5. Kapitel
Paola Del Nero war blond oder blond gefärbt, sie war groß, und wenn sie auf ihrer Bank saß und auf den Zug wartete, maß sie Vieri mit langen durchdringenden Blicken. Wenn der Zug dann endlich kam, warf sie ihr Haar zurück, nahm die von einem Gummiband zusammengehaltenen Bücher und sah ein letztes Mal aus den Augenwinkeln zum ihm herüber. Mit ihrem wiegenden Schritt ging sie zu den dampfenden Wagen. Er stand unterdessen bei den Freunden, rauchte und beobachtete sie verstohlen.
Sie war anders, als alle Frauen, die er kannte. Sie war vornehm, immer teuer gekleidet und sorgfältig zurechtgemacht, und doch überhaupt nicht schüchtern oder zurückhaltend. Sie erschien ihm wenig damenhaft, und ihre herausfordernde Art machte ihn nervös.
Es dauerte Monate, bis er sie ansprach. Sein Herz klopfte ihm in der Kehle, und seine Hand zitterte, als er ihr eine Zigarette anbot.
Diese Angst blieb lange. Wenn sie lachte, dann war es, als lache sie ihn aus, und wenn sie mit anderen Kommilitonen sprach, dann pochte der dumpfe Schmerz der Eifersucht in ihm. Als sie sich dann eines Tages vor ihm auszog, so selbstverständlich, als sei sie im Begriff, abends zu Bett zu gehen, fühlte er sich wie gelähmt. Sie legte sich auf ihn, hielt ihm die Hände fest, und während ihre Brüste dicht vor ihm auf und ab sprangen, sah er ihr in die Augen, Augen, die ihn aufmerksam, fast ein wenig angestrengt zu beobachten schienen. Er kam so plötzlich, dass er erschrak.
Sie stieg von ihm herunter, zündete sich eine Zigarette an und lachte: "Machst du es zum ersten Mal?"
"Ach was!"
Sie kicherte und legte ihren Kopf auf seine Schulter.
Paola war einige Jahre jünger als er. Sie war Anfang zwanzig, und doch fragte er sich oft, ob er ihr gewachsen sei. Sie erschien ihm wie ein wildes, unbezähmbares Tier von einzigartiger Schönheit, das er um jeden Preis haben wollte. Er begehrte sie auf eine so verzweifelte Weise, wie er noch nie etwas begehrt hatte.
So heftig und ausdauernd sie miteinander schliefen, so häufig gerieten sie aneinander, wenn sie über irgendetwas sprachen. Immer war sie anderer Meinung als er. Immer verteidigte sie den Vater, den Großvater, machte sie sich über sein, wie sie sagte, kümmerliches kleinbürgerliches Dasein lustig. Für sie war ihr Leben an der Küste nur ein kurzes Zwischenspiel, eine auf das Studium begrenzte Episode. Rom, die Hauptstadt, wartete auf sie. Und auf ihn, sollte er tatsächlich eines Tages vernünftig werden. Ihm dagegen erschien seine Beziehung zu Paola als Teil einer subversiven Mission. Wie ein Agent oder ein Spion hatte er klammheimlich die klar umrissenen gesellschaftlichen Grenzen überwunden, die sie trennten, die Grenzen der unversöhnlichen politischen Lager, aber auch jene der genauso unversöhnlichen sozialen Klassen, und wenn er auf ihr lag und seinen Penis in sie hineintrieb, sie fast mit Gewalt niederzuringen versuchte, stellte er sich manchmal vor, Paolas Mutter sähe ihnen dabei zu, ihr Vater, die ganze Stadt, und wenn er dann ein letztes Mal tief in sie eindrang, sie mit einem einzigen verzweifelten Stoß nahm, mischte sie in das Wohlgefühl des Höhepunkts auch die Genugtuung der Vergeltung, der Rache. In diesen seltsamen Augenblicken fühlte er sich ihr überlegen, ihr und ihrer ganzen Familie. Er hatte sie bezwungen. Und er hatte es auch für Stefano getan, für Stefano und für Piero.
Mit Paolas Schwangerschaft kehrte die Angst zurück. Aber dieses Mal war es eine andere Angst, und sie traf sie beide.
Als Paola ihm sagte, dass sie schwanger sei, schien sie zu keinem vernünftigen Gedanken fähig. Ihr Vater brächte sie um, wiederholte sie, eine eintönige Litanei, die ihn bald verrückt zu machen begann, sie müssten fliehen, sofort, andernfalls bliebe ihr nichts anderes übrig, als von der Plattform der Verladestation ins Meer zu springen – es war Februar –, oder zu den Franziskanern von La Verna zu gehen, wohin ihr eine Tante vor vielen Jahren vorausgegangen war.
Als sie sagte: "Tesoro, wir bekommen ein Baby", hatte Vieri lange gebraucht, um den Sinn ihrer Worte zu erfassen. Das lag nicht nur daran, dass Paolas Schluchzen sie immer wieder unterbrach oder dass ihm Begriffe wie Baby, Bikini oder Juke-Box nicht geläufig waren. Ehe und Familie waren stets Dinge gewesen, die anderen vorbehalten waren, und die Leichtigkeit, mit der man offenbar ein Kind zeugen konnte, bestürzte ihn. Schon sah er sich für ein paar Lire am Tag wieder im Steinbruch arbeiten, sah sich wie Sandro jeden Samstag betrunken von der rusina in eine schäbige Mietskaserne zurückkehren. Der Abschluss seines Studiums, die Zukunft, die er sich ausgemalt hatte, rückten plötzlich in weite Ferne. Und doch dachte er keinen Augenblick daran, Paola zu verlassen und sich der Verantwortung, deren Last er übermächtig spürte, zu entziehen. Auch über Abtreibung sprachen sie kein einziges Mal.
Das Kind, das in Paolas Bauch heranwuchs, und irgendwann auch für Außenstehende unübersehbar wurde, brachte sie näher zusammen, als es die Nachmittage in den Dünen bei der alten Saline oder die Abende in einem der leer stehenden Zimmer der Pension vermocht hatten. Als Paola schließlich mit ihren Eltern sprach, und der Sturm über sie hereinbrach, hatten sie ihn so oft vorweggenommen, dass er ihnen nichts anzuhaben vermochte. Gleichmütig ließen sie alle Anfeindungen über sich ergehen. Die Überredungsversuche und mit Drohungen gespickten Angebote blieben ohne Wirkung, im Gegenteil, sie schweißten sie noch mehr zusammen. Es war viel leichter, als sie befürchtet hatten.
Vielleicht war es diese Entschlossenheit, die den Widerstand der Familien brach, der Umstand, dass jeder auf sie ausgeübte Druck, sie nur sicherer zu machen schien.
Paola konnte stundenlang mit ausdruckslosem Gesicht die Ausbrüche der Mutter ertragen, ihr Weinen und Flehen, die Anschuldigungen, die sie abwechselnd ihr, sich selbst, dem Kindermädchen, ihrem Mann und Gott und der Welt zu machen pflegte. Und wenn Paola ihren Vater genauso hasserfüllt anschrie, wie er sie wenige Minuten zuvor angeschrieen hatte, ließ sie ihn stumm und fassungslos zurück. Vieri dagegen entzog sich den Aussprachen, die Stefano oder Gina ihm aufzuzwingen versuchten. Er stieg auf seine Vespa und fuhr nach Viareggio, um erst in den frühen Morgenstunden zurückzukehren.
Als Paola Vieri im Juni heiratete, geschah dies mit Einverständnis ihrer Eltern, ein Einverständnis, das mit dem Angebot einherging, sie und das Kind könnten im elterlichen Haus wohnen bleiben, während der mit wenig Begeisterung angenommene Schwiegersohn sie besuchen könne, wann immer es ihr notwendig erschien.
So kam es, dass sich zunächst wenig oder nichts änderte. Paola war froh, dass ihr die Flucht in eine ungewisse Zukunft oder Schlimmeres erspart worden war, und wenn Vieris Blick hinauf zu den Marmorbergen ging, atmete er auf. Die Steinbrüche waren so fern, wie sie es die ganzen Jahre über gewesen waren.
Vieri kam und ging. Seitdem Paola ihr Romanistikstudium in Pisa aufgegeben hatte, fuhr er allein dorthin. Die Nächte verbrachte er in den Gewölbekellern der Jazzclubs, und wenn er in Portoclemente oder Pietrasanta war, sah man ihn manchmal mit zwielichtigen Gestalten Geschäfte machen oder mit Frauen herumfahren, die für ihren zweifelhaften Lebenswandel bekannt waren. Paola, der solche Gerüchte zu Ohren kamen, weigerte sich stets, deren Wahrheitsgehalt auch nur in Betracht zu ziehen. Die von ihren Freundinnen scheinheilig vorgebrachten Andeutungen waren für sie eine Fortsetzung der Anfeindungen, denen sie vor ihrer Hochzeit ausgesetzt gewesen war. Aus ihnen sprach nur Neid, Missgunst und Unverständnis.
Wenn Vieri Frau und Kind im Haus der Del Neros besuchte, glich er einem entfernten Verwandten. Er läutete, ließ sich vom Hausmädchen hereinführen und wartete auf Paola. Beim gemeinsamen Abendessen, verebbte jedes Gespräch mit ihren Eltern schon nach wenigen Sätzen. Im langen Schweigen, das dann folgte, wuchs die Spannung, bis ihm jedes Klappern der Porzellanteller, des silbernen Bestecks überlaut vorkam, die gleißenden Kronleuchter wie Verhörlampen erschienen. Hastig beendete er die Mahlzeit, lehnte Käse und Obst ab und flüchtete mit Paola nach oben. Selten blieb er über Nacht, selten fühlte er sich ein wenig zu Hause.
Seitdem Vieri die Wahrheit über Stefanos Vergangenheit herausgefunden hatte, fühlte er sich auch in der Pension nicht mehr zu Hause. Er lebte auf der Straße, wie es viele taten, die fünf oder zehn Jahre jünger waren als er. Immer häufiger schlief er in Pisa, bei einem Freund, mit dem er die Nächte durchsoff oder bei einer Frau, die ihn Paola vergessen lassen sollte.
Auf die Akte war er bei seinen Nachforschungen zum Tod von Stefanos Bruder, des Marinefliegers, gestoßen.
Mehr als einmal fragte er sich, warum Onkel Vieris rätselhafter Tod ihn so beschäftigte, warum sein Wunsch nach Aufklärung der Umstände sein ganzes Denken ausfüllte, bis er zu einer fixen Idee geworden war. Manchmal dachte er, in Onkel Vieris Tod läge der Schlüssel zu allem. Er sei nur einen Schritt davon entfernt, alles zu verstehen, ein Alles, das Lauras Geschichte einschloss, die seines leiblichen und die seines vermeintlichen Vaters, die der Großeltern und letztlich auch seine eigene. Dass seine Suche dazu führen würde, Stefano mit anderen Augen zu sehen, hatte er nicht erwartet.
Er fand die Akte, die die Sozialistische Partei, über seinen Onkel angelegt hatte, unter einem Haufen alter Koffer. Sie enthielt Abschriften, hand- oder maschinengeschriebene Originale, gelbes, zerfallendes Papier. Während der Staub, den er aufgewirbelt hatte im schwachen Licht träge zu Boden fiel, las er langsam und ohne zu verstehen. Dann setzte er sich auf eines der durchgesessenen Stühle und zündete sich eine Zigarette an. Er las die Akte erneut. Der blaue Rauch, den er in kurzen Abständen ausstieß, durchdrang das Meer der schwebenden Staubteilchen und verband sich mit ihm zu einer zähen Masse, die im Raum zu stehen schien. Er klappte die Akte zu, wischte mit dem Unterarm über die Pappe, um sich noch einmal des Namens zu vergewissern: Stefano Tarabella. Lange saß er unbeweglich da und starrte auf diese Inschrift, auf den aufgeprägten Wappen der Partei.
Als er Stefano zur Rede stellte, schien er äußerlich unbewegt. "Sag mir, dass das nicht wahr ist." Er warf die Akte auf den Tisch.
Stefano war beim Mittagessen. Er sah kurz auf, um den Blick gleich wieder auf seine Suppe zu senken. Der Löffel in seiner Hand schien gegen einen unsichtbares Hindernis gestoßen zu sein und hing in der Luft auf halbem Weg zu dem noch vollen Teller.
Vieri wiederholte seinen Satz. Er wiederholte ihn mehrmals, ohne dass Stefano ihm antwortete. Erst als sein Neffe das Zimmer verlassen hatte, begann er den Kopf zu schütteln, langsam hin- und her pendeln zu lassen, während der Löffel sich in die lauwarme Suppe senkte.
Später war Stefano hinaufgegangen. Vieri lag auf seinem Bett und rauchte. Als Stefano ins Zimmer trat, richtete er sich auf. Keiner sagte ein Wort. Stefano nahm eine Hand aus der Hosentasche, hob sie, als wollte er zu etwas ansetzen, und ließ sie wieder sinken. Sein schwerer, fast haarloser Schädel kippte, seinem Eigengewicht folgend, langsam nach vorn. Schließlich begann er.
Er holte weit aus. Er fing mit dem Mord der Faschisten an den sozialistischen Abgeordneten Matteotti an. Er erzählte von der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, von einer Zeit, in der man sich auf der Straße auflauerte, um sich zu prügeln, in der man ein Messer bei sich trug, eine Pistole, und er erzählte von den ersten Anschlägen und Propagandaaktionen. "Zuerst war es wie Spiel." Er lächelte, ohne aufzublicken. "Katz und Maus. Räuber und Gendarm. So wie andere Kinder mit Holzschwertern kämpfen, hatten wir Schlagringe, Eisenstangen." Er machte eine lange Pause. Schließlich sah er seinen Neffen an. "Aber es ging immer weiter, immer weiter und weiter. Eines Morgens haben sie den Nachbarsjungen erstochen. Vor seinem Haus. Seine Mutter stand am Fenster." Er schüttelte den Kopf. "Erst an diesem Morgen wurde uns wirklich klar, dass es kein Spiel war, dass es um Leben und Tod ging. Einige sind ausgestiegen, ich habe mich in den Bergen versteckt. Jeder konnte der Nächste sein, jeder." Stefano ging zum Fenster und sah hinaus zum Meer. Ein paar Tage später war der Prefetto zu Piero gekommen, hatte ihm gedroht und ein Angebot unterbreitet. Während Stefano weitersprach, folgten seine Augen den Wellen, die in schneller Folge an Land rollten. Er hatte vor der Wahl gestanden, ins Gefängnis zu gehen oder mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Bald nach dem Besuch des Prefetto hatte er sich im Bezirksbüro der Faschistischen Partei den Behörden gestellt. Er hatte sich vorgenommen, nur wertlose Informationen weiterzugeben. Dinge, die allgemein bekannt waren oder niemandem ernstlich schaden konnten. Aber es kam, wie es kommen musste, und er war immer tiefer hineingezogen worden. Als sie ihn schließlich nach Frankreich schickten, um die Exilgruppen auszuspionieren, hatte er längst keine Wahl mehr gehabt. Jahrelang belieferte er seine Kontaktleute mit allerlei Erkenntnissen über Zusammensetzung und Pläne der verschiedenen Gruppierungen, die im fernen Nizza auf das Ende des Mussolini-Regimes warteten.
"Ich habe es für meinen Vater getan, für meinen Vater und für meine Mutter", fuhr Stefano fort. "Ich weiß, es klingt wie eine Ausrede, aber wenn ich nicht diese Angst in Pieros Augen gesehen hätte, diese uralte Angst... Ich glaube, alleine hätte ich es durchgestanden." Schon bei der Flugblattgeschichte im Hafen von Carrara hatte er für Del Nero gearbeitet. "Drei Jahre haben sie mich in Frankreich schmoren lassen. Drei endlose Jahre." Der Wind hatte aufgefrischt. Er trieb die Wellen vor sich her, bis sie so hoch und dünn wurden, dass sie sich selbst zu überholen schienen. Doch schon lange vor dem Strand brachen sie sich und verschmolzen mit den Schaumteppichen, die im braungrünen Wasser an Land trieben. "Als sie mich dann wissen ließen, ich dürfe wieder zurück, konnte ich es gar nicht glauben. Und doch war es so. Für die meisten hier an der Küste war ich ein Held." Er lachte dumpf. "Ich war ja im Exil gewesen. Wie sich das anhört: Exil! Stefano Tarabella, der Unbeugsame... Nur Del Nero und ich wussten, dass es anders gewesen war. Gleich am ersten Tag nach meiner Rückkehr verbot er mir jegliche politische Betätigung. Und er würde mich reaktivieren, wann immer es ihm beliebte." Stefano wandte sich wieder Vieri zu, der ihn ausdruckslos beobachtete. "Fünfzehn Jahre lang habe ich darauf gewartet. Jeden Tag habe ich darauf gewartet, dass alles wieder von vorn losgehen würde. Aber sie haben mich in Ruhe gelassen."
Vieris Augen waren starr. Er schien durch Stefano hindurchzusehen.
"Ich schwöre dir, dass es so war. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört."
"Du hättest es mir sagen müssen. In Rom hättest du mir es sagen müssen."
Stefano hob die Schultern. "Als wir nach Rom fuhren, habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Mein Gott, die Geschichte lag doch eine Ewigkeit zurück! Ich war ein halbes Kind gewesen. Und ich hatte meinen Fehler wiedergutgemacht. Hatte ich nicht im Krieg fast mein Leben gelassen?" Er schüttelte den Kopf. "Aber plötzlich war ich wieder der Spitzel, der Verräter, untragbar für jedes politische Amt." Er stockte. "Es war ungerecht, so unglaublich ungerecht..."
"Du hättest es mir sagen müssen, als du von Paola erfahren hast."
Wieder sah Stefano in Vieris kalte Augen. "Ich habe es versucht. Mehr als einmal habe ich es versucht..." Er suchte nach Worten. "Du weißt, du warst... Du bist wie ein Sohn für mich..." Er brach ab.
Irgendwann stand Vieri auf. "Ich hatte so viele falsche Väter, dass ich mir manchmal wünsche, ich hätte gar keinen gehabt." Er nahm seine Jacke und ging.