.

Ich glaube, da habe ich zum ersten Mal etwas für ihn empfunden. Viele denken, sie werden dafür geliebt, dass sie groß und stark sind. Aber Liebe ist keine Bewunderung, Liebe ist ein kleiner Schmerz tief in uns drin. Eine Rührung, etwas, was dir unverhofft die Kehle zuschnürt und dir die Tränen in die Augen schießen lässt.

Er stand da vorne mit seinen Folien in den zittrigen Händen und verhaspelte sich ständig. Vielleicht lag es daran, dass er auf Englisch vortragen musste, vielleicht an Professor Altomonte, der in der ersten Reihe saß und ihm aufmunternd zunickte. Er beeilte sich, fertig zu werden. Er ließ die Hälfte weg, kürzte oder hörte mittendrin auf. Ich weiß es nicht. Nach knapp sieben Minuten war er fertig, und die Moderatorin war genauso verblüfft wie wir alle. Aber sie war gut, eine ungeheuer selbstbewusste Engländerin indischer Herkunft, die ein perfektes Englisch sprach und sich bei ihm für die kostbare Zeit bedankte, die wir mit seiner Hilfe gewonnen hätten.

An diesem Tag haben wir zum ersten Mal länger miteinander geredet. Es war in einem Self-Service-Restaurant. Wir hatten Essensgutscheine für eine Handvoll Restaurants und Bars, aber wir bevorzugten den Selbstbedienungsladen in der Via Zamboni, gleich an der Universität. Es gibt keine Stadt auf der Welt, wo du besser essen kannst, und für die Lasagne oder Melanzane alla Parmigiana, die du in Bologna in jedem Schnellimbiss bekommst, müsstest du in England oder in Deutschland jemanden töten.

Die beiden Polinnen saßen an unserem Tisch. Die junge, sie hieß Helena oder so, war gerade mal 20 und hatte ihren Freund dabei, der kaum älter war und sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Die andere war in meinem Alter, eine linientreue Kommunistin, wie es schien, die mit einem Offizier verheiratet war. Der war logischerweise nicht dabei, sondern bewachte irgendwo die Grenze zur DDR. Es war ein erbitterter Streit über die polnische Gewerkschaftsbewegung entbrannt, aus der sich die Ausländer so gut wie möglich heraushielten.

Ich erzähle das, weil er etwas Merkwürdiges sagte oder zumindest Unerwartetes. Damals schwärmte ja die ganze Welt für Lech Walesa und die Freiheitsbewegung, und die Frau dieses Offiziers, ich habe leider ihren Namen vergessen, stand auf verlorenem Posten. Sie war hübsch, hatte blondes halblanges Haar und eine Ernsthaftigkeit, die sie älter erscheinen ließ. Er sagte, er hege keinerlei Sympathie für diese Dissidenten. Es sei billig, nur gegen etwas zu sein und sich dem Westen an den Hals zu werfen.

Ob er das ernst meinte? Ich weiß es nicht. Aber es war nicht seine Art, anderen nach dem Mund zu reden. Ich glaube, es missfiel ihm, dass sich alle so einig waren, ohne einen Augenblick darüber nachdenken zu müssen. Sie lächelte ihm zu. Ein Blick, den ich nicht vergessen werde und der mir einen Stich versetzte. Ich glaube, da war ich zum ersten Mal eifersüchtig.

Er war sehr verliebt. Nicht in mich. Leider oder zum Glück. Aber das erzählte er mir erst später. Er hatte sechs Wochen zuvor eine Frau kennengelernt, eine Studentin an seinem alten Institut. Sie hieß Olivia, Liv eigentlich, und er schrieb ihr ständig ellenlange Briefe, die er mit Express abzuschicken pflegte. Wie kommt es, dass Verliebte es so eilig haben? Sie tun so, als ginge es um Leben und Tod. Nicht auszudenken, wenn es damals Handys gegeben hätte. Unsere Geschichte wäre heute nicht mehr möglich.

Sie hat ihm nicht geantwortet, und das erfüllte mich mit einer seltsamen Mischung aus Genugtuung und Mitleid. Ich glaube nicht, dass das der Grund war, warum er mit mir etwas anfing. Die Unzuverlässigkeit der italienischen Post war damals sprichwörtlich, und nichts eignete sich besser für Schuldzuweisungen, wenn etwas nicht ankam. Wie viele der angeblich verlorengegangenen Briefe mögen nie abgeschickt worden sein?

Ich glaube, er hat sich einige Tage gewehrt. Innerlich, meine ich, denn man hat es ihm nicht angesehen. Das war auch Teil seiner Widersprüchlichkeit. Einerseits hätte er gerne drei Wochen geschmachtet – es gibt keine Sehnsucht ohne Trennung, und das Unerfüllte ist nur mäßig schmerzhaft, wenn man weiß, dass es nur von kurzer Dauer ist – aber er war nicht der Typ, der lange allein sein konnte. Vielleicht brauchte er nur ein Gegengift, um sich nicht allzu abhängig zu fühlen. Er lief ja nicht mit geschlossenen Augen durch die Gegend, und wenn die eine oder andere sich für ihn interessierte, dann hatte er seinen Teil dazu beigetragen.

Ich erzähle dir jetzt die Geschichte vom Bügeleisen.

Da er als einer von wenigen mit dem Auto gekommen war, hatte er eine Menge Krempel dabei. Darunter war ein Reisebügeleisen. So ein zusammensteckbares leichtes Ding, das schlecht aufheizte. Jetzt musst du wissen, dass er nicht der Typ war, der etwas bügelte. Nicht zu Hause und schon gar nicht unterwegs. Er trug nur Jeans und T-Shirts, keine Anzüge oder Hemden. Wozu also ein Bügeleisen? Aus Perfektionismus? Er hatte auch einen Toaster dabei und eine tragbare Stereoanlage. Fakt ist, dass es kaum eine Frau gab, die nicht wenigstens einmal an seine Tür geklopft hätte, um sich dieses Ding auszuleihen. So hat er die ältere der Polinnen kennen gelernt. Sie war eine, die alles bügelte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie ihre BHs gebügelt hätte.

So war ich die lachende Dritte. Ich habe mir das damals alles angesehen, mehr belustigt als neugierig. Helena, die junge Polin, die sich ständig mit ihrem Freund stritt, die Offiziersfrau, die so erhaben tat. Ich war ganz anders, eher alternativ, lange Haare, weite Klamotten, ziemlich bunt.

Meistens waren wir zu fünft unterwegs, mehr passten nicht ins Auto, und wir haben viele Ausflüge unternommen, nach Venedig, nach Verona, ans Meer. Der Uno war neu, er roch so wie alle neuen Autos riechen, nach Plastik und ein wenig Chemie. Er hatte einen geregelten Kat, etwas, das damals kein italienisches Auto besaß, und Fiat produzierte diese Motoren nur für den deutschen Markt. Ich erzähle das, weil wir ständig auf der Suche nach bleifreiem Benzin waren. In ganz Italien gab es nur eine Handvoll Tankstellen mit bleifreiem Benzin, und meistens waren sie ausverkauft. So führte er stets zwei riesige Kanister im Kofferraum mit. »Meine eiserne Reserve«, wie er gern sagte. Mehr als einmal habe ich ihm geholfen, deren Inhalt mit Hilfe eines winzigen Trichters in den Tank zu füllen. Das Benzin lief uns über die Hände, und wir stanken dann stundenlang danach. Auf solch einer Autobahnraststätte hat er mich zum ersten Mal geküsst. Es gibt romantischere Orte als italienische Autobahnraststätten, um geküsst zu werden. Aber da waren ja noch die beiden Polinnen, die im Auto saßen und uns dabei zuschauten. Das hat mich dafür entschädigt.

Helena ist ein paar Tage später abgereist. Allein. Die Frau des Offiziers hat ihm heftige Vorwürfe gemacht. Er hat ihr geantwortet, er habe ihr nur ein Bügeleisen ausgeliehen. Im Westen verpflichte das zu nichts. Er konnte witzig sein. Aber das hat er wahrscheinlich nur für mich erfunden. Er hatte ein gutes Gespür für das, was man hören wollte.

Was unser Liebesleben angeht, kann ich dir nicht viel erzählen. Wir hatten ja beide unsere Zimmergenossen. Ich teilte mir mit Julie, einer typisch englischen Schreckschraube, ein Zimmer, er mit einem dicklichen Jungen, der schnarchte. Auf die Idee, sie zusammen zu legen, kamen wir erst viel später. Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, den anderen zu wecken. Das Bett war so eng! Und es wackelte, knarzte wie ein Boot im Sturm. Vielleicht haben wir deshalb in dieser ersten Nacht nicht miteinander geschlafen. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, ihn neben mir zu spüren, die Wärme seiner Haut, seine Hände, die mich streichelten. Das hat mir vollkommen gereicht. Für mich war er wie ein Geschenk, das ich mir bis in alle Ewigkeit hätte ansehen können, ohne es auszupacken.

Er wollte mehr, glaube ich. Aber er hat nicht versucht, mich herumzukriegen, obwohl es ihm wahrscheinlich gelungen wäre. Natürlich haben wir dann bald miteinander geschlafen. Gleich am nächsten Nachmittag in der Mittagspause. Wir waren allein, und wir haben es so routiniert hinter uns gebracht wie ein Ehepaar. Schön geworden ist es erst an der Küste. Da hatten wir vier Tage. Vier Tage und vier Nächte. Seltsam, wie lang vier Tage sein können.

Weißt du, wir saßen abends im Garten der Pension, haben gegessen und getrunken, und weil es Spätsommer war, wurde es früh dunkel. Es wäre höchst romantisch gewesen, wenn nicht der Schnellzug nach Genua zehn Meter hinter uns vorbei gedonnert wäre. Unzählige Wagen mit hell erleuchteten Fenstern, die zu einem endlosen Band aus Licht verschmolzen. Und Gesichter, die uns beobachteten, die einen Blick auf unser Glück erhaschen wollten. Alles Quatsch, natürlich. Aber das stellte ich mir vor. Und ich stellte mir vor, wie ich selbst in diesem Zug sitzen würde, zwanzig Jahre später oder fünfzig, und mich an mich erinnern würde, an uns. Dann säßen wir immer noch in diesem Garten, im Halbdunkel des Abends, uns an den Händen haltend. Wenn ich nicht solche Angst davor hätte, würde ich diesen Zug irgendwann nehmen.