3. Kapitel
Das Albergo Oceano erinnerte Maximilian mehr an eine Kaserne als an ein Hotel, und so hatte er ihn nach wenigen Tagen wieder verlassen und sich in ein kleines Häuschen in Sichtweite der Kommandantur einquartiert. Die große Villa am Rande des Städtchens, die ihm Hauptmann Guderjahn angeboten hatte, war ihm zu unpersönlich erschienen. Die Casa Letizia dagegen hatte ihm auf Anhieb gefallen. Das Haus war einstöckig mit viereinhalb Räumen, ein verwilderter Garten umgab es, und, was das wichtigste war, da es am Berg in der Nähe der Kirche gelegen war, hatte er einen guten Blick sowohl auf die Berge als auch auf das Meer.
Maximilian hatte sich schon nach wenigen Wochen eingelebt, ein Leben, das vor allem aus Schreibtischarbeit bestand, aus Berichten, Anweisungen und Verfügungen, und wären die kurzen Fahrten im offenen Geländewagen nicht gewesen und Gerd Seewald, sein Adjutant, der stets mit griffbereiter Maschinenpistole neben dem Fahrer saß, er hätte vergessen können, dass Krieg war und er Offizier einer fremden Besatzungsmacht. Er schrieb viel und musste ganze Papierberge durchsehen. Manchmal meinte er, wieder in seinem Verlagsbüro in Hamburg zu sitzen. Die Einschätzungen des Sicherheitsdienstes las er wie Romane über ein fremdes und gefährliches Land, in dem es von Feinden nur so wimmelte. Dort gab es bewaffnete Partisanen, die in den Bergen ihr Unwesen trieben, Spione, die im unwegsamen Gelände an ihren Fallschirmen absprangen, konspirative Gruppen, welche die Verwaltungen, die italienische Armee bedrohten und selbst vor den faschistischen Organisationen nicht Halt machten.
Wenn er aus dem Fenster die Straße hinunter zum kleinen Platz blickte, dann sah er nur friedliche Menschen, alte Frauen, die zum Markt gingen oder von der Kirche kamen, Ball spielende Kinder und rauchende Männer vor dem Caffé degli Svizzeri an der Ecke. Nach den ersten aufgeregten Tagen hatte das Leben in der kleinen Stadt wieder seinen gewohnten Gang genommen. Die neue Republik, die kleine Republik, wie sie abschätzig genannt wurde, schien gefestigt, und die Italiener wären keine Italiener gewesen, hätten sie sich nicht auch mit dieser Entwicklung irgendwie arrangiert.
An einem sonnigen Herbsttag Ende Oktober saß Maximilian im größten Zimmer der Casa Letizia, in dem ehemaligen Wohnzimmer, dem er mit Hilfe einiger Ordner und Registraturen und eines neuen Telefons einen amtlichen Anstrich verliehen hatte. Die eigentliche Kommandantur war nah. Musste ein Schriftstück hin- oder hergeschickt werden, ging einer der Fahrer, manchmal schlenderte auch Maximilian selbst über das wellige Kopfsteinpflaster zur grauen Fassade des Albergo hinüber. Dann nahm er den Hund mit, eine hellbraune Promenadenmischung, die ihm zugelaufen war, und die meiste Zeit im Garten auf einer Matte, war es zu kalt, auf der alten Couch im Gang lag. Dort schlief auch eine langhaarige graue Katze, die offenbar den ausquartierten Besitzern des kleinen Häuschens gehörte. Diese waren zu Verwandten aufs Land gezogen und hatten das Tier zurückgelassen. Vielleicht war es zu alt oder zu müde für die beschwerliche Reise.
Maximilian hatte gerade gefrühstückt und nippte lustlos an dem zu starken Kaffee, den Gerd Seewald gekocht hatte. Er las ein Schreiben von Generalmajor Knippschild, mit dem die versprochene personelle Aufstockung erneut in eine ungewisse Ferne rückte. Gelb und heiß fiel die Sonne auf das Papier, auf seine Hände. Er blinzelte. Dann zog er die Lesebrille ab, die er seit einiger Zeit tragen musste und rieb sich die Augen.
Als er sie wieder öffnete, stand sein Adjutant vor ihm. Der Wachsoldat hatte ihn hereingelassen, ohne dass er es bemerkt hätte. Die Frau sei da, meinte Seewald knapp, und als er Maximilians verständnisloses Gesicht sah, fügte er hinzu, die Haushaltshilfe, die sie seit geraumer Zeit suchten.
Tatsächlich hatte Maximilian schon bald nach seinem Einzug in der Casa Letizia einen Aushang gemacht, hatte auch über die üblichen Kanäle die Nachricht verbreiten lassen, er gedenke eine Haushälterin zu beschäftigen, hatte, nach einigen ereignislos verstrichenen Tagen, den in Aussicht gestellten Lohn mehrmals erhöht, ohne jemanden aus der Einwohnerschaft dazu bewegen zu können, für einen Deutschen zu arbeiten. Zwischenzeitlich hatte er die Hoffnung fast aufgegeben und sich mit der Aussicht abgefunden, sich von seinem Adjutanten versorgen zu lassen, für den zwar die hiesigen Kaffeemaschinen unergründbare Geheimnisse zu bleiben schienen, der aber, was das Zubereiten einfacher süddeutscher Gerichte anging, einiges Geschick zeigte. Dennoch war Maximilian erleichtert, die Neuigkeit zu hören, und er machte Gerd ein Zeichen, die Frau hereinzuführen.
Laura hatte sich lautstark geweigert, hatte ihn für verrückt erklärt, für unzurechnungsfähig, für skrupellos, und Stefano, der erwartet hatte, er könne sie mit einer schlichten Bitte dazu bewegen, notfalls mit der Autorität des älteren Bruders, die alte Verbindung zugunsten der Widerstandsbewegung wiederzubeleben, war ratloser geworden, je länger das Gespräch andauerte. Was schließlich den Ausschlag gab, hätte er nicht zu sagen gewusst, die verständnisvollen Worte, die er für Maximilian von Kampen fand, für seinen Weggang, für seine Wiederkehr, der Patriotismus, den er eindringlich in der Schwester beschwor, die schweren Zeiten, die Notwendigkeit, die eigene Verletzlichkeit hinter die gemeinsame Sache zurückzustellen, und was er noch alles bemühte, um sie zu überzeugen. Was sie Widerstand leisten ließ, war nicht ihr Widerwillen, für die Besatzer zu arbeiten, und sie hatte auch keine Vorahnung, sie könne dafür tatsächlich einmal zur Rechenschaft gezogen werden. Dass ihre Verbindung zu Maximilian der Anlass sein könnte, sie kurz nach der Befreiung zum Tode zu verurteilen, wäre ich genauso abwegig erschienen wie das Ansinnen des Bruders. Es war ein Schmerz tief in ihrem Inneren gewesen, der Schmerz, der am Tage der Ankunft Maximilians wieder erwacht war, dem sie keine Nahrung geben wollte. Doch dann war sie irgendwann still geworden, hatte sich in ihr Schicksal gefügt, hatte gesagt: "Gut, ich mach’s", und zum ersten Mal hatte sie gefühlt, was Maximilian fast zwanzig Jahre zuvor beschrieben hatte. Es war leicht nachzugeben, es war leicht, sich aufzugeben, eine Leichtigkeit, mit der man in den Tod hätte gehen können.
Als sie sich dann in der Kommandantur an den Adjutanten gewandt hatte, war sie vollkommen ruhig gewesen. Der gut aussehende Unteroffizier hatte sie überaus höflich behandelt, und wären die Abzeichen am Revers seines Kragens nicht gewesen, er hätte ein älterer Freund ihres Sohnes sein können. Sie hatte sich als Frau Lucetti vorgestellt, und als Seewald sie mit diesem Namen ankündigte, gab es nichts, was Maximilian vorbereitet hätte. Er sah auf, starrte sie an, und Laura hatte Zeit, ihn in Ruhe zu betrachten.
Maximilian sah müde aus. Er war so dünn wie damals. Das kurzgeschnittene braune Haar schien lichter und heller, von der Sonne gebleicht oder vom ersten Grau durchzogen. Zwei tiefe Falten hatten sich zwischen Nase und Mundwinkel eingegraben und verliehen seinem Gesicht zusammen mit den abfallenden Brauen einen ernsten, fast strengen Ausdruck. Und doch, trotz des Alters wirkten seine Züge gleichmäßiger, harmonischer. Es war derselbe Effekt, den Laura schon mehrmals beobachtet hatte, verglich sie alte Fotografien mit dem lebenden Vorbild. Die Jugend schien eine Karikatur des Alters. Nicht umgekehrt, und das erstaunte sie auch an diesem Tag.
Sie selbst war schwerer geworden, ohne dick zu sein. Sie hatte ein Kopftuch übergezogen, einen dünnen Umhang und fröstelte. Sie fragte sich, ob er sie erkannt hatte, suchte in seinen grauen Augen nach etwas, was sie an früher erinnert hätte, suchte ihn, suchte sich selbst, so als könnte sich ihr Spiegelbild als das Abbild jener Siebzehnjährigen entpuppen, sah sie nur genau genug hin.
Lange sagte niemand ein Wort, so lange, dass Gerd Seewald unruhig wurde. Schließlich machte ihm Maximilian ein Zeichen, sie allein zu lassen.
Erst dann sagte er "Laura!", fassungslos, so lächerlich erstaunt, als begegneten sie sich im tiefsten Afrika oder am Polarkreis und nicht wenige Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem sie sich getrennt hatten. Aber vielleicht schaffte die Zeit größere Entfernungen als der Raum, dachte Laura.
Fortan kam Laura täglich in die Casa Letizia. Für den Weg von Carrara, wo sie seit der Requirierung der Pension wohnte, nach Monteforte brauchte sie zu Fuß eine gute Stunde. Manchmal wurde sie von einem Ochsenkarren mitgenommen, dann dauerte es fast genauso lang, aber sie musste nicht gegen den kalten Wind ankämpfen, der über die Hänge der Berge pfiff und oft Regen mit sich brachte. Busse gab es nicht, und von einem Armeefahrzeug ließ sie sich nur ungern mitnehmen. Roh waren die Scherze der Soldaten oder Milizionäre, und allein mit ihnen im Zwielicht des Morgens oder Abends zu fahren, behagte ihr nicht. Lieber ging sie dick eingepackt, unter Röcken und Mänteln verborgen, mit Hals- und Kopftüchern vermummt wie eine alte Frau die einsame Straße entlang.
Sie kochte für Maximilian, putzte, räumte auf, sie wusch seine Wäsche, bügelte die Uniform und nähte Knöpfe an. Sie fettete seine Stiefel ein, so wie sie es von ihrem Mann gelernt hatte, mit ranzigen Speckschwarten, die sie von zuhause mitbrachte. Und wenn Maximilian unterwegs war, in der Kommandantur oder auf einer seiner vielen Inspektionsreisen in die nähere und weitere Umgebung, dann durchsuchte sie seinen Schreibtisch, die Schubladen, die Schränke. In der ständigen Angst ertappt zu werden - der Wachposten stand vor dem Haus und häufig kamen Boten, um etwas abzuholen oder zu bringen -, ging sie die Akten, die Rundschreiben, die Tagesbefehle durch, suchte nach etwas, was sie verstand, eine Übersetzung, ein Schreiben der italienischen Behörden, Schriftverkehr mit den hiesigen Armeeverbänden oder den faschistischen Einheiten. Manchmal, wenn die Umstände es erlaubten und es ihr wichtig erschien, schrieb sie ein deutsches Schriftstück ab. Einer von Stefanos Männern wusste sicher etwas damit anzufangen.
Im November setzte der Dauerregen ein. Es regnete tagelang, wochenlang. Es regnete von morgens bis abends. Es regnete nachts. Wenn zwischendurch der Himmel sich aufhellte und der Regen nachließ, sich die eng an die Berge schmiegenden Wolken ein paar Meter gehoben hatten, dann liefen die Menschen auf die Straße, um Lebensmittel zu besorgen, Behördengänge zu erledigen oder anderes Liegengebliebene nachzuholen. Überall war Wasser. Es stand in tiefen Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster, es drang in die Keller, es schäumte in den vormals ausgetrockneten Flussbetten und stürzte von den Felswänden in die Täler hinab. In der ganzen Gegend verschlammten die Straßen, rissen Bergrutsche die Wege mit sich. In den Häusern beschlugen die Fenster, die Bettwäsche war klamm, und die Kleidung wollte selbst dicht bei den Öfen nicht trocknen.
Mit dem Regen kam auch die Trostlosigkeit, die dem November an der Küste eigen war. Die Welt schien sich aufzulösen. So wie die Berge verschwanden, die bläulich leuchtenden Felsen und die weiß glitzernden ravaneti der Steinbrüche, so versank auch das Meer im Nebel, wurde eins mit den grauen bis auf den Boden hinabreichenden Wolken. Im fahlen Licht und im immer währenden Rauschen blieben einzelne Dächer zurück, ein sumpfiger Acker, die Skelette der entlaubten Kastanien. Und die Friedhöfe, zu denen die Menschen in den kurzen Regenpausen eilten, als gebe es nichts Wichtigeres.
Maximilian war jetzt häufiger zu Hause. Nur selten ging er zu Hauptmann Guderjahn hinüber. Dann kam er vollkommen durchnässt zurück, trank einen Tee, und das ganze Haus duftete nach Zimt und Nelken. Er telefonierte oft und lange. Manchmal kam ein geschlossener Wagen, um ihn abzuholen. Die meiste Zeit saß er am Schreibtisch und schrieb. Las er ein längeres Schriftstück, setzte er sich in den alten Lehnstuhl am Ofen und schlug die Beine übereinander. Dann und wann rieb er sich die kalten Hände und überlegte, ob das Holz, der armselige Vorrat an Kohlen über den Winter reichte.
Sie sprachen wenig miteinander. Wenn jemand von ihnen etwas sagte, dann ging es um den Haushalt, das Essen, die Einkäufe, was zu erledigen sei und was schon getan war. Sie fragte ihn, wann er zu Tisch wolle, er erkundigte sich, ob sie mehr Haushaltsgeld brauche. Sie bemühte sich, Deutsch zu sprechen, schon bald hatte sie einige alltägliche Vokabeln gelernt, er pflegte sein Italienisch, das durch die Arbeit von Woche zu Woche besser wurde, und wäre diese gegenseitige Fremdsprachigkeit nicht gewesen, sie hätten einem Ehepaar zum Verwechseln geähnelt, das schon seit Jahrzehnten verheiratet war. Hinzu kam eine Höflichkeit im Umgang miteinander, die allgegenwärtig war, eine fast übertriebene Aufmerksamkeit, mit der sie sich bedachten.
An einem dieser Regentage legte er die Zeitung beiseite, stand von seinem Lehnstuhl auf und stellte sich ihr in den Weg. Sie festzuhalten wagte er nicht. Sie hatte einen überquellenden Papierkorb in Händen, den sie wie zum Schutz vor die Brust hielt, an sich drückte wie ein Kind. Ernst und ausdruckslos sahen sie sich an.
Schließlich sagte er: „Warum bist du gekommen?“
„Das Gleiche könnte ich dich fragen.“ Sie sprach Italienisch, und ihre Stimme klang hell und herausfordernd.
„Es ist Krieg.“ Es war keine Entschuldigung, es war eine Wahrheit, eine von vielen, und so schien dieser Satz, dieses Wort nichts zu erklären.
„Ja, es ist Krieg, der gleiche Krieg, der schon immer war.“
Er schwieg, und sein Kopf füllte sich mit den achtzehn Jahren, die vergangen waren. Er dachte, an Anne, an die Scheidung, an ihre Flucht, an den Einberufungsbefehl, den er eines Morgens in Händen gehalten hatte, verblüfft, sie könnten tatsächlich ihn meinen. Laura hatte recht, rückblickend erschien ihm dieser Krieg als eine Fortsetzung des letzten, die Zeit dazwischen nichts als ein brüchiger Waffenstillstand. Angst. Längst vergessen geglaubte Angst und neu erwachte. Angst, die nachts am Schlafen hindert und tags unruhig macht, den Herzschlag beschleunigt, den Atem nimmt. Nur jener Sommer vor achtzehn Jahren blieb wie ein leuchtender Fleck in seinem Gedächtnis. Portoclemente schien eine sonnige Insel in einem trüben, in einem hoffnungslosen Meer. Aber auch da machte er sich vielleicht etwas vor.
Irgendwann sagte sie, leiser: „Warum bist du nicht zurückgekommen?“
„Ich konnte nicht.“
Lange sah sie ihn an. Dann nickte sie. Den Papierkorb noch immer im Arm schob sie sich am ihm vorbei.
Ende November hörte der Regen auf. Mit den Bergen und dem Meer kehrte auch die übrige Welt zurück, lag scharf wie ein geborstener Stein unter dem stahlblauen Himmel, dass es in den Augen schmerzte. Die Luft war klar und durchsichtig, und als Maximilian an diesem Morgen die Fensterläden zurückschlug, um wie immer mit einem ersten Blick das Meer zu suchen, ein türkisgrüner Streifen auf dem die weißen Schaumkronen der Wellen schwammen, erblickte er zum ersten Mal den Schatten der Insel.
Zuerst meinte er eine Wolkenbank zu sehen, eine Luftspiegelung. Lange starrte er zum Horizont, der an diesem Tag einem klaffenden Spalt glich, ein sauberer Schnitt, der sich von der Spitze der Halbinsel, dort wo die Küstenfestung den Kriegshafen schützte, bis hinunter in den unsichtbaren Süden zog.
Dann war er sich sicher, der braune Streifen mit den grauen Wolkentupfen war Korsika, jenes ferne Land, das er dort draußen wusste, an diesem Tage aber zum ersten Mal sah. Aufgeregt wie ein Kind lief er zu Laura, kaum war sie eingetroffen, um ihr seine Entdeckung zu zeigen.
Flüchtig sah sie hinaus. „Weißt du, was man hier sagt? Siehst du Korsika an Santa Barbara, das ist der vierte Dezember, ziehen die Geister ein für sieben Jahr. Santa Barbara ist die Schutzheilige der Bergleute, und die Menschen sehen niemals zum Meer an diesem Tag.“ Sie schloss das Fenster. Dann lachte sie. „Nein, es heißt nur, dass es einen harten Winter geben wird.“ Prüfend sah sie zum Himmel. „Aber das ist nichts Besonderes. In den Bergen ist der Winter immer hart.“ Auf dem Weg in die Küche drehte sie sich noch einmal um. „Außerdem ist heute nicht der vierte Dezember.“
Am Abend kam Piero. Eine Angewohnheit, die er den ganzen Winter über beibehalten sollte. Er holte Laura ab, begleitete sie auf ihrem Weg zurück nach Hause, und wenn sie mit der Hausarbeit noch nicht fertig war, stand er im Flur, die Mütze in Händen, oder setzte sich auf Maximilian Einladung steif auf den Rand eines Stuhles. Manchmal trank er einen Grappa, den der Deutsche ihm anbot, oder den Rest lauwarmen Espressos, der in der Maschine auf dem Herd stand. Seitdem die Pension geschlossen und von der Militärverwaltung für das Tribunal requiriert worden war, hatte er nichts mehr zu tun. Zudem war er alt genug, um tatsächlich in Pension zu gehen. Was ihn nach Monteforte führte, ob die Sorge um die Tochter oder irgendwelche andere Aufgaben, denen er sich angenommen hatte, wusste Maximilian nicht, und Piero sprach nie darüber.
Er erschien Maximilian noch kleiner als damals. Vielleicht war es die verlorene Leibesfülle, die diesen Eindruck verstärkte, vielleicht das dünne graue Haar. Er war alt geworden, seine Haut weit und faltig, und wenn er neben der Couch stand und den Hund streichelte, dann nahm sein Gesicht dessen Ausdruck an, dann wirkte er so treu und gutmütig, wie er aufmerksam und neugierig schien. Einzig seine grünbraunen Augen blieben in diesen ersten Tagen unruhig, wenn er verlegen vor Maximilian stand.
Sie schüttelten sich die Hand, ein langer und warmer Händedruck, und Maximilian, der sich freute, Lauras Vater wiederzusehen, erkundigte sich nach Maria, Pieros Frau, nach den anderen Kindern. Dieser breitete die Arme aus in jener für die Menschen hier so typischen Geste und sagte "Beh!"; starrte auf seine Uniform oder einfach nur geradeaus. Er hatte etwas Väterliches an sich, etwas Fürsorgliches, aber auch Verletzliches, das so ganz anders war als die unnahbare Strenge seines eigenen Vaters, und zum ersten Mal, seit er angekommen war, schämte sich Maximilian, schämte sich, dass er in Italien war, schämte sich, dass er eine Uniform der deutschen Wehrmacht trug.
In Pieros Begleitung war ein Halbwüchsiger, der Maximilian aus grauen Augen finster musterte und auch dessen Begrüßung nicht erwiderte. Der Junge hatte ein blasses, schmales Gesicht und trug ein Tuch um den Hals, wie es die Marmorarbeiter zum Schutz vor Splittern zu tragen pflegten. Er blieb im Halbdunkeln hinter Piero stehen, überragte diesen um Kopfeslänge und verfolgte das seltsame Wiedersehen mit zusammengepressten Lippen.
Dann kam Laura. Als müsse sie die Szene, die sich ihr bot, erst auf sich einwirken lassen, blieb sie einen Moment in der Küchentür stehen. Schließlich sagte sie: „Das ist Vieri. Mein Sohn.“
Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn war unverkennbar, und Maximilian, der das vertraute Gesicht nicht sofort mit ihr in Verbindung gebracht hatte, wunderte sich, dass er sich Laura in all den Jahren nie als Mutter oder Ehefrau hatte vorstellen können. Sie war immer siebzehn geblieben, immer eine junge Frau und immer hatte sie auf ihn gewartet. Er hatte sie in seine Erinnerungen eingesperrt, in eine Zeit, die stets die gleiche geblieben war, während er sich Jahr um Jahr entfernte. Das gleiche galt für ihre Kinder, ihre gemeinsamen Kinder, jene, die sie in den langen heißen Nachmittagen und Nächten erfunden hatten. Vielleicht war er deshalb so betroffen, ihren Sohn zu sehen, einen Sohn, der auch einen Mann voraussetzte, einen Ehemann, eine ganze Familie. Hinzu kam der Name, und während er in Vieris kalte Augen blickte, fühlte er sich betrogen, fühlte sich um die Kinder betrogen, die er mit Anne nicht gehabt, und um jene, die er mit Laura gedacht hatte, fühlte sich um den Sohn betrogen, dessen Name jetzt ein anderer trug.
Später sollte er ihr das vorwerfen, sollte ihr vorwerfen, ihre gemeinsame Zukunft verraten zu haben, nicht lange genug gewartet, sich mit dem Erstbesten eingelassen zu haben, mit dem Erstbesten oder mit einem, den sie schon kannte, als sie mit ihm noch scheinheilig Händchen hielt. Eine lächerliche Eifersucht hatte ihn plötzlich überschwemmt, eine Eifersucht, die die ganze Enttäuschung in sich trug, die er über die Jahre in sich gesammelt hatte.
Er stellte sie zur Rede. Seit Tagen schon hatte es in ihm gearbeitet, verfolgte ihn Vieris Blick, die Verachtung darin, und im gleichen Maße, wie er sich ausgeschlossen fühlte, meinte er, auch Laura zu verlieren – eine Fremdheit die tiefer wurde, je häufiger er das Bild beschwor. Und obwohl er wusste, dass er kein Recht hatte, ihr Vorwürfe zu machen, dass sein eigenes Verhalten um nichts besser war als ihres, blieb diese maßlose Enttäuschung, ein tiefer Schmerz, der mit einer ebenso großen Wut einherging.
Laura stand über der Spüle gebeugt. Wie versteinert hörte sie ihn an, hörte seine Ironie, die bösartigen Anspielungen, hörte, wie er sich hineinsteigerte, angestachelt von ihrem Schweigen, bis er irgendwann selbst zornbebend schwieg. Dann baute sie sich vor ihm auf, sah auf in sein vor Wut graues Gesicht, und ihre Augen schienen ihn zu durchbohren. Mit all der Kraft, zu der sie fähig war, schlug sie ihm ihre nasse Hand ins Gesicht. Sie sagte: „Dummkopf! Es ist dein Sohn!“, und dieses dein war das einzige Wort, das sie hinausschrie, in das sie ihre ganze Wut legte. Dann warf sie ihre Schürze auf den Küchentisch, nahm ihre Sachen und ging. Maximilian stand in der Küche, hielt sich die glühende Backe und versuchte zu verstehen.
Doch das war einige Tage später. An diesem Abend hatte er seinen Sohn zum ersten Mal gesehen, ein Sohn, der so fremd war, als sei ein anderer der Vater, und als Vieri in Lauras und Pieros Begleitung mit hoch erhobenem Kopf hinausging, fühlte Maximilian sich elend, elend und einsam.