1. Kapitel

 

Fast auf den Tag genau achtzehn Jahre danach stieg er aus dem Schnellzug aus Mailand. Es war ein heißer und staubiger Nachmittag im September, und das kleine Städtchen lag grau oberhalb des sich öffnenden Flusstals. Irgendwo dort unten war das Meer. Es war diesig, und in der flirrenden Luft verschwommen die Berge ringsum, gingen die Kastanien- und Buchenwälder, die die wenigen Dörfer umgaben, in den ausgebleichten Himmel über. In der Ferne brummte ein Flugzeug.

Er schloss die Koppel, zog seine Schirmmütze auf, verabschiedete sich von den beiden Offizieren, die in Fidenza zugestiegen waren, nahm sein Gepäck, öffnete die Coupétür und stieg die hölzernen Stufen hinab. Der Bahnsteig quoll vor Menschen über. Überall gingen und standen Uniformierte, deutsche Soldaten zumeist, aber auch Carabinieri, faschistische Milizen und einige italienische Marineoffiziere. Zivilisten umstanden die vollbesetzten Waggons der dritten Klasse, Frauen mit Kisten, Taschen und Bündeln, mit schreienden Kindern und ältere Männer, die still in der Sonne warteten.

„Willkommen in Italien, Herr Hauptmann“, plötzlich stand ein Unteroffizier vor ihm, salutierte, und Hauptmann von Kampen, der meinte, eben erst den Fuß auf den Bahnsteig gesetzt zu haben, wunderte sich, woher dieser so schnell gekommen sei und wie er ihn erkannt habe. Gerhard Seewald stellte sich als sein persönlicher Adjutant vor. Er schien sehr jung und mochte doch einundzwanzig oder zweiundzwanzig sein. Wäre die süddeutsche Sprachfärbung nicht gewesen, die graue Uniform, er hätte aus einem der Bergdörfer stammen können, aus einer der Städte der Küste. Seewald nahm Maximilians Gepäck und bahnte ihm einen Weg durch die Menge. Auf dem kleinen Platz vor dem Bahnhof wartete der Fahrer. Er lehnte am Wagen und rauchte. Als er sie kommen sah, nahm er Haltung an, hob den Arm zum Gruß, und Maximilian nickte ihm zu. Durch schmutzige Straßen mit heruntergekommen Häusern fuhren sie nach Pontremoli hinein zur Bezirkskommandantur.

„Nehmen Sie einen Cognac?“ Generalmajor Knippschild schenkte ihm ein. Dann fuhr er sich über das kurze graue Haar. „Wo waren Sie? In Frankreich? Dann sind Sie vermutlich Besseres gewohnt als das hier.“ Sie hoben das Glas und tranken. Der Bezirkskommandant lächelte oder schien zu lächeln, denn sein rechter Mundwinkel zeigte stets ein wenig nach oben, was seinem Gesicht etwas Freundlich-Spöttisches verlieh. Nur seine Augen blieben dunkel und unbewegt. „Ich will offen zu Ihnen sein. Ich habe Sie angefordert, weil ich einen Verbindungsoffizier brauche, jemanden, der den Kontakt zu den Italienern aufrecht erhält, zu den Zivilisten, zu den Milizen und zu den wenigen regulären Einheiten, die es noch zu geben scheint.“ Während er sprach, hielt er den Cognacschwenker mit beiden Händen und sah in die bräunliche Flüssigkeit. Dann nahm er die Akte, die auf dem Tisch lag, und blätterte darin herum. „Hm, hm, in Reims waren Sie stationiert. Nachrichtenbataillon. Scheinen ja ein richtiges Sprachgenie zu sein. Französisch, Italienisch, etwas Spanisch. Waren Sie in Spanien? Nein? Hm, und Sie kennen die Gegend hier wie Ihre Westentasche...“

„Mit Verlaub, Herr Generalmajor, das ist fast zwanzig Jahre her.“

„Und seitdem waren Sie nie wieder hier? Nein? Hm, immerhin, besser als nichts. Ich bin seit zwei Wochen da.“ Er lachte trocken. „Seit dem achten September versuchen wir zu retten, was zu retten ist. Aber das ist nicht viel, glauben Sie mir. Die italienische Armee hat sich de facto aufgelöst. Das völlige Chaos, wie Sie sich vorstellen können.“ Er kaute nachdenklich auf den Lippen. „Keine Ahnung, wer Freund und wer Feind ist. Auf die Carabinieri ist wenig Verlass, und die Schwarzhemden machen sowieso, was sie wollen.“ Er nahm eine Zigarette. „Rauchen Sie? Nein? Da haben Sie Glück!“ Umständlich zündete er sie an. „Außer auf uns selber kann man sich nur auf X. MAS Flottille verlassen, unten in La Spezia. Haben Sie von denen jemals etwas gehört? Das sind die härtesten Soldaten, die man sich vorstellen kann. Die schwimmen auf einem Torpedo zu den Engländern rüber und jagen denen die Pötte hoch. Reine Selbstmordkommandos. Unglaublich! Die interessiert kein Waffenstillstand, keine Kapitulation. Notfalls machen sie ihren Krieg alleine. Aber sonst...“ Er wackelte mit dem Kopf, während aus seiner Nase der Rauch langsam entwich. „Die Menschen hier scheinen uns nicht gerade wohlgesonnen. Selbst die Schwarzhemden scheißen sich die Hosen voll.“ Er zog abschätzig die Oberlippe hoch, und für einen Moment verschwand das Lächeln, das in seinem Gesicht eingebrannt schien. „Pack!“ Maximilian antwortete nicht, aber das schien der Bezirkskommandant auch nicht erwartet zu haben. „Ein eigenartiges Völkchen. Aber das wissen Sie vermutlich besser als ich. Haben 1940 als einzige in ganz Italien den Generalstreik gegen den Krieg ausgerufen. Stellen Sie sich das mal vor!“ Er schüttelte den Kopf. „Und die Partisanen...“

„Partisanen?“

„Ein paar geflüchtete Kriegsgefangene, ein englischer Offizier, der eine oder andere Deserteur, nichts Beunruhigendes. Sollte man aber nicht unterschätzen. Wir wollen doch nicht die gleichen Verhältnisse wie in den Abruzzen oder an der Adria, nicht wahr, von Kampen?“

„Jawohl, Herr Generalmajor!“

Dieser winkte ab. „Wir müssen Ordnung schaffen. Und zwar schnell.“ Er drückte seine halb gerauchte Zigarette aus. „Und dabei sollen Sie mir helfen, von Kampen. Was haben Sie im Zivilberuf gelernt?“ Er zeigte auf die Akte. „Sie sind Verleger? Sie haben’s also mit Worten. Das ist gut. Sie werden viel reden und noch mehr schreiben. Heute noch fahren Sie hinunter nach Monteforte. Das liegt im Dreieck zwischen La Spezia, Carrara und Aulla, aber wem sage ich das. Dort sitzt Hauptmann Guderjahn, ein fähiger Offizier. Sobald ich ein paar Mann entbehren kann, schicke ich Ihnen Verstärkung. Und vergessen Sie eins nicht: Sie gehören zu meinem Stab und sind nur mir persönlich verantwortlich. Niemandem sonst. Haben Sie mich verstanden?“ Dann gab er ihm eine Kladde mit Berichten, Karten und anderen Unterlagen. „Und den Seewald, den nehmen Sie mit. Den habe ich zu Ihrem Privatvergnügen abgestellt.“ Sein Lächeln verbreitete sich. „Sie sehen, wir wollen, dass Sie es Ihnen gut geht.“ Er deutete einen militärischen Gruß an. „Und jetzt fahren Sie! Willkommen in Italien, von Kampen.“

Italien. Maximilian schloss die Augen. Sie fuhren die kurvenreiche Straße durch das Tal des Magra hinunter zur Küste. Der Fahrtwind schlug ihm ins Gesicht. Tief sog er die Luft in sich ein. Das Meer. Er suchte das Meer. Zwischen den Gerüchen der Gewürze, die in seine Nase drangen, dem Rosmarin, dem Thymian, den Wacholderbeeren, zwischen den Auspuffgasen der Wehrmachtsfahrzeuge, die bergab fuhren, und den Ausdünstungen der wenigen Esel und Ochsen, die bergan getrieben wurden, der Schafe auf den verdorrten Weiden, irgendwo dort draußen musste das Meer sein. Salz, Seetang, Fisch. Wonach riecht das Meer? Dreißig Kilometer, eine Stunde, und er wäre zurückgekehrt.

„Sie sehen müde aus, Herr Hauptmann.“ Seewald saß vorne neben dem Fahrer, eine Maschinenpistole auf dem Schoß. Aufmerksam beobachtete er die Straße, die Landschaft, die langsam an ihnen vorbeizog.

Maximilian zog die Mütze ab und hielt sein Gesicht in die tief stehende Sonne. Es war noch immer warm, der Himmel wolkenlos. Dunst lag im Tal und vermischte sich mit dem Staub, den die Fahrzeuge aufwirbelten. Der Fluss war fast vollständig versandet, die Wälder waren trocken, und wenn der Wind über einem Kamm strich, raschelten die Blätter wie Papier. Seit Wochen schien es nicht geregnet zu haben.

Er öffnete die Augen. Dort war das Meer. Ein schmales Dreieck, das zwischen Himmel und Erde in der Sonne schimmerte. Grauer als der Himmel und nur wenig heller als die Berge davor. Im schrägen Licht des Abends schien jedwede Farbe aus den Dingen gesickert, und Maximilian meinte, eine alte Fotografie zu betrachten, ein Bild, das an manchen Stellen ins Bräunliche, Bläuliche oder Gelbliche glitt.

An einem solchen Tag musste Vieris Beerdigung gewesen sein, dachte er flüchtig. Laura.

Er hatte achtzehn Jahre lang an sie gedacht, nicht täglich, aber doch bis zuletzt, und, seitdem er seinen Marschbefehl hatte, häufiger als je zuvor. Was mochte aus ihr geworden sein? Er dachte an jenen Septembermorgen zurück, als sie ihn zum Bahnhof von Pietrasanta gebracht hatte. Ein halbes Leben war das her, und doch spürte er einen Stich in der Brust. Sie hatte gelächelt, war fast fröhlich gewesen, und beide hatten sie so getan, als sei es nur eine kurze Reise, als käme er am selben Abend schon zurück, am nächsten Tag. Sie hatte in ihrem weißen Kleid auf dem Bahnsteig gestanden und gewinkt, eine helle Gestalt, die langsam geschrumpft war, im Dampf der Lokomotive verblasste und doch in seine Netzhaut eingebrannt schien. Das letzte Bild.

Er griff in die Tasche. Der zerbrochene Propeller mit dem Namenszug war zu einer Art Talisman geworden, den er immer bei sich trug. Wie tausend Mal davor fuhr er mit den Fingern über die silbernen Buchstaben, über den stilisierten Rotor mit dem zerbrochenen Blatt. Das hatte sie ihm beim Abschied in die Hand gedrückt. "Damit du zurückkommst", hatte sie gesagt und ihn ein letztes Mal geküsst.

Kurz vor Aulla kamen sie an eine Straßensperre.

Die Sonne stand eine Handbreit über dem Meer und warf einen rötlichen Schimmer auf die kahlen Spitzen der Berge. Ein verbeulter Armeelaster versperrte die Straße. Gleich dahinter und schon fast im Straßengraben ein Wagen der Carabinieri. In beiden Richtungen stauten sich Fuhrwerke, Frauen, die schwere Handkarren zogen, Männer, die Spaten oder Heugabeln trugen. Dazwischen stand ein halbes Dutzend Milizionäre herum. Jemand grüßte und winkte sie durch.

„Was ist hier los?“

„Die Italiener suchen ihre Armee.“ Seewald grinste. „Bei der Gelegenheit erheben sie gleich Wegezoll. Ein paar Kartoffeln, ein Sack Kastanienmehl. Wenn die Frau hübsch ist, auch mal was anderes.“

„Halten Sie mal an!“ Mit einem Ruck blieb der Kübelwagen stehen. Maximilian zog seine Mütze auf und klopfte sich den Staub von der Uniform. Langsam ging er zurück.

Auf den Pritschen des Lasters saßen zerlumpte Gestalten, Bauern zumeist, wie es den Anschein hatte, junge unrasierte Männer und ein paar alte. Sie wurden von zwei rauchenden Carabinieri bewacht, die ihre Gewehre lässig in der Armbeuge hielten.

„Wer hat hier das Kommando?“ Der kleinere der Carabinieri zeigte auf einen dicken Faschisten, der die Daumen im Gürtel breitbeinig in der Mitte der aufgeregt durcheinander redenden Menschen stand. Als dieser den deutschen Offizier sah, wischte er sich über den Mund und kam zu ihnen herüber.

„Die Gebirgsjäger“, sagte er in gebrochenem Deutsch. Fast schien es Maximilian, er wolle sich über ihn lustig machen, „Heil Hitler!“ Und dann in der Sprache seiner Heimat: „Es ist uns eine Ehre.“

„Was geht hier vor?“ Maximilians Italienisch war im Laufe der Jahre besser geworden. Er hatte noch immer einen starken Akzent, aber wenig Mühe, sich über die verschiedensten Themen zu unterhalten, auch wenn die Konversationsgruppe, die er in Hamburg zusammen mit einigen älteren Damen und unter Mithilfe eines italienischen Lektors ins Leben gerufen hatte, ihn nicht auf alle Erfordernisse eines Einsatzes im Kriegsgebiet hatte vorbereiten können.

„Wir suchen Deserteure.“ Das runde rosige Gesicht des Milizionärs erinnerte Maximilian an ein Ferkel. Ein rosa Schweinchen in einer Phantasieuniform. Wäre das schwarze Hemd nicht gewesen, er hätte als Pirat durchgehen können, als Angehöriger einer Zirkustruppe. Auf dem Kragen war das Motto der frühen Jahre gestickt: Me ne frego! - Ich pfeif auf alles! Zu der Verkleidung gehörten breite Hosenträger, eine speckige lederne Hose, ein sardischer Schäferhut und schwere schwarze Stiefel. Über der linken Brusttasche klimperte eine Medaillentraube: Orden aus dem Großen Krieg, aus dem Libyenfeldzug, ein Abzeichen des Automobilclubs von Florenz, Erinnerungen an Radrennen, an die Mitgliedschaft beim Roten Kreuz und bei der Freiwilligen Feuerwehr. Auch einige kommunistische Auszeichnungen waren darunter, blutgetränkte Bänder, die bei manch einer handfesten Auseinandersetzung dem politischen Gegner entrissen worden sein mochten.

„Und die Alten?“

„Die werden freigelassen, wenn sich ihre flüchtigen Söhne stellen.“

Maximilian schaute in die finsteren Gesichter der Männer auf dem Lastwagen. „Was geschieht mit ihnen?“

„Sie haben Gelegenheit, sich in der Armee der neuen Republik zu bewähren.“ Der Milizionär schlug mit dem Gewehrkolben gegen den Kotflügel: „Singt!“ Leise und ohne große Begeisterung wurde die faschistische Hymne Giovinezza angestimmt. „Lauter!“ Und zu Maximilian gerichtet: „Bis dahin dürfen sie singen. Es soll niemand behaupten, dass wir jemanden schlecht behandeln.“

„Wer hat das angeordnet?“

Maresciallo Cozzi in Aulla.”

Maximilian, dem der Name nichts sagte, beschloss, ihn sich zu merken. Begleitet vom Gesang der entsetzlich falsch singenden Männer ging er zu seinem eigenen Wagen zurück.

Es war dunkel geworden, der letzte Rest des abnehmenden Mondes noch nicht aufgegangen. Im Licht der blau eingefärbten Scheinwerfergläser war die Straße kaum zu erkennen, und der Fahrer hatte die Geschwindigkeit verringert. Aulla schien wie ausgestorben, und auch die Straße hinunter zur Küste lag verlassen vor ihnen. Nach einer weiteren halben Stunde kamen sie in Monteforte an.

Am nächsten Morgen erwachte Maximilian vom Rauschen des Regens, der dicht auf die Dächer fiel und aus geborstenen Rinnen die Wände herabstürzte. Er platschte auf das Kopfsteinpflaster, sammelte sich zu kleinen Bächen und wusch den Dreck von den Straßen. Es roch nach Regen, so stark nach Regen, wie es immer riecht, wenn es lange Zeit nicht geregnet hat, nach nassem Staub, nassem Mörtel, nassen Ziegeln, nassem Stein, eine neue, aufregende Frische jenseits des Moders der stets feuchten Keller, der jahrhundertealten Steine der Häuser. Maximilian öffnete das Fenster, schob die Fensterläden zurück und lehnte sich weit hinaus. Der Himmel war bedeckt und schien doch offen und weit. Alles war in eine durchsichtige Helligkeit getaucht, in der die Dächer des Städtchens glänzten, die mittelalterlichen Fassaden der Häuser in ihrer ganzen Strenge heraustraten. Über die Straße hinweg unterhielten sich zwei Frauen lautstark in ihrem unverständlichen Dialekt. Ein alter Mann kam mit winzigen Schritten trippelnd um die Ecke, die triefende Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen. In der Ferne läuteten Glocken, knatterte der Motor eines Wagens. Maximilian atmete tief ein. So ausgeruht er sich an diesem Tag fühlte, alle Sinne begierig, auch die geringste Kleinigkeit aufzunehmen, er meinte wirklich angekommen zu sein.

Der Kommandoposten war in einem kleinen Hotel untergebracht, im requirierten Albergo Oceano.  Dort hatte Hauptmann Guderjahn seine Kommandantur aufgeschlagen, ein dunkles Büro mit kaum mehr als einem Schreibtisch und einem wurmstichigen Aktenschrank. In den wenigen Zimmern waren sechs Soldaten untergebracht, die ganze Besatzungsmacht des kleinen Ortes. Und dass er sich als Besatzer fühlte, daran hatte Hauptmann Guderjahn keinen Zweifel gelassen. Glaubte man seinen Worten, so wimmelte es in Monteforte von Anarchisten und Kommunisten, von Verrätern und anderen subversiven Elementen. Nicht umsonst sei einer der brutalsten Attentate auf den Duce einem Sohn der Stadt zuzuschreiben. Und so stand im Eingangstor des Hotels Tag und Nacht eine Wache mit entsicherter Maschinenpistole.

Gleich nach dem Frühstück, das ein Gefreiter zubereitet hatte, fuhren sie wieder los. Maximilian brannte darauf, alles wiederzusehen, und so hatte er beschlossen, den verschiedenen Posten zwischen La Spezia und Pisa einen Antrittsbesuch abzustatten.

Der Regen hatte aufgehört, und graue Wolken jagten vom ersten Herbststurm getrieben den Bergen entgegen. Die Straßen hatten sich bevölkert, die Frauen gingen zum Markt, die Männer diskutierten in kleinen Gruppen vor den Cafés. Überall stand das Wasser in riesigen Pfützen, und Maximilian musste seinen Fahrer, der den Wagen so kunstfertig wie gedankenlos durch die Gassen steuerte, mehrmals auffordern, Rücksicht auf die Passanten zu nehmen.

Vom Militärgericht in La Spezia ging es zum Arsenal am Hafen und dann zurück nach Massa zum italienischen Bezirkskommando. Am Nachmittag waren sie in Viareggio, in Pisa, in Lucca. Überall sprach er mit Offizieren und hochrangigen Beamten, mit Italienern und mit Deutschen. Überall ergab sich das gleiche Bild. Niemand hatte eine Vorstellung, wie es weitergehen würde. Seine Landsleute, wie er erst seit wenigen Tagen oder Wochen im Land, versuchten, sich zunächst einmal im unentwirrbaren Geflecht der Verantwortlichkeiten und Befugnisse zurechtzufinden. Carabinieri, Polizei, Militär, faschistische Milizen, jeder wollte gefragt werden, erklärte sich aber sogleich für nicht zuständig. Hinzu kam, dass viele Dienststellen verwaist, ganze Militärabteilungen aufgelöst waren. Die Italiener hielten sich bedeckt. So uneingeschränkt bereit sie sich zu einer Zusammenarbeit erklärten, so unbestimmt blieben ihre Zusagen, und mehr als einmal hatte Hauptmann von Kampen den Eindruck, sie wollten sich alle Möglichkeiten offen halten, schließlich waren die Alliierten unlängst bei Salerno gelandet und schnell nach Norden vorgestoßen. Wer wollte schon wissen, wann die ersten amerikanischen Panzer sich auf dem Platz der Wunder in Pisa zeigten, um dann auf der Staatsstraße 1, der Via Aurelia,  die von Rom die Küste entlang bis hinauf nach Frankreich führte, weiter bis Viareggio, Massa oder gar La Spezia vorzurücken?

So gelang es Maximilian an seinem ersten Arbeitstag in Italien lediglich, sich ein ungefähres Bild der Lage zu machen. Sie waren schon auf dem Rückweg, als sie am späten Nachmittag nach Pietrasanta kamen.

Langsam fuhren sie am Bahnhof vorbei, und Maximilian sah lange zum überdachten Bahnsteig hinüber. Die Strecke war elektrifiziert worden. Überall standen Kübeln mit Palmen und Sträuchern. Vom Ruß befreite Wände und vom Geröll geräumte Anlagen verliehen dem Bahnhof ein neues, freundliches Aussehen.

Auch in der Stadt selbst hatte sich einiges geändert. Es waren nicht die allgegenwärtigen Parolen an den Häuserwänden, die Maximilian auffielen: Der Duce hat immer recht! Der Duce irrt nie! Das erste, was er auf der Piazza Carducci bemerkte, war das Fehlen der Straßenbahn. Hier hatte sich die elektrische mit der dampfbetriebenen getroffen. Der italienische Marinesoldat, den sie auf freier Strecke aufgelesen hatten, erzählte bereitwillig, die Linien seien schon Mitte der dreißiger Jahre für den Personenverkehr eingestellt worden.

Vielleicht war es dieser Umstand, der Maximilian veranlasste, den Fahrer die Straße am Fluss hinunter nach Portoclemente fahren zu lassen, die Unruhe, die sich angesichts all der Veränderungen in ihm breit gemacht hatte, so als würde ihm erst jetzt bewusst, wie viel Zeit vergangen war. Er hatte Angst, seine Erinnerungen der harten Wirklichkeit auszusetzen, Erinnerungen, die er über die Jahre gepflegt hatte wie Beete voll exotischer Blumen und seltener Pflanzen, die er beschnitten, so lange umgesetzt und angeordnet hatte, bis sie vollkommen waren. Und doch musste er sich Gewissheit verschaffen.

Das Dorf hatte sich wenig verändert. Sie fuhren an der Kirche San Ermete vorbei zur Piazza Garibaldi, dann weiter zur Piazza Marconi. Auch hier keine Spur von der Straßenbahn, nur große Pfützen, in denen die Gleise rosteten. Schließlich nahmen sie die Straße zum Meer. Sein Herz klopfte heftig, und er ließ den Wagen im Schritttempo an der Pensione Moderna vorbeifahren. Anzuhalten wagte er nicht.

Die Läden waren geschlossen, der Hof ausgeräumt und kahl. Die Pension wirkte verlassen. Von den Weinranken waren nur vertrocknete Äste geblieben, und auch der Gewürzgarten schien verwildert.

Der Strand bot das gleiche Bild. Geschlossene, verfallende Strandanlagen, mit Brettern zugenagelte Fenster, hochgezogener Windschutz an den Zäunen. Der Sand war mit Seetang bedeckt, mit Treibholz und allerlei Strandgut. Der Steg der Verladestation lag leer und einsam in der Brandung. Selbst die Kräne und Seilzüge waren abgebaut worden. Von Marmorblöcken keine Spur.

In einer Hütte war ein Militärposten untergebracht. Dort stand ein einzelner italienischer Soldat und starrte durch sein Fernglas. Vielleicht suchte er den Horizont nach feindlichen Schiffen ab oder nach den eigenen, die irgendwo dort draußen kreuzten, sich schon in Sardinien oder Sizilien den Alliierten überstellt hatten oder von den Deutschen versenkt worden waren.

Während seine Begleiter im Wagen warteten, ging Maximilian ein paar Schritte. Er bestieg den Steg, und seine Stiefel hallten dumpf auf den faulenden Bohlen. Der Nordwestwind schlug ihm ins Gesicht, und er musste seine Schirmmütze festhalten. Weit draußen drehte er sich um, starrte auf den Strand, auf die weißen Berge, die so nahe schienen, als bräuchte es nur eine Bewegung des Armes, um sie zu berühren.

Er dachte an den Sommer zurück, den er hier verbracht hatte, an den Herbst, der sich jetzt unmittelbar anzuschließen schien, obwohl eine so große Lücke klaffte. Erst heute, erst hier auf dem Anlegesteg meinte er, die Zeit mit ihrem ganzen Gewicht zu spüren.

Und für einen Augenblick wünschte er sich, er wäre nie fort gewesen, er könnte die Jahre auslöschen, die ihn von jenem Sommer trennten, achtzehn ewige Jahre, die sich plötzlich so fremd anfühlten, als habe er sie dort hinter den Bergen zurückgelassen.

Sie fuhren den Litorale am Meer entlang zurück, eine breite, von niedrigen Büschen gesäumte Straße, die nur wenige Meter vom Strand entfernt verlief und stets drohte, von einer winterlichen libecciata unterspült zu werden, einem Südweststurm, der die Wellen weit die Küste hinauftrieb. Auf der Höhe des kleinen Flughafens bogen sie ab und erreichten die tiefer im Landesinnern verlaufende Staatsstraße 1.

Sie waren auf dem Weg nach Monteforte, und Maximilian fühlte sich erschöpft vom langen Tag, der stundenlangen Fahrerei, den endlosen unergiebigen Gesprächen. Zu viel war auf ihn eingedrungen. In der klaren und durchsichtigen Luft des frühen Herbsttages schien jedes Geräusch lauter, jeder Geruch durchdringender, jedes Bild so wirklich, dass es in den Augen schmerzte.

Vielleicht war er eingenickt, denn als der Wagen schlagartig zum Stehen kam, wusste er im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Etwas wurde gebrüllt, jemand stieß ihn, riss ihn mit sich ein paar Meter über den Acker in einen feuchten Graben. Dann war nur noch das sich schnell nähernde Kreischen der Motoren, die dumpfen Salven der Luftabwehrgeschütze zu hören. Mehrere Explosionen folgten, so heftig, dass der Boden unter ihm zu tanzen schien. Schlagartig kehrte Ruhe ein.

Insgesamt waren kaum zwei Minuten vergangen, und als sie sicher waren, dass die Flugzeuge nicht zurückkämen, erhoben sie sich. Über dem nahen Fluss standen Rauch- und Staubwolken, und als sie sich verzogen hatten, schälte sich eine Eisenbahnbrücke aus dem Dunst. Sie war unversehrt. Auch die Posten, die sie bewachten, waren wieder auf den Beinen, und Maximilian erfuhr, dass die eiserne Konstruktion schon mehrmals Ziel alliierter Bomber gewesen sei. Wie durch ein Wunder war sie nie ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen worden.

Sie gingen zu ihrem Wagen zurück. Die ersten Fahrzeuge fuhren an, der Verkehr begann wieder zu rollen. Maximilian wischte sich die nasse Erde aus dem Gesicht. Sie stank, wie sie schon immer gestunken hatte.