2. Kapitel
Laura war das Zweitjüngste von fünf Geschwistern. Sie war siebzehn, fast achtzehn, und auf der Kommode in ihrer kleinen Mansarde stand ein abgegriffener Holzrahmen mit einer Fotografie. Sie zeigte einen jungen Mann in Uniform, einen ernst schauenden Mann mit dunklem kurzgeschnittenem Haar, dichten schwarzen Augenbrauen und einem dünnen Schnurrbart. Seine Haut war gleichfalls dunkel, aber das konnte auch am Foto liegen, das einem lodernden Feuer entrissen schien, so vergilbt, rußig fast war das Papier. Er trug eine italienische Fliegeruniform, und seine Augen – weit geöffnet, erstaunt oder ängstlich – waren auf einen Punkt irgendwo über der Kamera gerichtet oder einfach in die Ferne.
Das Foto zeigte den zwanzigjährigen Vieri Tarabella, und Laura erinnerte sich an die Aufregung, mit der der älteste Bruder erwartet wurde, an den Stolz der Mutter, wenn sie ihn in die Arme schloss, an die Tränen nach den wenigen Tagen, die er bleiben konnte, an denen sie ihren großen Bruder wiederhatte. Dann nahm er sie auf den Arm, schwenkte sie durch die Luft, und sie setzte sich seine Offiziersmütze auf, die nach Leder roch, nach Rauch und nach etwas Dunklem, das sie nicht kannte.
Im letzten Kriegssommer war er sogar über das Dorf geflogen, den Strand entlang bis zur Stadt und wieder zurück, und auf Höhe der Verladestation hatte er das Flugzeug in einem waghalsigen Manöver auf den Kopf gestellt und wieder aufgerichtet, eine volle Umdrehung, und sie hatte genauso geschrieen wie die anderen, die zusammengelaufen waren, die Frauen aus dem Dorf, die Kinder und die wenigen Arbeiter, die die verbliebenen Marmorblöcke auf die Barkassen hievten. Sie wusste, dass er für sie flog, dass er ihr zuwinkte, dass er sein Versprechen einlöste, das er bei seinem letzten Besuch mit einem feierlichen Handschlag bekräftigt hatte, und sie winkte zurück, während sie den Kopf in den Nacken legte, bis er schmerzte, und den Strand entlang rannte, als könne sie so den Augenblick hinauszögern, an dem er in der flirrenden Sommerhelle verschwinden würde.
Seit diesem Tag legte Laura häufig den Kopf in den Nacken, wenn sie am Strand war. Dann suchte sie den Himmel ab, als könnte sie wie damals jenen dunklen Punkt entdecken, den schnell größer werdenden Vogel, als hörte sie das lauter werdende Kreischen, mit dem er sich näherte. Seit jenem Tag im Herbst des ersten Nachkriegsjahres stand das Bild auf ihrer Kommode. Sie würde es mit sich nehmen, wo immer sie wohnte. Noch viele Jahre später sollte es den Mittelpunkt einer kleinen Bildersammlung bilden, eines ordentlichen Friedhofs hölzerner und silberner Rahmen, in denen andere Fotografien verblichen, die Bilder von Männern und Frauen, von Jungen und Alten, die Bilder all jener, die ihr nahe gewesen waren.
Sie liebte Vieri mehr als Vittoria oder Stefano, die beiden älteren Geschwister, und sie liebte ihn mehr als ihre kleine Schwester Tea. Sie liebte ihn mehr, weil er an einem Spätsommermorgen in seinem neuen Flugzeug aufs Meer hinausgeflogen war, um nicht zurückzukehren, hinaus auf ein fernes Meer im Süden, ein Meer, das nicht das ihre war und doch die gleichen Wellen kannte, den gleichen Wind.
Wie oft hatte er sie mitgenommen in seinem Boot? Dann waren sie hinausgerudert, und die Baracken am Strand, die Häuser des Dorfes waren zusammengerückt, waren geschrumpft, bis nur noch die Berge zu sehen waren, ein gewaltiges Halbrund, hoch und unbezwingbar wie eine Mauer. Schon als Kind, als kleines Mädchen, war sie mit ihm gefahren. Sie hatte auf der hinteren Bank gesessen und die Ruder beobachtet, die schwerelos ins Wasser glitten, kleine Strudel erzeugten, um tropfend zurückzuschwingen zum Anfang, seine Muskeln, die sich unter der sonnengebräunten Haut spannten, wenn er sich nach hinten lehnte, wenn er die Ruder mit einer gleichmäßigen Bewegung heranzog, diese seltsamen blauen Augen, die ins Leere blickten, auf etwas, was nur er sehen konnte, und die sie manchmal streiften. Dann lächelte er, und wenn sie ängstlich oder verfroren schien, fragte er, ob sie zurückkehren sollten, und jedes Mal schüttelte sie heftig den Kopf.
Eines Tages war ein hoher Offizier in einem Motorwagen vorgefahren und hatte der Mutter eine Urkunde überreicht. Eine Urkunde und eine Münze. Die Münze hing an einem grünweißroten Band. Es war die silberne Tapferkeitsmedaille, die gleiche, die man viele Jahre später auch Vittoria, der Schwester, verleihen sollte.
Laura wusste nicht, ob Vieri ein Kriegsheld gewesen war. Die Medaille hatte er erst danach bekommen, einige Monate nach seinem letzten Flug. Am Anfang, als er noch häufiger Urlaub von der Front hatte, als er noch regelmäßig nach Hause kam, fragte sie ihn, wozu ein Flugzeug im Krieg wohl nützlich sei. Und er hatte etwas von Aufklären und Ausspähen erzählt, von Beobachtungen, die für die Kameraden am Boden lebenswichtig seien. Nur vor den anderen Flugzeugen müssten sie sich in Acht nehmen, vor den österreichischen. Mit ihnen würden sie Verstecken spielen. Dann flogen sie in enge Täler hinab und die Bergrücken entlang, und wer trotzdem entdeckt wurde, der versuchte den anderen zu verfolgen, so dicht wie möglich, darauf kam es an. So war das Fliegen im Krieg. Und Laura stellte ihn sich gerne mit der dick gefütterten Fliegerjacke, der Lederkappe und der Brille vor, wie er über die feindlichen Stellungen flog und Flugblätter abwarf, auch wenn sie später erfuhr, dass es häufiger geflügelte Bomben gewesen waren, die er mit sicherer Hand auf eine Geschützstellung oder in einen Schützengraben hatte fallen lassen.
So wie Vieris blaue Augen immer auf eine unbestimmte Ferne gerichtet schienen, so wurde Vieri selbst, wurde sein Foto in dem billigen Rahmen zu etwas, was sich entfernte, Jahr für Jahr immer undeutlicher zu sehen und zu spüren war, ohne jemals ganz zu verschwinden. Er blieb der Traum ihrer Kindheit, eine Sehnsucht, der sie zeitlebens nachhing und die irgendwann für alles stand, was sie verloren hatte, für alles, was unwiederbringlich Vergangenheit geworden war. Merkwürdigerweise sollte später auch ihr Sohn, sollten sogar die Enkel Ähnliches empfinden. Selbst wenn sie jenen Vieri nicht gekannt hatten, den Vieri, den nur die Schwester im Herzen trug, die Schwester und die Mutter vielleicht, so streifte sie mehr als einmal die Ahnung, was er ihr bedeutet hatte, blieb das vergilbte Foto für sie das Fenster in eine ungelebte Vergangenheit.
Es war noch keine Woche seit seiner Ankunft vergangen, als Maximilian Vieris Bild zum ersten Mal sah. Er stand in Lauras Mansardenzimmer. Das Fenster war halb geöffnet, und das Meer schien hier oben viel näher zu sein, als im ersten Stock, dort, wo er selbst untergebracht war. Der Wind hatte nachgelassen, und die Wellen, die am Vorabend noch hoch aufgetürmt den Strand heraufgerollt waren und mit dumpfen Grollen die Gischt landwärts geschoben hatten, bildeten nur noch vereinzelte Schaumkronen. Das Zimmer war eng, und er ging vom Fenster vorsichtig zurück, um nicht gegen das ordentlich bezogene Bett oder den Stuhl zu stoßen, auf dem die Schüssel mit dem frischen Waschwasser stand. Während er auf sie wartete, betrachtete er eingehend die wenigen Habseligkeiten, die auf der schwarzen Marmorplatte ihrer Kommode aufgereiht waren. Das eiserne Kruzifix, ein silbernes Kettchen mit einem Marienanhänger, ein Fläschchen Lavendelöl, zwei Bücher ihm unbekannter Autoren, eine Spieluhr und die beiden Fotos. Eines war offenbar das Hochzeitsfoto der Eltern, das neuere Bild zeigte den jungen uniformierten Mann. Es stand genau in der Mitte vor dem Kruzifix, und für einen Augenblick befiel Maximilian das Gefühl, vor einem Altar zu stehen.
Warum er alles genau untersuchte, in die Hand nahm, drehte und wendete, sogar daran roch, wusste er selbst nicht. Zuerst war es vielleicht die Nervosität gewesen, die ihn angesichts der bevorstehenden Begegnung mit Laura erfüllte, eine Unruhe, von der er sich ablenken wollte, später dann Neugier. Hier, an ihrem persönlichsten Ort, schien jeder Gegenstand, jede Falte ihres Bettbezugs Bedeutung zu verströmen, etwas ungemein Wichtiges, ja, Einmaliges, über sie zu verraten. Je länger er sich in dem kleinen Zimmer aufhielt, umso mehr glaubte er, sie zu verstehen, ihr nahe zu sein, umso eindringlicher suchte er nach weiteren Zeichen, die er zu deuten versuchte, als könne er an diesem Tag, an diesem Ort, alles über sie erfahren.
Doch dann nahm er Vieris Fotografie in die Hand, und so fand ihn Laura vor. Sekunden oder Minuten später, er hätte es nicht zu sagen gewusst. Die Augen! So wenig Ähnlichkeit der italienische Soldat mit seinem Freund Georg hatte, der eine blond und schmal, der andere dunkel und muskulös, so vertraut waren ihm diese unsteten Augen. Augen, die auf der Flucht schienen, die schon längst in einer fremden Welt weilten, während der Körper noch verdammt war, zurückzubleiben.
Zuerst meinte er, ein Bild von Lauras Verlobten vor sich zu haben, und ein kleiner Stich durchfuhr ihn. Sicherlich war sie ihm schon seit Jahren versprochen, und er stellte sich Laura vor, wie sie morgens und abends die Fotografie an ihr Herz presste und von dem Soldaten träumte, der irgendwo in Dalmatien für Italiens Ruhm sein Leben wagte. Wenige Augenblicke genügten, um die ganze Geschichte auszuspinnen, die Anfänge zu phantasieren, das Leben, das die beiden erwartete, die gemeinsamen Kinder. Und so traurig ihn diese Vorstellung machte, Eifersucht empfand er nicht. Dafür ähnelte der Fremde Georg zu sehr.
„Das ist mein Bruder.“ Laura stand hinter ihm, und später war er ihr dankbar dafür, dass sie die Gegenwartsform benutzt hatte, dass er zuerst dem lebenden Vieri begegnet war.
Wie so oft in den nächsten Wochen und Monaten gingen sie auch dieses erste Mal hinunter zum Strand. Sie machten einen langen Spaziergang den sandigen Weg hinunter bis zur Flussmündung. Dort, an diesem natürlichen Hindernis, kehrten sie um. Sie hätten auch die nahe Straßenbrücke benutzen oder durch das flache Wasser waten können, durch das trübe Rinnsal, das sich mühsam zwischen den Sandbänken und den großen Kieselsteinen hindurchschlängelte. Doch Laura musste im elterlichen Betrieb aushelfen, und so verbrachte Maximilian auch an diesem Tag den restlichen Nachmittag mit den anderen Gästen unter den Sonnensegeln, die den Pensionsgästen vorbehalten waren.
An diesem ersten Nachmittag sprachen sie fast nur über den Bruder. Seit seinem Tod hatte Laura ihren Schmerz tief in einem Winkel ihres Herzens vergraben, und sie wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, von jenen glücklichen gemeinsamen Stunden zu erzählen, an die sie aus Angst schon lange nicht mehr zu denken gewagt hatte. Und auch Maximilian, dem immer wieder Georg in den Sinn kam, wenn er sich Vieris Augen vorstellte, spürte eine ungewohnte Leichtigkeit. Die Schuld, die auf ihn gelastet hatte, schien verflogen und mit ihr auch ein Teil seiner Schwermut.
So neugierig Maximilian zuvor gewesen war, so begierig, alles über sie zu erfahren, so bedeutungslos erschienen ihm jetzt andere Themen, die Konversation, die sich geschickt hätte, wären sie tatsächlich verlegen nebeneinanderher gelaufen wie zwei frisch Verliebte. Vieri, der Bruder, der gemeinsame Bruder, wie Maximilian plötzlich dachte, der feindlichen Uniform zum Trotz, war die Brücke, auf der sie ohne Umwege zueinander gefunden hatten, und, so wenig beide eine Vorstellung davon hatten, wie es mit ihnen weitergehen sollte, so sicher waren sie sich, dass dieses lange Gespräch einen Anfang darstellte.
Am späten Nachmittag, wenn die Hitze nachließ und die Brise einsetzte, die von Südwesten her landwärts strich, pflegte Maximilian seinen Block zur Hand zu nehmen. Dann machte er sich Notizen, skizzierte ein Gedicht oder schrieb einfach auf, was ihm gerade einfiel: einzelne Worte, Wortspiele, Reime, Aphorismen. Seit seiner Ankunft hatte er zwei Gedichte geschrieben, mittelmäßige Gedichte, wie er fand, und auch an diesem Tag kaute er unschlüssig auf seinem Stift, unzufrieden mit dem, was er bisher zu Papier gebracht hatte.
Laura ging ihm durch den Kopf. Er meinte, noch die warme Haut ihres Arms zu spüren, wenn sie sich beim Gehen unbeabsichtigt berührt hatten, und so erhaben er zuvor über jegliche körperliche Regung gewesen war, er wünschte sich jetzt diese Haut zurück, ihre glänzenden braunen Augen, das dunkle weiche Haar, das in der Sonne rötlich schimmerte.
Dabei war er fast ein wenig enttäuscht gewesen, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Am Tag nach seiner Ankunft, vor einer kleinen Ewigkeit, wie ihm jetzt schien, obwohl erst vier Tage vergangen waren.
Josef Lindemann hatte an jenem ersten Abend noch lange über Lauras Vorzüge gesprochen. Im Gleichschritt mit dem Wein, den er sich hineinschüttete, als könne er den Mangel an Nikotin nur mit einem Übermaß jenes anderen Gifts ausgleichen, war sein Ton immer vertraulicher geworden. Schließlich war Maximilian die einseitige Unterhaltung fast peinlich gewesen, und so hatte er sich bald mit Hinweis auf die lange Reise entschuldigen und auf sein Zimmer zurückziehen wollen. Ein Vorwand, der keiner war, denn plötzlich hatte er Mühe, die Augen offen zu halten. Doch Josef hatte ihn am Arm gepackt, verstohlen um sich geschaut und mit Verschwörermiene gefragt, ob er tatsächlich glaube, die Tuberkulose allein habe ihn so weit gebracht. Er leide auch an einer anderen, viel gefährlicheren Krankheit, einer Krankheit, für die es keine Heilung, noch nicht einmal die Hoffnung darauf gebe. "Satyriasis", hatte er schließlich düster gesagt, als sei damit alles erklärt, und in sein verständnisloses Gesicht hinein, hatte er plötzlich laut aufgelacht. Was bei der Frau die Nymphomanie sei, sei beim Mann die Satyriasis, hatte er hinzugefügt und sich von dem roten Ruffino nachgeschenkt. Er sei ein Sklave seines Geschlechts, so wie im Grunde jeder Mann, doch er müsse sich das so vorstellen, dass es bei ihm eine richtige Sucht sei, schlimmer als Opiumsucht. Von der Nikotinsucht ganz zu schweigen, denn diese habe er ja offensichtlich überwunden. Er schlug sich ein paar Mal gegen die Brust, eine Geste, die ihm zur Gewohnheit geworden war und die in der Runde in seiner Abwesenheit häufig nachgemacht werden sollte, nicht böswillig, aber doch mit einem steten Schmunzeln. Wie oft habe er dagegen anzukämpfen versucht! Schon seine erste Frau habe ihn deshalb verlassen, und auch die psychoanalytische Behandlung, in die er sich vor vier Jahren begeben habe, habe keinen Erfolg gehabt, bisher, wie er hinzufügen müsse, denn die Hoffnung habe er noch nicht aufgegeben. Dann hatte er ihm die Symptome seiner Krankheit geschildert, den unwiderstehlichen Drang, der aus den Eingeweiden zu kommen schien und seinen Verstand benebelte, sein Bemühen um die Frau, das bis zur Selbstverleugnung und Selbsterniedrigung ging und die Scham, die ihn danach überschwemmte. Er stelle sich das vielleicht ganz lustig vor - sein Blick hatte sich im verrauchten Halbdunkel des Raumes verloren, und Maximilian war es so vorgekommen, als sprängen seine Augen von Lidia zu Germaine und wieder zurück, gehetzt wie die Augen eines in die Enge getriebenen Tieres - doch er kenne kein Hochgefühl nach einer erfolgreichen Verführung, gewiss, die kurze Entspannung nach der, er möge die deutlichen Worte verzeihen, der Climax, doch auch diese lächerliche Sekunde der Ruhe sei nicht ungetrübt, denn schon begänne er, sich Vorwürfe zu machen, und er spüre, wie Verachtung für sich und sein Tun ihr Haupt aus den ausgewühlten Laken erhebe. Und das sei nur sinnbildlich gemeint, denn oft genug passiere es in einem Hauseingang oder in einer engen Kammer und nicht im Bett.
Josef lag ein wenig abseits im Schatten des größeren Segels. Der schwarze Badeanzug ließ seinen mageren Körper noch blasser erscheinen, und Maximilian fragte sich, worin der Erfolg seiner Verführungskünste begründet war, denn daran, dass ihm die Frauen gleich reihenweise verfielen, bestand kein Zweifel.
Durch die schwülstigen Beschreibungen Josefs nur ungenügend vorbereitet, war Maximilian am Morgen nach seiner Ankunft auf Laura getroffen. Sie kam ihm in einer weißen Schürze entgegen, ein großes Tablett in der Schwebe, der Gang von der Treppe zum Aufenthaltsraum war nicht breit genug, um aneinander vorbeizukommen. So ging sie die wenigen Schritte zurück und stellte das unförmige Ding auf den Tisch, um ihn zu begrüßen. Sie war groß und hatte den kräftigen Händedruck von jemandem, der es gewohnt ist, anzupacken. Ihr halblanges, dunkelbraunes Haar war mit einer Spange befestigt. Sie sah ihm offen in die Augen, lächelnd, und vielleicht war es dieses vollständige Fehlen von Befangenheit, das sie älter erscheinen ließ, erwachsener. Sie trug eine hochgeschlossene Bluse und einen knielange Rock, und Maximilian wunderte sich über die Phantasien, die ihr Anblick beim anderen Deutschen beflügelte. Es gab nichts Kokettes an ihrem Verhalten, nicht die geringste Anzüglichkeit, aber das brauchte der andere offenbar nicht, um sich aufgefordert zu fühlen. Maximilian dagegen fühlte sich freundlich, ja, herzlich aufgenommen, nichts hätte ihn vermuten lassen können, sie meine den Mann und nicht den Gast.
Erst im Laufe der darauf folgenden Tage hatte sich etwas verändert. Unmerklich hatte sich eine Vertrautheit zwischen ihnen eingestellt, eine Selbstverständlichkeit im Umgang, die er zwischen sich und einer Frau bisher noch nicht verspürt hatte. Bei einer fast fremden jedenfalls nicht, denn Anne und er kannten sich schon seit der Kindheit, und, so unbekümmert sie damals miteinander gespielt hatten, so nahe waren sie sich später geblieben, von einer kurzen Zeit während der Pubertät abgesehen. Laura gegenüber fühlte er anders. Sie blieb fern und fremd, und doch meinte er eine Verbindung zwischen sich und ihr zu spüren, ein seltsames Einverständnis, das weder Worte brauchte noch Gesten oder Blicke. Trotzdem, wenn sie ihn und die anderen Gäste beim Essen bediente, wenn sie einander auf der Treppe oder im Gang begegneten, die seltenen Male, die sie ihm auf der Straße entgegenkam, nichts an ihrem Verhalten war anders als am Morgen ihres ersten Zusammentreffens. Dann grüßten sie sich, wechselten belanglose Sätze oder lächelten sich einfach an, aber es gab keinen Blick, mit dem sie ihn eine Winzigkeit zu lange bedacht hätte, kein Umschauen, kein Suchen aus den Augenwinkeln, kein Zurückstreichen des Haars, und auch ihr Körper, ihre Bewegungen verrieten nicht, dass sie ihn suchte. Das gleiche galt für ihn, das glaubte er, und er fragte sich, ob diese unsichtbare Verbindung, so allgegenwärtig sie schien, nicht seiner Einbildung entsprang.
Arkadij und Boris kamen lachend aus dem Wasser. So wie sie sich zuvor gegenseitig bespritzt und untergetaucht hatten, so rannten sie jetzt durch den sich abkühlenden Sand. Was auch immer sie ein paar Tage zuvor gegeneinander aufgebracht hatte, es schien vergessen. Sie wechselten ein paar Worte mit Lidia, die ihren gelben Sonnenschirm aufgespannt hatte und in einem weißen Sommerkleid etwas abseits auf einer Decke saß, und warfen sich dann noch heftig atmend auf ihre Liegen.
Maximilian lehnte sich zurück. Block und Brille lagen auf dem kleinen Beistelltisch. Er blinzelte. Ohne Brille konnte er die Szene vor sich nur undeutlich erkennen, und doch war er sich sicher, dass sie jener vom Vortag glich, jener von vorgestern oder dem Tag davor. Es machte keinen Unterschied. Und plötzlich meinte er, schon Wochen und Monate hier zu sein, hier an diesem Ort, an diesem Strand. Das Meer, die Wellen, die auf- und abrollten, die Gezeiten, die im steten Wechsel das Wasser um wenige Zentimeter hoben und senkten, die immer währende Wiederholung des Gleichen schien ihn einzubeziehen, zu einem Teil ihrer selbst zu machen, und so schienen sich auch seine Tage zu wiederholen, zu vervielfältigen. Doch das war nichts, was ihn beunruhigte. Im Gegenteil, im Augenblick wünschte er sich geradezu, die Zeit anhalten zu können, er wünschte sich, er könne mit Hilfe des Meeres diesen Sommer zu einer kleinen Ewigkeit dehnen. Er war so schnell heimisch geworden, dass er am liebsten gar nicht an das weit entfernte und doch absehbare Ende denken wollte. Dann, wenn der Sommer zu Ende gegangen wäre, die anderen abgereist wären und auch er auf dem Bahnhof stünde, nur mit seinen Koffern und seinen Erinnerungen.
Er blinzelte in die Sonne. Heute war es zum ersten Mal richtig heiß gewesen. Der Sommer kündigte sich an. Vom offenen Meer her näherte sich ein Frachter. Vielleicht war es auch ein Kriegsschiff, das den nahen Marinestützpunkt anlief. Aus der Entfernung war der Unterschied nicht auszumachen. Noch war das Schiff nur ein Punkt auf der Horizontlinie, und der Rauch der Schornsteine die dünne Linie, die ihm folgte, Täler und Berge bildete, dazwischen kleine Wolken, die senkrecht hinaufstiegen und wie Ausrufezeichen am Himmel standen. Es war fast windstill. Obwohl die Mittagshitze nachgelassen hatte und er im Schatten saß, fühlte Maximilian, wie die Schweißtropfen seinen Nacken hinunterliefen.
Bis auf das Schiff, das langsam nach Nordosten kroch, schien das Wasser vor ihm leer und endlos. Schwer zu glauben, dass irgendwo dort draußen Korsika lag, eine Küstenlinie, die vom Strand und im Sommer niemals zu sehen war. An klaren Wintertagen und aus der Höhe der Berge sollte er später manchmal das Glück haben, auf jene Bergspitzen zu schauen, die für wenige Stunden aufzutauchen schienen. Ein geheimnisvolles Land, das kam und ging, als sei es eine Luftspiegelung, das sich näherte und entfernte, das er dort wusste, aber dort nicht fühlen konnte. Es blieb ein Phantom.
Vielleicht war es diese Stimmung, die ihn an Vieri denken ließ. Und er fragte sich, wie es wohl wäre, auf dieses Meer hinauszufliegen, immer weiter hinaus, um zu sehen, ob es dieses sagenhafte Korsika gab, ob es tatsächlich etwas anderes gab als Wasser. War auch Vieri an jenem Tag im ersten Nachkriegsjahr hinausgeflogen mit seinem neuen Flugzeug, dem schnellsten, das je gebaut wurde, um die Unendlichkeit des Meeres auszumessen? Nicht auf der Suche nach Land, denn ein Korsika gab es dort nicht, und Afrika war weit. Nicht auf der Suche nach etwas. Einfach nur immer geradeaus, bis das Meer sich in alle Richtungen so weit erstreckte, dass es müßig gewesen wäre, die Entfernung zur nächstliegenden Küste zu berechnen, an Land überhaupt zu denken. Was musste das für ein Gefühl sein, mit einem so schnellen Flugzeug über das Meer zu fliegen und zu wissen, dass es unendlich groß war, dass es um vieles größer war, als die Strecke, die einem noch blieb, dass es keinen Unterschied machte, ob man schnell flog oder langsam, nach Norden oder Süden? Es war groß genug, um einem die Gewissheit zu geben, dass irgendwann das Benzin zu Ende ginge, dass man hinunter musste, noch bevor Land auch nur in Sicht wäre, unendlich groß.
An diesem Nachmittag beschloss Maximilian, über Vieri zu schreiben. Am Abend sollte der erste Salon stattfinden. Lidia war schon vor einer Weile zurückgegangen, um sich umzuziehen und die letzten Vorbereitungen für ihr kleines Konzert zu treffen. Übernächste Woche stand seine eigene Lesung auf dem Programm. Dann wollte er von Vieri erzählen.