4. Kapitel

 

Nebelwolken füllen das Tal. Graue Schwaden, die wie schmutziger Schnee auf den Hängen liegen und die dreißig Kilometer lange Senke zwischen Pontremoli und der Enge von Stadano den Blicken entziehen, fern und geheimnisvoll erscheinen lassen. Tief unten schimmert der perlmuttfarbene Fluss, blitzen die Gleise der Eisenbahnlinie in den ersten Strahlen der Sonne auf. Daneben das von der Nässe geschwärzte Band der Straße, die von Parma zur Küste führt.

Wenn dann die Sonne höher steigt und der Himmel die Farbe der Fresken in den Herrenhäusern annimmt, ein durchsichtiges Blau, durch das golden das Licht der Sonne fällt, schwer und ungehindert, beginnen die Nebelbänke sich aufzulösen und geben den Blick auf die Berge frei. Der braune Kamm der Apenninen auf der einen Seite, die schroffen Felsen der Apuanischen Alpen auf der anderen. Nach Westen hin spaltet sich der Kessel. Hinter der grasgrünen Ebene von Luni öffnet sich die Bucht von La Spezia, spannt sich das Thyrrenische Meer bis zum Horizont.

Eingestreut zwischen nackten Kastanienwäldern und blaugrünen Seepinienhainen, zwischen Weiden und Äckern liegen winzige Dörfer, Weiler, einzelne Häuser, Kapellen und Klöster. Rauchfahnen steigen aus den Kaminen, steigen hinauf zu den Eichenwäldern und den Zypressen der Anhöhen, dorthin, wo die rußgeschwärzten Ruinen der Burgen das Tal noch immer zu beherrschen scheinen.

So sieht das Tal des Magra an einem Wintermorgen aus, und das war auch der Anblick, der sich Stefano an jenem Tag im Januar bot, als er bergan ging.

Er war mit der aufgehenden Sonne aufgebrochen, um vor Mittag bei den Männern zu sein.

Die Wege hinauf zum Monte Bardone wurden schon von alters her von Räubern und Mördern unsicher gemacht, von Wegelagerern und Salzschmugglern, und als Lauras Bruder an einem der Schilder vorbeikam, die kürzlich aufgestellt worden waren und in der verschnörkelten Schrift der Besatzer vor den Partisanen warnten, musste er lachen. Achtung Banditen! war dort zu lesen, eine Warnung, die durch zahlreiche Einschusslöcher unterstrichen schien, Spuren von Schießübungen, die aufgrund des allgemeinen Munitionsmangels eher den Schwarzen Brigaden als den eigenen schlecht bewaffneten Einheiten zuzuschreiben waren.

Täglich stießen neue Männer zu ihnen, junge Burschen, die gerade ihren Einberufungsbefehl erhalten hatten, zerlumpte Angehörige der regulären Armee, die sich weigerten, zur Truppe zurückzukehren und seit Wochen durch die Apenninen irrten. Niemand hatte Papiere oder gar einen Ausweis, und so musste man darauf vertrauen, dass sich keine Spitzel unter ihnen befanden. Sie gaben sich einen Decknamen, zuerst hochtrabende wie Cäsar, Hannibal oder Korsar, später, bescheidener geworden, ursprünglichere, doch nicht minder blutrünstige, dann nannten sie sich Tiger oder Panter. Stefano hatte in Gedenken an den Großvater den Namen Simon gewählt.

Als er nach mehr als drei Stunden in Sichtweite des Hofes kam, blieb er kurz stehen. Sein Atem ging schnell, und er musste den Hustenreiz unterdrücken, der ihn in den letzten Tagen häufig quälte. Die Riemen des Rucksacks schnitten ihm in die Schultern. Er spuckte den Tabak aus und sah prüfend zu den halb zerfallenen Mauern. Von hier oben hatte man eine gute Sicht auf das Tal und konnte den Aufstieg eine halbe Wegstunde weit einsehen. Durch die Zähne stieß er einen durchdringenden Pfiff aus, und als ihm von oben geantwortet wurde, atmete er erleichtert auf.

Er begrüßte Mick, den Polen, der auf einem Stein saß und die Beine baumeln ließ. Der ehemalige Zwangsarbeiter hielt ein altes Jagdgewehr in den mit Wollresten umwickelten Händen und schien erbärmlich zu frieren. Weiß wie Rauch entwich der Atem seinen grauen Lippen.

„Der tenente?“ Stefanos Blick ging zum halb zerfallenen Gebäude. Der Pole nickte.

Als er die Tür zum einzig halbwegs erhaltenen Raum aufstieß, schlug ihm beißender Rauch entgegen. Drinnen war es dunkel, aber warm. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. In der Mitte des Raumes, in einer behelfsmäßig hergerichteten Feuerstelle, brannten prasselnd einige feuchte Äste. Daneben lag Essgeschirr. Ein mit Wasser gefüllter kupferner Topf stand auf einem flachen Stein bei den spärlichen Flammen. Der Raum war groß und langgestreckt, ein ehemaliger Stall vielleicht, denn überlag lag Stroh auf dem Boden, war trockenes Laub aufgeschichtet worden. Darin saßen oder lagen die Männer.

„Gemütlich habt ihr es!“

„Ja, an Brennholz mangelt es wenigstens nicht.“

Stefano drückte Oberleutnant Roberto die Hand. Dann sah er lächelnd in die erwartungsvoll dreinschauende Runde. Er packte seinen Rucksack aus: zwei Flaschen Wein, ein dunkles Brot, eine Salami und einige Eier, die er vorsichtig einem Blechtöpfchen entnahm. Dem Offizier übergab er viertausend Lire, die das regionale Befreiungskomitee in Genua bewilligt hatte.

„Das ist ein Geschenk des Himmels.“ Tenente Roberto faltete die Scheine sorgfältig zusammen. „Die Jungs brauchen dringend warme Kleidung. Ich werde gleich morgen früh jemanden nach Pontremoli schicken.“

„Er soll sich vorsehen. Die Deutschen haben fünftausend auf jeden von euch ausgesetzt. Tot oder lebendig. Und Lebensmittelkarten für zwei Monate obendrein. Und Tabak, so viel wie für ein ganzes Jahr.“

„Weiß man, ob es so ein billiger Verschnitt ist oder richtig gute Importware?“ Der avvocato grinste zwischen kaputten Zähnen, und die Männer lachten. Er hieß "Anwalt", weil er gerne und viel redete. Ein Spitznamen, der ihm schon vor dem Krieg verliehen worden war, als er, wie die meisten anderen der Gruppe, noch im Steinbruch arbeitete.

Die Brigata Barudda bestand aus neun Männern, wenn man Stefano mitzählte, aus zehn. Doch war dieser kein ständiges Mitglied. Er pendelte zwischen der Küste und dem Tal, überbrachte Neuigkeiten, manchmal Proviant und hielt die Verbindung mit der Außenwelt aufrecht, mit den neugeschaffenen Widerstandsorganisationen und den alliierten Stellen im Süden oder in der Schweiz. Er wurde manchmal scherzhaft commissario genannt, in Anspielung an die Politischen Kommissare der sozialistischen und kommunistischen Brigaden, weil auch er, nicht zuletzt wegen seiner bewegten Vergangenheit, für die Moral der Truppe verantwortlich zeichnete oder für die ideologische Ausrichtung, ein Wort, das angesichts der bunt zusammengewürfelten Schar übertrieben und unpassend erschien. Sie besaßen zwei Pistolen, ein paar alte Gewehre, eine Kiste Handgranaten mit geringer Sprengkraft sowie rote und weiße Fähnchen, die ihnen die Bauern besorgt hatten, und vielleicht von Nutzen sein konnten, sollten tatsächlich einmal die ersehnten alliierten Flugzeuge über den Bergen auftauchen, um Lebensmittel oder Waffen abzuwerfen. Bislang hatten sie nur die nächtlichen Bombardements des Hafens und seiner weitläufigen Bunkeranlagen miterlebt, ein weit entferntes Leuchten und Krachen, das an ein Wintergewitter erinnerte.

Später gingen Stefano und der Oberleutnant nach draußen, um die Lage ungestört zu erörtern. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt überschritten und schickte sich an, den nackten Grat der Apuanischen Alpen entlang ins Meer zu sinken. Es war wärmer geworden. Das langgezogene Tal lag still und bewegungslos vor ihnen.

„Die Stimmung ist schlecht. Wir warten, warten, warten. Und das bei dieser Kälte.“ Tenente Roberto nahm das Päckchen Zigaretten, das Stefano mitgebracht hatte, und zündete sich eine an. „Aber besser die Kälte als der Regen.“ Sie rauchten schweigend. Der Posten war aufgestanden, um ein paar Meter hin- und herzugehen. „Was sagen die Bauern?“

Stefano nickte langsam. „Sie hungern, sie fluchen, aber sie lassen sich nicht einschüchtern.“ Überall hingen Plakate, die jedem die Erschießung androhten, der die Banditen unterstützte. "In den Rücken wie ein Verräter", hatte Luigi, der Müller, unten in Villareggio gespottet und auf den Boden gespuckt, "als mache es einen Unterschied, von vorne, von hinten oder von der Seite erschossen zu werden. Weißt du“ - Stefano ging zum niedrigen Mauerchen, um zu den wenigen Häusern des Dorfes am Ende des Weges zu sehen - „die Menschen hier im Tal sind nicht gerade verwöhnt. Die Römer haben sie in die abgelegensten Provinzen ihres Reiches verschleppt, jedes verdammte Heer, das von Norden nach Süden marschiert ist, kam hier durch, und, damit nicht genug, jahrhundertelang wurden sie von den feinen Grafen Malaspina ausgesaugt. Jede Frau von Pontremoli bis Massa war Freiwild, nicht einmal die Nonnen im Kloster waren vor ihnen sicher.“ Er nahm seine Mütze ab und sah in die Sonne. „Meinst du, die haben Angst vor ein paar Deutschen? Oder gar vor den Carabinieri?“

Tenente Roberto war Genueser. Er war Mitte zwanzig, hatte blaue Augen und das helle, fast blonde Haar, das ein Seefahrer aus dem Norden mitgebracht haben mochte. Der 8. September hatte ihn in einer Kaserne in Alessandria vor einer Flasche Barbera überrascht. Am nächsten Tag waren die Deutschen durch die Porta Reale zur Zitadelle marschiert und hatten die Stadt durch die Porta Carraia verlassen, ein nicht enden wollender Strom von Männern und Material. Als sie schließlich merkten, dass es immer dieselben waren, die im Halbkreis um die Befestigungsanlagen marschierten, da hatten sie sich schon ergeben. Nach einigen Tagen war es ihm gelungen, sich abzusetzen.

„Sie sind gegen den Krieg, so wie sie gegen jeden Krieg waren und nicht erst seit dem achten September.“ Während die braven Bürger in La Spezia noch jeden Mittag nach dem täglichen Frontbericht die Fähnchen in der Europakarte umsteckten, sich zufrieden die Hände rieben und murmelten, es sei bald geschafft, hatten die Bauern in den Dörfern den Kopf geschüttelt. Gegen die Engländer, gegen die Amerikaner? Das war Wahnsinn. Sie hatten einen Bruder in Manchester und einen Onkel in New York. Sie wussten, wovon sie redeten. „Sie haben keinen Augenblick an einen Sieg geglaubt, das versichere ich dir.“

Der Oberleutnant legte Stefano die Hand auf die Schulter. „Ihr seid verdammte Anarchisten.“ Er schüttelte den Kopf und Lauras Bruder lächelte. Der tenente drückte seine Zigarette aus und steckte den Stummel ein.

„Außerdem geht es ihnen besser als noch vor ein, zwei Jahren. Sie führen keine Lebensmittel mehr ab, behaupten einfach, es gebe nichts mehr...“

„Ich weiß, Simon, ich weiß. Sie geben uns, was sie haben.“

„Aber das ist nicht der Punkt. Es ist eine Frage der Würde, da kann Luigi so lange spotten, wie er will. Früher sind sie nach La Spezia gegangen und haben sich für ein paar soldi im Arsenal zu Tode geschuftet. Sie durften nicht einmal in der Stadt übernachten. Unerwünschtes Gesindel! Waren nur gut genug zum Arbeiten. Und jetzt“ - Stefano zeigte nach unten auf die ferne Stadt, die sich grau in die Bucht schmiegte - „seitdem die Bomben fallen, kommen die spezzini in die Dörfer hinauf. Es sind keine feinen Herrschaften mehr, im Unterhemd lauften sie herum und legen ihren Ehering für ein Wurstbrot auf den Tisch.“ Sein Lachen ging in ein langes Husten über. „Allein dafür hat sich der Krieg gelohnt.

„Nein, Simon, das solltest du nicht sagen.“

„Ich möchte nur, dass du sie verstehst.“

Tenente Roberto nickte. In diesem Augenblick hallte ein dumpfer Knall durch das Tal. Fragend sahen sie sich an. Dann krachte es erneut und dann noch einmal, und als schließlich eine automatische Waffe mit einer langen Salve einsetzte, waren sie sich sicher, dass irgendwo dort unten geschossen wurde. Die trockenen Explosionen brachen ab, und nachdem das letzte Echo sich zwischen den Bergen verloren hatte, wurde es wieder totenstill.

Dann stürzten die Männer aus dem Stall. Bärtig, mit den klobigen Gewehren in Händen, in ihren zerlumpten Jacken und Mäntel, mit den Mützen und Hüten, die sie sich in der Eile über den Kopf gezogen hatten, glichen sie tatsächlich einer Horde altertümlicher Banditen. Der tenente seufzte und machte ihnen ein Zeichen, sich auf ihre Plätze zu begeben. Geduckt gehend, erreichten er und Stefano den Wachposten. Mick lag hinter einem Felsen und spähte ins Tal.

Der Pole schüttelte den Kopf, und sie kauerten sich hinter dem großen Stein. Der Offizier nahm sein Fernglas. Es war klein und glich mehr einem Opernglas als einem Armeefeldstecher. Lange starrte er hindurch. Auch er schüttelte den Kopf. Plötzlich griff er nach Stefanos Arm und zeigte zum Dorf hinunter. Jetzt konnten auch sie eine Gestalt erkennen, die schnell den Weg herauflief. Es war ein Junge oder ein Kind, und so warteten sie, ohne sich zu rühren.

Sie erkannten Lina erst, als sie den versteckt liegenden Hof schon fast erreicht hatte. Die Tochter des Müllers war in einem langen dunkelgrünen Umhang gehüllt, dessen viel zu große Kapuze ihr weit in die Augen fiel. Nur einzelne Strähnen ihres kastanienbraunen Haars wanden sich widerborstig dem Tageslicht entgegen. Sie mochte siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein und war knochig wie ein junges Fohlen. Obwohl sie den ganzen Weg gerannt war, schien sie kaum außer Atem.

Sie müssten fort und zwar gleich. Die Carabinieri seien im Tal, zwanzig oder mehr, angeführt von dem dicken Unteroffizier, dem brigadiere Natta, der in dem Ruf stand, für eine großzügig bemessene Belohnung auch seine Mutter ans Messer zu liefern.

Tenente Roberto und Stefano sahen sich an. Schon mehr als einmal hatte es falschen Alarm gegeben. Eine alte Bäuerin hatte in Pontremoli etwas aufgeschnappt, und bis das Gerücht zu ihnen herauf gedrungen war, hatten sich ein paar lustlose Polizisten unten auf der Durchgangsstraße in ein ganzes Bataillon von Elitesoldaten verwandelt, die Grashalm für Grashalm das Tal durchkämmten. Doch diesmal schien es ernst zu sein.

So ruhig Lina äußerlich schien, sie drängte zur Eile. Oben auf dem Berg gebe es eine Höhle, da wären sie erst einmal sicher.

Stefano sah hinauf. Hinter einer verwilderten Weide begann der Aufstieg. Von unten war nur dichtes Gebüsch und nackter Fels zu sehen, kein Weg, nicht einmal ein Trampelpfad. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, zu seiner Frau Gina und Tochter Annalisa zurückzukehren, so zurückzukehren, wie er heraufgekommen war, als einsamer Wanderer. Er wurde nicht gesucht, und seine Papiere waren in Ordnung. Aber womit sollte er rechtfertigen, dass er sich in den Bergen herumtrieb, anstatt seiner Arbeit im Arsenal von La Spezia nachzugehen?

Es ertönte erneut ein leiser Pfiff, und Leone, Linas jüngerer Bruder, stand vor ihnen.

„Sie sind im Dorf. Fünf Mann. Saufen uns erst mal den Wein weg, können aber jeden Augenblick hochkommen. Sie suchen Engländer. Ich würde mich aber nicht darauf verlassen.“ Er grinste. Im Gegensatz zu der Schwester, deren Italienisch melodiös und fast rein war, sprach er den Dialekt des Tales, eine dichte Folge abgehackter Laute, die für den Genueser kaum verständlich waren.

„Engländer?“ Tenente Roberto dachte an Hauptmann Lewis, der in der Gegend von Rossano, auf der anderen Seite des Bergkamms, eine internationale Brigade führte. Und dann gab es noch Hayden, der sich mit einigen ehemaligen alliierten Kriegsgefangenen im unwegsamen Gelände bei Vinca verschanzt hatte. Aber es war nicht auszuschließen, dass sich hier noch mehr Engländer versteckt hielten.

Lina versprach, ihnen am nächsten Morgen etwas zum Frühstück hinaufzubringen und machte sich auf dem Weg zurück ins Dorf. Leone sollte sie zur Fúu delle Fate hinaufführen. Eilig brachen sie auf. Vor Einbruch der Dunkelheit mussten sie oben sein.

Leone ging zielstrebig voran, ohne jemals anzuhalten, und schon bald hatten sie Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Lange marschierten sie über verlassene Weiden, wichen dornigen Hecken aus und bahnten sich den Weg durch ein Gestrüpp wilder Haselnusssträucher. Dann wurden die Pflanzen niedriger, um schließlich nacktem Stein zu weichen, einzelnen Moosen. Auf Händen und Füßen überwanden sie die letzten Meter.

Inzwischen war der Nachmittag weit fortgeschritten, und die Sonne stand tief über dem Meer. Im Tal war es schon Nacht, nur noch die Gipfel der Berge glommen rötlich in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne. Hoch über ihnen stand bereits die fast volle Scheibe des Mondes.

Die Fúu delle Fate, die Feengrotte, war eher ein tiefer Spalt im Felsgestein, als eine richtige Höhle. Ein enger Durchgang führte in einen halbrunden Raum, der mühelos eine ganze Kompanie hätte aufnehmen können. Hier war es nicht ganz dunkel, denn der Spalt, durch den sie hereingekommen waren, setzte sich im Innern fort, bildete einen langen Kamin, der geradewegs zu einem Stück sternenübersäten Himmel zu führen schien.

Sie sahen sich um. Die ganze Grotte schien zu glitzern, zu funkeln und zu blinken, bläulich, violett, weiß zu schimmern. Als entwichen dem Stein brennende Gase, glühten die Wände und die Decke in den Farben eines kalten Feuers. Ein Effekt der sich verstärkte, ging man herum, und so strichen sie durch die Höhle, berührten den Stein und blickten auf ihre Hände in Erwartung, auch diese begännen zu leuchten. Aber es war kein Gas und kein Phosphor, nichts, was aus sich selbst heraus hätte brennen können. Es waren Quarze, und die Grotte war von ihnen überzogen, war ein einziger riesiger gespaltener Quarzstein. Selbst auf dem Boden reflektierten unzählige Kristalle das Licht des Mondes, das silbrig durch den Kamin fiel.

Und als Leone ihnen von der Legende erzählte, da konnten sie sich lebhaft vorstellen, wie die Feen hier in Vollmondnächten tanzten. Doch für sie waren es Frauen, wunderschöne und leichtbekleidete Frauen, deren verführerische Körper sich anmutig im Gleißen der Kristalle bewegten, nur begleitet von ihrem Sirenengesang. Sie trugen die Gesichter der Ehefrau oder der Verlobten, der Arbeitskollegin oder der Nachbarin, und für eine kurze Zeit vergaßen sie die Kälte, vergaßen sie den Wind, der wie ein hungriges Tier durch den Kamin brüllte.

Dann verabschiedete sich Leone. Die Carabinieri würden sich vermutlich spätestens am nächsten Nachmittag auf den Rückweg machen. Es war seltsam genug, dass sie über Nacht im Tal blieben. Für gewöhnlich legten sie Wert darauf, pünktlich Feierabend zu machen, um abends mit ihren Mädchen auszugehen.

Leone war schon auf dem Weg zum Ausgang, als er sich noch einmal herumdrehte. „Und denkt immer dran: nicht tanzen, niemals!“ Wieder zeigte er sein dümmlich wirkendes Grinsen, zwinkerte ihnen zu und war verschwunden.

Tenente Roberto sah ihm nach. „Ein merkwürdiger Junge.“

Stefano, der nach einer Stelle suchte, um Feuer zu machen, sah auf. „Wer, Napoleone?“

„Napoleone?“

„Ja, Leone ist nur eine Abkürzung.“ Er ließ seine Stablampe kurz aufleuchten. Die Batterien waren fast leer, und es war ungewiss, ob es jemals Ersatz gäbe. „Napoleon ist der einzige Herrscher, für den die Menschen hier etwas übrig haben. Er hat sie vom Joch der Grafen Malaspina befreit: Liberté, Egalité, Fraternité! Das hören sie immer noch gern. Es laufen eine Menge Jungs hier herum, die nach dem kleinen Korsen benannt sind.“

Mick, der Pole, und der dicke Bepi hatten einige Zweige und Äste zusammengetragen, die sie in einer Vertiefung in der Nähe des Abzugs aufschichteten. Stefano vergewisserte sich, dass der Feuerschein nicht durch die Lücke im Felsen zu Tal drang.

„Und was sollte die Bemerkung mit dem Tanz?“

„Es ist eine alte Legende.“

„Willst du sie mir nicht erzählen?“

Stefano seufzte. Er nahm den Oberleutnant zur Seite. „Die Geschichte mit den Feen ist nur die halbe Wahrheit. Sie ist zu schön, um wahr zu sein. Selbst für eine erfundene Geschichte ist sie zu schön.“ Er zog ihn zum Ausgang, und sie traten in die mondbeschienene Nacht hinaus. Im Tal war es vollständig dunkel. Nicht ein Licht war zu sehen. „Man sagt, die Feen tanzten nicht alleine“, fuhr Stefano fort. „Vom Friedhof kommen die Toten herauf.“ Er zeigte hinunter in die Nacht. „Zu Sankt Thomas, am dritten Juli oder am einundzwanzigsten Dezember, je nach Konfession, steigen sie aus ihren Gräbern und kommen zur Grotte. Aber nur bei Vollmond, naturalmente.“ Er lächelte. „Und die Legende sagt, dass die Feen jeden unvorsichtigen Wanderer zwingen, mit ihnen zu tanzen. Aber man muss sie nicht eigentlich zwingen, denn die Frauen sind überirdisch schön, und so feiern sie ein rauschenden Fest gemeinsam mit den kalten, blutleeren Körpern der Toten, den schweigsamen. Und das wäre nicht weiter tragisch, wenn nicht jeder, der mit den Toten tanzt, alsbald selbst sterben müsste.“

Später saß Stefano mit tenente Roberto am Feuer. Sie hatten gegessen, die Weinflaschen geleert, und es lag mehr am Alkohol als am Feuer, dass sich eine wohlige Wärme in ihm ausbreitete. Die Höhle um ihn herum erstrahlte im schwachen Licht der Flammen. Er meinte im Innern eines Diamanten zu sitzen, eines aus sich selbst heraus leuchtenden Steins. Er dachte an die alte Bauernlegende. Er betrachtete die Männer, die herumsaßen oder -lagen, sich in ihren Jacken und Mänteln, in den wenigen zerrissenen Decken gehüllt hatten. Niemandem war nach tanzen zumute.