6. Kapitel

 

An einem Montag im März ereigneten sich zwei Dinge, die in keinem Zusammenhang zueinander standen, das Leben von Lauras Familie jedoch nachhaltig verändern sollten.

In den frühen Morgenstunden flog die Eisenbahnbrücke bei Pietrasanta in die Luft. Wenige Stunden später traf eine Abteilung der X. MAS-Flottille in Pontremoli ein. Sie tranken ausgiebig Wein, marschierten singend durch die Straßen, und als ihnen dort keine Feinde begegneten, ging es hinaus auf die Felder. Bis zum späten Nachmittag schossen sie auf die Bauern, die in den Weinbergen arbeiteten, dann stiegen sie müde und zufrieden auf ihre Lastwagen, um ebenso laut singend wie zuvor nach La Spezia zurückzufahren.

Augenzeugen sollten bei der Vernehmung von einem Großaufgebot bis an die Zähne  bewaffneter Partisanen berichten, die auf dem Weg zum Fluss gesehen worden seien. Als diese Stimmen Vieri zu Ohren kamen – er hatte die Dynamitstangen gemeinsam mit zwei Kameraden angebracht und die Lunte höchstpersönlich angezündet – musste er laut und anhaltend lachen, erst dann spürte er, wie die Anspannung von ihm abfiel. Die Brücke lag nur wenige hundert Meter von seiner Kaserne entfernt, und so war es nicht schwer gewesen, unbemerkt dorthin und wieder zurück zu gelangen. Trotzdem konnte die Lage für ihn noch gefährlich werden, und so beschloss er, seinem Onkel in die Berge zu folgen.

Vittoria, Lauras ältere Schwester, hatte im gleichen Jahr wie sie selbst geheiratet, ein Zusammentreffen, das nur möglich geworden war, weil ihr zukünftiger Ehemann, ein wohlhabender Bauunternehmer mittleren Alters, auf eine Mitgift verzichtet hatte. Er war Gast in der Pension gewesen und hatte ihr schon nach zwei Wochen einen Heiratsantrag gemacht. Ob sie die immer wiederkehrenden Affären sattgehabt hatte, die Hoffnungen und Versprechungen, jenes Wechselbad der Gefühle, das spätestens im September mit der Abreise des jeweiligen Favoriten ein jähes Ende zu nehmen pflegte, oder ob der Neid auf die schon verheiratete jüngere Schwester sie dazu getrieben hatte, hätte sie vermutlich nicht einmal selbst zu sagen gewusst. Jedenfalls brauchte sie keinen Tag, um dem Drängen des nicht gerade ansehnlichen Bewerbers nachzugeben, eine Entscheidung, die sie bis zum heutigen Tage nicht bereut hatte.

Seit ihrer Hochzeit bewohnte sie ein herrschaftliches Haus gegenüber des Doms von Pontremoli, und wenn dessen Glocken im Chor mit jenen der restlichen vierzehn Kirchen den kleinen Ort mit einem dichten Klangteppich überzogen, fühlte sie sich erhaben und festlich, selbst wenn der Tag nur ein Werktag wie jeder andere war und die Wolken, die vom Meer das Tal hinaufgetrieben wurden, grau und nass in den Gipfeln der Berge hingen. Sie hatte einige Semester Ingenieurwissenschaften an der Universität von Pisa studiert, mehr, um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, denn aus Notwendigkeit – für ihre spätere Tätigkeit in der Firma ihres Mannes waren ihre neuerworbenen Kenntnisse zwar nützlich, aber keine unabdingbare Voraussetzung. So war sie keine besonders fleißige Studentin gewesen. Zudem hatte sie nie die Absicht gehabt, ihre Studien mit einem ordentlichen Abschluss zu beenden. Dass sie nach Kriegsende die Ehrendoktorwürde ebendieser Fakultät erhielt, sollte deshalb nicht nur ihre damaligen Professoren überraschen.

Maurizio vergötterte sie, er verwöhnte sie mit der Hingabe eines Mannes, der weiß, dass er Schönheit nicht mit gleicher Münze bezahlen kann, und so bedachte er sie mit allerlei Aufmerksamkeiten, mit teuren Reisen und mit einem Höchstmaß an persönlicher Freiheit, die in der kleinen Stadt fast anrüchig schien, ihr aber über die ungewollte Kinderlosigkeit hinweghalf. Dafür war sie ihm treu, so treu wie jemand sein kann, der in jungen Jahren schon die vielfältigen Genüsse der körperlichen Liebe ausgiebig und mit wechselnden Partnern gekostet hat. Wenn er von ihren seltenen Seitensprüngen wusste, so ließ er sich nichts anmerken.

Pontremoli genoss den Ruf, die friedlichste Stadt der Welt zu sein. Kein Vergleich mit dem verhassten La Spezia mit ihrem kaum fünfzig Jahre alten Kriegshafen, den skrupellosen Geschäftemachern, den unmoralischen jungen Damen und den Seeleuten und Marinesoldaten, die beständig kamen und gingen, eine Schar bunt zusammengewürfelter Menschen ohne Wurzeln und ohne Tradition, die im Schatten der Schlachtschiffe und der Kanonenrohre lebten. In der ehemals freien Stadt Pontremoli dagegen machten sich die Frauen bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg in eine der zahlreichen Kirchen, dann folgten sie in ihren langen Röcken, in Schals und Schleier gehüllt den Orgeltönen, die jeden Winkel der Stadt erfüllten, während die Männer zu einem jener Weinkeller aufbrachen, die sich zahlreich in den Höfen der mittelalterlichen Häuser öffneten. Auch der Krieg, die Carabinieri, selbst die deutsche Bezirkskommandantur vermochten nicht allzu viel daran zu ändern.

Als Vittoria deshalb an diesem Montag die ersten Schüsse hörte, lief sie aufgeregt zum Fenster. Zuerst verstand sie nicht, was sich dort draußen abspielte, ob Partisanen die Stadt angriffen, die Deutschen oder gar die Alliierten, die täglich herbeigebetet wurden und die, je länger man auf sie wartete, immer  mehr zu einem Phantom wurden, nah und doch unerreichbar. Die rückwärtige Front des Hauses ging auf die Felder hinaus, auf die Weinreben, die die Kämme der ersten flachen Hügel mit ihren Drähten und Pfählen überzogen und zu dieser Jahreszeit nackt und trostlos wirkten, den Stacheldrahtverhauen der Schlachtfelder ähnelten. Dann sah sie die Uniformierten, die einzeln oder in kleinen Gruppen zwischen den Hecken herumliefen, hörte die Schüsse, die Schreie. Zitternd und ratlos verfolgte sie das Geschehen, und als schließlich die Dämmerung heraufzog und sie sicher war, dass auch die letzten Soldaten abgerückt waren, verließ sie das Haus.

Bis in die Nacht hinein verband sie Verletzte, half den Männern leblose Körper auf die Handwagen zu hieven, folgte sie dem Jammern und Stöhnen, das aus dem dichten Gebüsch drang und das in der Dunkelheit so schauerlich klang, dass es nichts Menschliches mehr an sich hatte. Je länger sie Blutungen stillte, Knochenbrüche schiente, Platzwunden mit behelfsmäßigen Mitteln betupfte und mit Kompressen umwickelte, vieles von dem anzuwenden wusste, was ihre Mutter, die Hebamme, ihr im Laufe der Zeit beigebracht hatte, umso tiefer versank sie in diese Tätigkeit, die all ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, die eigene Person mit ihren Wünschen und Ängsten so weit an den Rand drängte, bis sie nicht mehr spürbar war. Sie ging ganz in dem auf, was sie tat, und als dann zu später Stunde der letzte Verletzte weggebracht worden war, fand sie sich auf einem Stein sitzend wieder, ihr Kleid blutig und verschmutzt, ihre Hände von den Dornen der Brombeersträucher zerkratzt. Sie war erschöpft, aber ruhig. Und sie war zufrieden, so zufrieden mit sich wie jemand, der glaubt, zum ersten Mal in seinem Leben etwas uneingeschränkt Sinnvolles getan, eine Leistung vollbracht zu haben, die weder die Zeit noch irgendein Gedanke schmälern kann.

Noch immer saß sie auf dem Stein, zitterte vor Kälte, ohne es zu merken, und als der junge Mann neben ihr stand, der ihr schon den ganzen Abend bei der Versorgung der Verletzten zur Hand gegangen war, nahm sie eine der kostbaren Zigaretten, die er ihr anbot. Sie rauchten schweigend. Der abnehmende Mond fiel auf die Felder. Ansonsten war es dunkel. Aus dem nahen Dorf drang kein Lichtspalt.

Er heiße Franco. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich einander vorzustellen. Dann erzählte er von der Brigata Barudda, der er angehöre, und sie lachte, weil Barudda eine Puppe war, die sie vom Marionettentheater her kannte, eine lustige Gestalt, die in den seltsamsten Verkleidungen urplötzlich aufzutauchen pflegte. Dann schrie sie perdingolina!, und die Kinder brüllten vor Lachen. Franco beeilte sich zu versichern, dass es eine Brigade solchen Namens tatsächlich gebe. Er wurde ernst. Sie könnten eine fähige Ärztin gebrauchen, dringend sogar. Sie erwiderte verlegen, sie sei nicht einmal Krankenschwester, sondern Ingenieurin, und auch das nicht wirklich. Dann müsse man sie eben holen, wenn die nächste Brücke an der Reihe sei. Wieder lachten sie. Nein, tatsächlich, sie könnte ihnen wirklich sehr helfen.

Er brauchte sie nicht zu überreden. Vielleicht war es die Erfüllung gewesen, die sie an diesem Tag in ihrer traurigen Tätigkeit erlebt hatte, vielleicht der Schock, den die unwürdige Menschenjagd in ihr ausgelöst hatte, das Gefühl, nicht mehr abseits stehen zu können in ihrem goldenen Käfig angesichts des Krieges, der sich bis an ihr Fenster gewagt hatte. Vittoria hatte nicht die Absicht in den Bergen bei den Männern zu leben, sie käme aber, bekräftigte sie, wann immer man sie brauchte. Dass sie bei der Brigata Barudda ihren Bruder und ihren Neffen treffen sollte, das wusste sie nicht.

Stefano lebte schon seit einigen Wochen in den Bergen. Er dachte oft an seine Familie, an seine kleine Tochter Annalisa, die er in der Stadt zurückgelassen hatte. Aber seitdem der alte Vincenzo mit dem vollständigen Verzeichnis der Mitglieder des örtlichen Widerstandskomitees in der Hand – ein in Leder gebundenes Bändchen, in dem in Schönschrift Namen und Adressen von dreiundsechzig Personen verzeichnet waren – beim Ausspionieren der Kaserne der Carabinieri in der Via Marittima festgenommen worden war, war niemand mehr sicher. Viele wurden verhaftet, einigen gelang es zu fliehen. Im letzten Augenblick hatte Stefano sich aus einem Fenster in die Freiheit retten können.

Mehr als alle Kriege zuvor, war es ein Krieg der alten Männer, und Stefano fühlte sich alt, auch wenn er noch nicht einmal vierzig war. Er fühlte sich alt, wenn er auf dem harten Boden schlief und ihn am nächsten Tag das Kreuz schmerzte, er fühlte sich alt, wenn er im Eiltempo mühsam schnaufend von einem Dorf ins andere rannte, die steilen gewundenen Eselspfade hinauf und hinunter, oder wenn er abends mit steifen Gelenken in einem zugigen Stall fror und sein Magen knurrte, das Ungeziefer ihn aufzufressen drohte.

Schon lange lebten sie nicht mehr bei den Bauern, hatten sie kein Bett von nahem gesehen. Seit den Säuberungsaktionen im Januar hatte sich ihr Verhältnis zur Bergbevölkerung merklich abgekühlt. Nachdem die ersten Höfe gebrannt, manch ein Widerständler in den Ästen eines Nussbaumes gebaumelt hatte, ging die Angst um. Man brachte ihnen zwar nach wie vor Lebensmittel, versorgte sie mit Neuigkeiten oder gewährte ihnen Unterschlupf in einem abseits gelegenen, verfallenen Gemäuer, in den Dörfern dagegen sollten sie sich am besten nicht blicken lassen. Je weniger man mit den Partisanen in Verbindung gebracht wurde, desto besser. Schließlich gab es Spitzel, und wenn die Carabinieri oder die Schwarzhemden kamen, schienen sie genau zu wissen, an welche Tür sie zu klopfen hatten.

Die Brigata Barudda war anders als andere Brigaden. Sie stand weder unter dem Einfluss der Sozialistischen noch der Kommunistischen Partei, sie war nicht so gut ausgerüstet wie die Internationale Brigade des Engländers Lewis und schon gar nicht so streng militärisch gegliedert wie die Mazzinianischen Brigaden, die sich überwiegend aus ehemaligen Angehörigen des Heeres zusammensetzten. Sie nannten sich unabhängig, manchmal auch anarchistisch, und hätten sich zweifellos einen der nahe liegenden Namen gegeben, Gerechtigkeit und Freiheit! etwa, wenn nicht Stefano auf die Idee mit der Marionettenfigur gekommen wäre. Schließlich war der Krieg schon ernst genug, und die lustige Gestalt, die zudem so etwas wie ein Wahrzeichen seiner Heimat war – kaum ein Kind, das nicht eine aus Lumpen gebastelte Puppe sein Eigen nannte, kaum eine Aufführung eines der kleinen Wandertheater, in der nicht das obligatorische perdingolina! ertönte – passte seiner Meinung nach gut zur disziplinlosen, etwas chaotischen, aber doch liebenswerten Gruppe. So war auch das Amt, das er offiziell bekleidete, kein Zugeständnis an irgendeine Ideologie, die er hätte vertreten müssen. Als Politischer Kommissar hatte er dafür zu sorgen, dass die Jüngeren und Unerfahreneren keinen Unsinn anstellten, dass sie nicht raubten und mordeten wie wirkliche Banditen, dass ihr Handeln nicht vom Bedürfnis nach persönlicher Rache bestimmt wurde – wer hatte nicht die eine oder andere Rechnung offen? – und dass jede Aktion auf Sinn und Notwendigkeit geprüft wurde. Was hatte man von einer heldenhaften Tat, wenn am nächsten Tag die Zivilbevölkerung dafür bluten musste?

Vieri war in seiner Uniform gekommen. Er hatte sich ein rotschwarzes Band um den Arm gebunden und seit Tagen nicht rasiert. Ein dunkler Schatten lag auf seiner Oberlippe und ließ ihn älter, fast erwachsen erscheinen.

Die Brigade war angewachsen. Fast täglich stießen neue Männer hinzu, Versprengte, Deserteure, ehemalige Carabinieri und Armeeoffiziere, verängstigte Bauern, arbeitslose Handlanger und Wanderarbeiter. Manche schickten sie nach Rossano hinüber oder Richtung Monte Picchiara, andere  reichten sie an die Genossen weiter, die sich oberhalb von Massa in den Apuanischen Alpen verschanzt hatten. Viele jedoch blieben, und so mussten sie bald über dreißig Mann ernähren und mit Waffen versorgen.

Die Nächte waren noch frisch, und oberhalb tausend Meter lag Schnee.

Die Laterne erlischt. Das war das Signal, auf das sie warteten, und als es eines Abends endlich über BBC London kam, machten sie sich auf dem Weg. Es wurde ein langer und beschwerlicher Aufstieg. Der Pfad zur kleinen Hochebene war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, und wäre Leone nicht gewesen, der sie trittsicher führte, sie hätten mit den Waffen, die sie mitführten, den schweren Gerätschaften kaum hinaufgefunden. Dennoch brauchten sie Stunden, bis sie oben waren.

Die Internationalen um Hauptmann Lewis hatten schon Stellung bezogen. Am Eingang der schmalen, grasbewachsenen Ebene kauerten zwei Gestalten hinter einem leichten Maschinengewehr. Im letzten Augenblick wurden die Ankömmlinge erkannt und durften passieren. Es waren auch ein paar Männer der 28. Matteotti da. Die Kommunisten der Brigata Lunense stellten die zahlenmäßig größte Abordnung dar. Jede kämpfende Einheit im Umkreis von zwanzig Kilometern hatte zumindest ein paar Männer geschickt. Jeder schien Anspruch auf ein Stück des Kuchens anmelden zu wollen. Nur von Hayden und seinen Leuten war nichts zu sehen. Entweder hatten sie es zu weit, oder sie waren nicht so dingend auf Nachschub angewiesen wie die anderen.

Stefano und tenente Roberto gingen zum englischen Hauptmann hinüber. Lewis konnte, trotz der unförmigen Kleidung, in die er gehüllt war, seine Herkunft nicht verleugnen. Er glich einer jener Alabasterfiguren, Heilige zumeist, die man auf dem Markt von Lucca erwerben konnte und in Zeitungspapier eingewickelt mit auf dem Heimweg nahm. Ein als Bergbauer verkleideter Engländer mit ordentlich gestutztem Schnauzbärtchen und stets aufrechter, fast steifer Haltung. Sie gaben sich die Hand.

„Was meinen Sie? Werden sie heute Nacht kommen?“ Tenente Roberto sah Lewis forschend an. Vielleicht glaubte er, der Engländer sei tatsächlich besser über die Pläne der Alliierten informiert, vielleicht hoffte er auf eine Wesensverwandtschaft, eine ähnliche Art und Weise des Abwägens, mit der dieser intuitiv das Handeln seiner Landsleute hätte voraussagen können. Aber funktionierte das auch bei Amerikanern?

Der englische Hauptmann sah lange hinauf in den Himmel. Kein Stern war zu sehen. Vom zunehmenden Mond drang ein schwacher Schein durch die geschlossene Wolkendecke. Nur weit draußen vor der Küste schimmerte silbern das Meer. „Wenn sie heute nicht kommen...“ Er brach ab.

Sie hatten kaum Waffen, so gut wie keine Munition mehr, von Essen oder Zigaretten ganz zu schweigen.

Oberstleutnant Conti von der 28. Matteotti sowie Falco und Pietro von der Brigata Lunense stießen zu ihnen. Im Gegensatz zu Stefano war Pietro ein richtiger Politischer Kommissar, erst vor kurzem aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt, war er für einen der größten Kampfverbände der Region zuständig. Falco war der Kommandant der Brigade. Sie wurden auch die Grauen genannt, so wie sie selbst die Weißen hießen. Das Verhältnis zwischen ihnen war stets ein wenig angespannt und von gegenseitigem Misstrauen geprägt.

Während ihre Männer die Abwurfstelle sicherten und die Signalmarkierungen aufstellten, tauschten die Verantwortlichen der Brigaden Neuigkeiten aus. Überall war die Lage ähnlich. Es gab eine Flut von Neuankömmlingen, die nicht bewaffnet und kaum ernährt werden konnten. Die Situation verschlechterte sich von Tag zu Tag, zumal die Bewohner der Bergdörfer sie nicht mehr offen zu unterstützen wagten und Carabinieri und Milizen ihre Streifzüge ausgedehnt hatten. Auch die Deutschen beteiligten sich jetzt an den Säuberungen.

Kurz vor Mitternacht brannten dann endlich die Feuer. Sie waren im Abstand von fünfzig Metern aufgestellt und bildeten ein riesiges, leuchtendes L, das aus der Luft weithin zu sehen sein musste. Aus der Luft und vielleicht auch vom Tal her, wie Stefano angesichts der meterhohen Flammen sorgenvoll dachte.

Noch immer standen sie unweit des ersten Feuers beisammen. Es war das siebte Mal innerhalb weniger Monate, dass sie hier oben in der eisigen Kälte ausharrten. Bisher hatten sie stets vergeblich gewartet.

Pietro rieb seine in Lumpen gewickelten Hände aneinander. „Wenn sie auch heute nicht kommen, dann holen wir uns die Waffen eben bei den Schwarzhemden.“

Conti lachte laut und anhaltend. Seine Lippen zogen sich zurück und gaben ein gewaltiges Gebiss frei, er schien mehr zu wiehern wie ein Pferd, als tatsächlich zu lachen. Er zog seine Brille ab und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Tenente Roberto stieß Stefano an. Leise fragte er: „Ist er verrückt?“

So ging es eine Weile weiter, Pietro machte die abenteuerlichsten Vorschläge, Conti ließ sein lautes Wiehern ertönen, Falco sah ernst und entschlossen in die Runde, und der Engländer erläuterte das Für und Wider so sachlich, dass sich die Anführer der Brigata Barudda auf wortkarge Zustimmung beschränken konnten. Vielerlei Pläne wurden geschmiedet und verworfen, Zigaretten herumgereicht. Trotz der Kälte und des zermürbenden Wartens war die Stimmung fast entspannt.

Später gingen Stefano und Roberto zu ihren eigenen Männern zurück. Sie standen um eines der Feuer, die mehr qualmten als wärmten. Der tenente ließ abzählen. Es fehlten die beiden Polen, die mit dem einzigen Maschinengewehr, das die Brigade besaß, Lewis‘ Wachposten am Taleingang unterstützten, und es fehlte Luca, der ehemalige Carabiniere, der erst vor kurzem zu ihnen gestoßen war.

„Wo, zum Teufel, ist Luca?“

„Er hat sich den Knöchel verstaucht.“ Geraume Zeit vor ihrem Aufbruch hatte sich Luca bei Stefano abgemeldet. „Ich glaube, er wollte im Dorf Unterschlupf suchen.“

„Hat er ein Mädchen?“

Stefano zuckte mit den Achseln.

„Hm“, der Oberleutnant sah forschend zu den schwarzen Schatten, die sie eingekreist hatten, Berge, Bäume oder was auch immer sich im Dunkeln verbarg. Hier vor den lodernden Flammen gaben sie hervorragende Zielscheiben ab. „Den Knöchel verstaucht.“ Er warf den winzigen Stummel fort, an den er bis zum Schluss aus spitzen Fingern gezogen hatte. „Das gefällt mir nicht. Der Junge kommt und geht, wie es ihm passt. Keine Disziplin, überhaupt keine. Rede ihm ins Gewissen. So einen können wir hier oben nicht brauchen. Es ist zu gefährlich. Irgendwann erwischen sie ihn und knüpfen ihn auf.“

Ein nächtlicher Abwurf hat etwas Märchenhaftes. Im weiten, sternenübersäten Himmel erblühen weiße und rote Blumen, sie erblühen aus dem Nichts, so gänzlich unerwartet wie die ersten Knospen auf den Kastanienbäumen, und wäre da nicht das tiefe Raunen der Motoren, das von den Hängen tausendfach zurückgeworfen von überallher zu kommen scheint, man müsste tatsächlich an ein Wunder glauben. Dann senken sich schaukelnd die glänzenden Schirme und bringen ihre kostbare Fracht sicher zur Erde: Waffen und Munition, Schuhe, Kleidung, Lebensmittel, Schokolade und Zigaretten. Es ist wie im Schlaraffenland, wo man nur die Hand aufhalten muss, den Mund, und jeder Wunsch geht alsbald in Erfüllung.

So hatte sich Vieri die Fallschirme vorgestellt. Und wenn sein Onkel von den lang angekündigten alliierten Versorgungsflügen sprach, leuchteten seine Augen. In dieser Nacht suchte er unentwegt den wolkenverhangenen Himmel ab, horchte er so angestrengt in die Dunkelheit hinaus, bis ihm der Kopf schmerzte.

Als dann die Maschine kam und eine erste Runde über dem Tal drehte, liefen alle aufgeregt durcheinander. Sie gab ein Zeichen, ein flackerndes Licht, das aus dem Cockpit zu kommen schien und flog noch einmal tief über sie hinweg.

„Wer hat die Lampe?“ schrie der englische Offizier.

Niemand schien eine Taschenlampe zu haben, um das vereinbarte Signal zu geben. Die Lunense  hatte sich auf den Engländer verlassen und der englische Offizier auf Conti. Dessen Männer hatten in Pontremoli vergeblich nach Batterien gesucht.

„Was ist mit unserer Lampe?“ Stefano sah Roberto an. Dieser schüttelte den Kopf. Seit Tagen waren die Batterien leer. Um neue zu bekommen, hätte man sie schon in Gold aufwiegen müssen.

Schweigend sahen sie den Männern zu, die verzweifelt ihre Rucksäcke und Bündel durchwühlten, von der aberwitzigen Hoffnung getrieben, irgendwo zwischen der schmutzigen Wäsche und einer trockenen Brotrinde fände sich eine lang vergessene, aber wie durch ein Wunder noch betriebsbereite Taschenlampe.

Als dann das Transportflugzeug ein letztes Mal über sie hinwegflog, sprangen sie winkend auf der Stelle und brüllten sich die Kehlen heiser. In einer lang gezogenen Schleife drehte die Maschine ab und flog aufs Meer hinaus.

Irgendwann waren die Feuer heruntergebrannt. Gegen vier Uhr morgens hatten sie die Hoffnung aufgegeben, das Flugzeug könnte zurückkommen. Müde machten sie sich auf den Rückweg. Bald trennten sich ihre Wege. Jede Brigade stieg auf eine andere Seite des Berges hinab.

Leone führte sie wieder zu dem verlassenen Hof, in dem sie sich seit einiger Zeit versteckt hielten. Den alten Standort oberhalb des Dorfes hatten sie nach der letzten Razzia aufgegeben. Sie gingen schweigend. Selbst der Sohn des Müllers, der stets einen Scherz auf den Lippen hatte und gerne sang oder vor sich hinpfiff, schien ernst und bedrückt. Langsam und mit schwerem Schritt folgten ihm die Männer.

Der Morgen graute, ohne dass eine Sonne aufgegangen wäre. Langsam wurde es hell, ein fahles Licht, das durch die Berge hindurchzudringen schien, und die Hänge hinab zu Tal kroch. Bläulich schimmerte der Dunst. Wie kalter Rauch hingen dünne Nebelschwaden in der Luft.

Sie waren in Gedanken schon bei ihren unbequemen Lagern aus trockenem Laub, schliefen schon halb im Gehen, als die Welt um sie herum explodierte. Am Anfang war das grelle Licht der Handgranaten. Erst dann schlug das Dröhnen der Detonationen wie eine Welle über ihren Köpfen zusammen. Viel später, erst als der beißende Pulverdampf auf sie herabzusinken begann, hörten sie auch das Singen der Maschinengewehre, das dumpfe Krachen der moschetti, einzelne Pistolenschüsse. Überall wurde geschossen, und es war nicht auszumachen, wo der Feind stand, wer von den Kameraden in Deckung gegangen war und blind in die Macchia feuerte.

Wie angewurzelt stand Stefano noch immer mitten auf dem Weg. Irgendwo bellte ein Hund, und er wunderte sich, dass er die Zeit hatte, auf ein solches Geräusch zu hören. Seine Hand suchte die Pistole. Erde und kleine Steine prasselten auf ihn nieder, im Gebüsch um ihn herum blitzten die Mündungsfeuer auf. Er wunderte sich, dass er keine Angst hatte. Er hatte gerade den kalten Griff seiner Waffe umfasst, als ihn etwas ansprang. Er taumelte zurück und fiel. Noch im Fallen spürte er einen stechenden Schmerz in der Schulter, wie ein Biss, dachte er verblüfft, bevor er mit dem Kopf auf einen Stein schlug.