Leseprobe

 

Prolog: Der Berg wacht

Er lässt sich in die Wanne gleiten. Noch atmet er heftig, schnauft wie vor einer gewaltigen Anstrengung, und sein Herz läuft sich warm, spurtet vor und zurück, als bereite es sich auf ein Rennen vor, das niemals beginnen wird. Vielleicht ist es die Angst, die ihn plötzlich anlacht, bösartig, als habe sie ihm einen letzten Streich gespielt, vielleicht die Unsicherheit, die wie ein Schatten auf seinen Entschluss fällt. Vielleicht bedingt das eine das andere. Doch bald wird er ruhig.

Jetzt schließt er die Augen. Sein schwerer muskulöser Körper scheint im warmen Wasser zu schweben, und sein Kopf ist der Anker, der, auf dem Wannenrand lastend, ihn am Ablegen hindert. Über die Stirn fallen spärlich die noch dunklen Locken. Die Haare zittern, wenn er über die Unterlippe die Luft nach oben bläst. Seine Hand tastet nach der Flasche. Er nimmt einen letzten tiefen Schluck. Schmatzend kaut er auf dem Rotwein, und für einen Augenblick sieht er die Weinberge unter der abendlichen Spätsommersonne, die prallen Häute der Trauben, auf denen die Insekten tanzen, riecht die Brombeersträucher, die bittere Schwere der gelockerten Erde zwischen den Reben. Er lächelt. Sein Gesicht hat sich entspannt, nur unter der angegrauten Schläfe zappelt eine kleine Ader wie ein vergessener Hering im Netz.

Dann trocknet er sich sorgfältig die Hände. Als er das Netzgerät in der Hand hält, öffnet er noch einmal kurz die Augen. Nachdenklich blickt er auf das grüne Lämpchen, das vor seinen Augen glimmt, fast erstaunt, dass es das sein soll, was er als letztes in seinem Leben sehen wird. Seufzend lehnt er sich zurück.

Es zischt, und ein Zucken durchläuft seinen Körper wie ein wohliger Schauer. Es dauert nicht lange, und seine Schultern, seine behaarten Knie sind nur noch Inseln in einem spiegelglatten See. Als Dr. Moulin gerufen wird, ist das Wasser schon kalt. So stirbt derRetter des Universums.

 

Dr. Moulin, der therapeutische Leiter des kleinen Sanatoriums, veranlasste routinemäßig alles Notwendige. Als der Leichenwagen vom Hof gefahren war, ließ er sich die Krankenunterlagen heraussuchen.

Nicht, dass er den Deutschen gemocht hätte. Er war ein schwieriger Patient gewesen. Verschlossen, in sich zurückgezogen hatte er jahrelang ein unauffälliges Dasein in der Klinik gefristet. Fast schien es, als hätte er wie ein Mönch allem Irdischen abgeschworen. In der Therapie waren sie nicht über ein paar unergiebige Gespräche hinausgekommen. Erst vor kurzem hatte Moulin jede Selbstmordgefährdung ausgeschlossen.Suicidalität besteht nicht, hatte es lapidar in seinem letzten Entwicklungsbericht geheißen. Er nahm noch einmal die Akte zur Hand.

 

Herr Thomas H., geboren am 06.08.1945 in Frankfurt am Main (Bundesrepublik Deutschland), wohnhaft im Hause, in stationärer Behandlung seit dem 27.12.1989.

Diagnose: Chronische paranoid-halluzinatorische Schizophrenie (ICD 295.3).

Die ausführliche Vorgeschichte bitten wir unseren letzten Arztberichten zu entnehmen.

Zur jetzigen Aufnahme: Der Patient bat selbst um Klinikeinweisung, nachdem er sich anlässlich einer akuten Krise subjektiv überlastet fühlte und eine Exacerbation der Psychose befürchtete.

Psychischer Aufnahmebefund: Herr H. war bewusstseinsklar und allseits orientiert. Konzentration und Merkfähigkeit waren herabgesetzt. Der Gedankengang war verlangsamt, jedoch formal geordnet. Inhaltlich klangen paranoide Ideen an (z. B. er habe von höherer Seite den Auftrag erhalten, die Menschheit zu erlösen, oder sei gezwungen worden, jemanden zu töten). Das Antriebsniveau war herabgesetzt, der Patient war psychomotorisch verlangsamt und affektiv starr. Er wirkte deprimiert und ratlos, klagte über vermindertes Selbstwertgefühl, Druckgefühl im Kopf und über Schlaflosigkeit.

Die Medikation war bald reduziert worden, ohne dass es zu einer erneuten psychotischen Entgleisung kam. Herr H. nahm an der hauseigenen Arbeitstherapie teil und beschäftigte sich in seiner Freizeit hauptsächlich mit einem tragbaren Computer, den er in die Einrichtung mitgebracht hatte.

 

Es folgten die EEG- und Labordaten, die unauffällig waren und im Bereich der Norm lagen. Der Finanzierungsvermerk wies auf eine offenbar entfernte Verwandte, die jeden Monat pünktlich die nicht unerhebliche Summe überwies.

Der Doktor machte sich auf seine letzte Runde durch das Haus. Er war mehr als nachdenklich. Düster grübelnd, hätte er auf einen aufmerksamen Beobachter geradezu verstört gewirkt.

Er machte sich Vorwürfe, suchte nach einem Anhaltspunkt, nach etwas, was ihn hätte gewarnt haben können. Nach Jahren relativer Ruhe, war der Deutsche in den letzten Wochen und Monaten angespannter und erregter gewesen, hatte sogar ein paar Mal um eine Bedarfsmedikation gebeten. Ungewöhnlich für ihn, gestand Moulin sich jetzt ein. Und doch hatte es keine Hinweise auf eine erneute, akute Krise gegeben.

Wie üblich wechselte der Arzt mit jedem Patienten, dem er begegnete, ein paar Worte, hörte sich die Berichte der Pfleger an, ging durch die Küche und stattete den verlassenen Räumen der Beschäftigungstherapie einen kurzen Besuch ab. Heute jedoch war er nicht bei der Sache.

»Wie sagt man auf Französischdomenica?« Salvatore grinste schief und sperrte seine Augen so weit auf, als würde er gleich die streng geheime Zahlenkombination des großen Kühlschrankes erfahren.

Er fragte ihn jeden Tag nach einem Wort. Obwohl er nie zweimal nach dem gleichen fragte, hatte Moulin Zweifel, ob er sich die Vokabel länger als eine halbe Stunde merken konnte.

Freundlich antwortete er: »Dimanche, Salvatore,dimanche.« Sie standen am Rand der hinteren Terrasse, und der kleine Park mit seinen Wegen und Bänken, den Büschen und Sträuchern, den vereinzelten Bäumen öffnete sich vor ihnen wie ein gut gepflegter Golfplatz.

»Und auf Deutsch?«

»Die Deutschen sagenSonntag, der Tag der Sonne.« Wieder lächelte Dr. Moulin.

Tatsächlich schien die Sonne noch flach durch das Geäst, und unten auf dem See blitzten die Segel der letzten Boote auf.

»Das ist sehr schön, das ist wirklich sehr schön ...« Salvatore war begeistert. Nickend und murmelnd trottete er ins Haus zurück.

Von weitem schon, aus den Tiefen des Gartens, winkte ihm Herr Geßler zu. Laut rufend, stakste er unsicheren Schrittes auf Moulin zu. Dieser konnte kein Wort verstehen, blieb aber ergeben stehen, bis ihn Geßler mit seiner knochigen Hand am Arm gepackt hatte.

»Herr Doktor, chöid Ir mir erchlääre, worum i Mädikchamänt bruuch? I bi doch gsund, odär?!« nuschelte er kaum verständlich auf Schwyzerdütsch.

Moulin seufzte. Manchmal kam Geßler überraschend in die Visite, nur um sich dann ratlos umzuschauen, den Kopf zu schütteln und zu sagen:I wüssd ga nid, was i da soll. I bi doch gsund, odär?! Die Medikamente nahm er jedoch, ohne zu murren.

»Herr Geßler«, er sprach wie mit einem uneinsichtigen Kind, »solange Sie mit Ihren Milliarden um sich schmeißen, Milliarden, die Sie gar nicht haben, sollten Sie lieber hierbleiben und Ihre Tabletten nehmen.«

Letztes Jahr hatte Geßler der Stadt Genf 24 Milliarden Schweizer Franken vermacht. Der Stadtkämmerer hatte sich freundlich bedankt, auf die schwierige Haushaltslage hingewiesen und angefragt, ob die erste Rate von einer Milliarde nicht sofort überwiesen werden könne.

»I han aber e Huuffe Gäld!« Geßler schien einen Augenblick nachzudenken. »Ir chönned s haa, jederzyt. Ir bruuchet numme zu minere Schwöschter z’gaa. Di hebt’s für mi uuf!«

Tatsächlich hatte er ihm erst gestern 1,2 Millionen Franken geschenkt und ein Luxusrestaurant in bester Seelage obendrein.Nämmed’s, Herr Doktor. I bruuch’s ja gäng nid, hatte er traurig gesagt.Göjet eifach hi un säged, Ir chämt vo mir. S gejt scho in Ordnig.

 

Moulin wartete. Wieder zurück saß er im Halbdunkel hinter dem riesigen Schreibtisch, der wie ein Findling vom nahen Berg in sein Büro gekullert schien. Seine kleine, fast zierliche Gestalt versank im rotbraunen Leder des gewaltigen Drehsessels. Die Lehne überragte seinen Kopf wie den eines Kindes. Langsam ließ er sich von rechts nach links schwingen, von links nach rechts und dann wieder zurück. Wie ein Pendel durchmaß er die Zeit. Erst als die Nachtschicht ihre unauffällige Arbeit aufgenommen hatte und die Geräusche des Hauses nach und nach verebbt waren, erst als niemand mehr mit seiner Anwesenheit gerechnet hätte, nahm er die Diskette aus dem Umschlag. Sie war unbeschriftet, nur eine große schwarze Eins prangte darauf.

Irgendwann auf seinem Rundgang hatte er sich im Zimmer des Deutschen wiedergefunden. Etwas hatte ihn mit geheimnisvoller Macht zum Domizil dieses Mannes gezogen, der einige Jahre zuvor wie der unauffällige Dauergast einer Pension Aufnahme gefunden hatte. In der Hektik des Vormittags als Moulin noch unter dem Eindruck des frischen Selbstmords durch das vollgestellte Apartment gehastet war, hatte etwas seine Aufmerksamkeit gestreift, ohne bis in sein Bewusstsein vorzudringen.

Es war nicht die Welle selbst gewesen, eine die halbe Wand hinter dem Bett einnehmende Reproduktion der berühmtesten aller Wellen, der Hokusai-Welle, die den unterschwelligen, fast hypnotischen Zwang ausgelöst hatte, zurückzukehren und sie wie ein andächtiger Museumsbesucher anzustarren. Es war ein kleines, mit Klebeband angebrachtes Stück Papier gewesen, erkannte er jetzt, das mitten im Bild wie eine Wolke weißen Rauchs dem Vulkankrater entquoll. Ein Satz, sauber mit einer runden, schnörkellosen fast weiblichen Schrift aufgetragen, machte sie zu einer Sprechblase. Und während der überirdische Brecher sich wie ein Raubtier über die kärglichen Boote der Fischer wölbte, um sie, wie es schien, im nächsten Augenblick mit einem einzigen Prankenhieb zu zermalmen, sprach Fuji, der heilige Berg:Fürchtet Euch nicht, denn der Berg wacht.

So wenig die halbvolle Wanne und die alles überragende Welle gemein hatten, so wenig konnte Moulin die geheimnisvolle, vielleicht nur vordergründige Verbindung beiseiteschieben, die das Wasser beständig zwischen diesen ungleichen Gebilden schuf.

Dann hatte er den Brief gefunden. Gleich neben dem verlassenen Portable lag der gelbe Umschlag, auf dem der Deutsche ein schwungvollesMoulin gekritzelt hatte und der einen Stoß Aufzeichnungen enthielt: fotokopierte Blätter, Skizzen, Pläne vielleicht, und mehrere Disketten.

Ein Zeitungsausschnitt fiel zu Boden. Moulin hob ihn auf. DieNeue Weltwoche berichtete von einem kürzlich verabschiedeten europäischen Programm zur Förderung der Fusionsforschung. Im Gegensatz zu den anderen Unterlagen, die verblichen und gelblich waren, schien der Ausriss neueren Datums zu sein. Er schob alles in den Umschlag zurück. Nur die Disketten lagen noch vor ihm auf dem Tisch.

Der Doktor zögerte, atmete mit gerunzelter Stirn tief ein, hielt für einen Moment die Luft an, als müsste er eine schwere Entscheidung fällen, und schob dann schnaubend die dünne Hülle der Nummer Eins in den Schlitz des Laufwerks. Für eine lange Sekunde machte er sich darauf gefasst, in das müde Gesicht des Deutschen zu blicken, ganz so, als könne ein einfaches Handauflegen ihn wieder zum Leben erwecken, und war fast enttäuscht, als sich der Bildschirm nur mit den üblichen Zeichen füllte, langen Ameisenstraßen, die unwillig nach oben krochen, wenn er die Cursortaste drückte.

In der ersten Zeile stand:Das letzte Experiment - oder wie ich das Universum rettete.

Dr. Moulin sah noch einmal hinaus. In den Gläsern seiner Brille spiegelten sich die Lichtbänder, die den See wie einen dunklen Stein umfassten. Fixsternen gleich zitterten die Lichtpünktchen der Häuser und Laternen durch die Nacht zu ihm herauf. Unbeweglich und friedlich lag Genf zu seinen Füßen. Dann fing er an zu lesen.

 

Wer früher stirb, ist länger tot

Die Nachricht von Altomontes Tod erreichte mich in der Redaktion. Es war der erste Dezember. Das Gipfeltreffen zwischen Bush und Gorbatschow stand unmittelbar bevor, und die Ticker glichen heiß gelaufenen Webstühlen, die die immer gleichen Verlautbarungen zu neuen, erregenderen Mustern zusammenzustellen versuchten. Sie Meldung, die mich telefonisch eingeholt hatte, mochte irgendwo am Ende einer monströsen Warteschlange stecken, eines gewaltigen Informationsstaus, und es konnte Stunden dauern, bis sie sich als kurze Notiz wie ein Maulwurf durch die Anhäufungen überflüssiger Worte hindurch ans Tageslicht gearbeitet haben würde.

Noch während Liepman ungeschickt versuchte, mich mit dem Unwiderruflichen vertraut zu machen, stellten sich zwei unterschiedliche Empfindungen fast gleichzeitig ein. Da war zunächst ungläubiges Staunen, das Unvermögen, auf Anhieb zu begreifen, jemand wie Altomonte könne sterben, das heißt, sei wie alle Menschen sterblich - die eigene Person vielleicht ausgenommen. Hinzu gesellte sich bald das Gefühl tiefer Bewunderung. Ganz so, als sei das wieder eine seiner grandiosen Ideen, dachte ich: »Schafft es der alte Gauner doch immer aufs Neue, die Welt zu verblüffen!« Es war die gleiche Bewunderung, die ich mehr als zwanzig Jahre lang verspürt, manchmal erfolglos bekämpft, häufiger wie gottgegeben hingenommen hatte.

Tatsächlich ist diese Bewunderung das erste, was ich überhaupt mit Altomonte verbinde.

Auf dem Mäuerchen vor derTheoretischen sitzend, pflegte er ganze Nachmittage lang auf den Neckar hinunter zu starren. Manchmal lag er rauchend da und blickte den Schwaden nach, die er durch Mund und Nase aufsteigen ließ, oder dem Lauf der Wolken, die über den Heiligenberg oder den Königstuhl hinweg zogen. Ging einer der anderen Studenten vorüber, bedachte ihn Altomonte mit einer spöttischen Bemerkung. Dann flogen dumme Sprüche hin und her, ohne darüber hinwegzutäuschen, dass er keine Gesellschaft suchte.

Bei den Kommilitonen galt er als genialisch, verschroben, vielleicht nur verrückt oder größenwahnsinnig, bei den Professoren als faul und aufsässig. Für Altomonte waren die einen wie die anderen zwar ernsthaft bemühte, doch letztlich hoffnungslos zum Scheitern verurteilte Kleingeister, die auch in zweihundert Jahren, zumindest ohne seine Hilfe, nichts von Physik verstanden hätten. Dabei war es keineswegs die Intelligenz, die er ihnen absprach. Nein, über die entsprechende Ausstattung und die rein formalen Fähigkeiten verfügten sie durchaus, bemerkte er mehr als einmal spöttisch, manche sogar im Übermaß. Es war die geistige Beweglichkeit, die ihnen fehlte, der Mut, über den Tellerrand hinauszuschauen, vielleicht nur eine moralische Unabhängigkeit. Das verurteilte sie dazu, wie willenlose Objekte auf den von ihren Lehrern und Eltern vorgegebenen Umlaufbahnen zu verharren. Später sprach er von einem psychologischen Charakterzug, von etwas, das er Feldunabhängigkeit nannte, eine Eigenschaft, mit der er, aus welchen Gründen auch immer, überreich gesegnet zu sein vorgab und die ihm erlaubte, dem wichtigsten Bestimmungsstück des Menschen zu trotzen: dem Herdentrieb.

»He, Heilant! Wo rennst du hin?«

Ich glaube, es war das erste Mal, dass er mich so ansprach, dass er mehr sagte als »Na, alles klar?!« oder »Hey, was macht’s Leben?«.

Misstrauisch zögerte ich, weiterzugehen. »In die Stadt, wieso?«

»Warte, ich komm mit!« Er war aufgesprungen, hatte die braune Lederjacke über die Schulter geworfen und stürzte die paar Stufen herunter. Dann packte er mich am Arm und zog mich in die andere Richtung. »Komm, wir nehmen den Schlangenweg!« Es waren diese Imperative, die ihm flüssig von den Lippen kamen, denen selten jemand etwas entgegenzusetzen hatte.

Der Frühling hatte in Heidelberg Einzug gehalten wie in einem besetzten Land. Noch ungläubig traten die Menschen auf die Straße hinaus, blinzelten in die kräftige Sonne und lächelten schüchtern, so als fürchteten sie, die Kälte könne zurückkehren und die Abtrünnigen bestrafen. Die Luft war klar und durchsichtig. Sie roch und schmeckte nach nichts, und doch prickelte jeder Atemzug wie eine überfällige Sauerstoffbehandlung.

Zu unseren Füßen lag die Altstadt. Als habe man sie miniaturisiert, um den ersten Touristen einen allzu kräftezehrenden Rundgang zu ersparen, drängten sich die wenigen Sehenswürdigkeiten unterhalb des Schlosses zu einem Gruppenbild. Durch die knospenden Äste der Bäume schimmerte rostrot die Alte Brücke. In kurzen Bögen schwang sie sich über den Neckar, der - war es das Wetter, war es die Perspektive? - mehr einer schwülstigen Postkarte entnommen schien, als dass er Ähnlichkeiten mit der dunklen Brühe des Winters gehabt hätte.

Altomonte schien es eilig zu haben. Ohne die Stadt oder sonst irgendetwas eines Blickes zu würdigen, hetzte er den Philosophenweg entlang, dass ich Mühe hatte, mit seinen dürren Storchenbeine Schritt zu halten.

»Man sagt, du arbeitest über Hydrodynamik?« Es war kaum eine Frage. Dennoch hatte er seinen Schritt verlangsamt.

Ich runzelte die Stirn. »Ja, thermische Konvektion. Das Verhalten von Fließsystemen…«

Altomonte sah hinunter auf den Neckar, und plötzlich warf er sich in die Brust und deklamierte mit trauriger Stimme:

»Der fleckige Fluss,

Der immer weiter floss, nicht einmal auf dieselbe Weise,

Floss durch viele Orte, als verharre er in einem.«

Auch ich war stehen geblieben. »Was redest du da?« Altomontes Wunderlichkeit war Tagesgespräch am Institut, und doch, obwohl vorgewarnt, gelang es ihm, mich an diesem Tag gehörig zu verwirren.

Er lachte. »Stevens.«

Wir gingen langsamer weiter.

»Konvektion, Dissipation«, murmelte er ein paar Mal leise vor sich hin. »Interessant, sehr interessant…«

Ich gestehe, ein wenig stolz gewesen zu sein. Noch kam ich mir wie ein interessantes Fundstück vor, eine abgegriffene Münze vielleicht, die er inmitten von wertlosem Gerümpel entdeckt hatte und nun nachdenklich betrachtete, aber es gab keinen Zweifel: ich hatte die Aufmerksamkeit des Meisters erregt.

»Schon, aber keine einfache Materie«, gab ich zurück.

»Eh, eh«, er kicherte in sich hinein. »Navier-Stokes-Gleichungen, stimmt’s?«

Ich horchte auf. »Und du, mit was beschäftigst du dich?«

»Ich? Mit Pendeln.« Er hatte es in einem Ton gesagt, als könne es für einen erwachsenen Menschen keine sinnvollere Beschäftigung geben.

Seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten vielleicht interessierte sich kein ernsthafter Physiker mehr für Pendel. Zuerst glaubte ich mich verhört zu haben.

»Mit was?«

»Pendeln, Perpendikeln, Oszillatoren, periodischen Systemen…«

»Ich verstehe«, unterbrach ich ihn, obwohl ich gar nichts verstand.

Dann ging es hinunter, Stufe um Stufe eine endlose Treppe, und diesmal war ich es, der ihn abhängte. Schnaufend und hustend stolperte Altomonte hinter mir her. Schnell wuchs die Stadt empor, und wenige Minuten später standen wir unten auf der Uferstraße.

Noch schwer atmend, stützte er sich auf meinen Arm. »Mensch, Heilant!« stammelte er eindringlich. »Du solltest dir das wirklich mal anschauen!«

Meinte er seine Pendel, die Navier-Stokes-Gleichungen oder irgendetwas anderes, was mir entgangen war oder meine bemitleidenswerte Auffassungsgabe überstieg? Das Schloss vielleicht, die mit Burschenschaftsfahnen beflaggten Häuser?

»Und du solltest das Rauchen aufgeben!« erwiderte ich, um überhaupt etwas zu sagen.

Erneut nahm er Haltung an. Mit Schwung warf er den Kopf zurück und das dunkle Haar aus der Stirn. Er blickte hinauf in den Frühlingshimmel. Seine eingefallenen Wangen bebten theatralisch:

»Dass in der schattenlosen Atmosphäre,

Das Wissen von den Dingen lag,

Doch wahrgenommen nicht.«

»Wieder Stevens?«

»Ja, du hättest das Ende abwarten sollen« Wie um sich zu entschuldigen, fügte er hinzu: »Das wird das Motto meiner Doktorarbeit.«

In den darauffolgenden Wochen und Monaten lernte ich diese augenfälligste Eigenart Altomontes besser kennen. Er war ein Schauspieler, ein Clown. Menschen brauchte er vor allem als Publikum. Sein Spott war manchmal so verletzend, wie seine Selbstironie mitunter peinlich war. So sehr sein Kopf mit erbaulichen Zitaten und absonderlichen Versen, ganzen Szenen klassischer Dramen oder tausendfach wiederholten Lebensweisheiten, Redensarten, kurz Klischees aller Art angefüllt schien: stets inszenierte er sich selbst. Was er auch aufführte, nie sollte jemand daran zweifeln, dass erspielte. Er streifte sich mal diese, mal jene Maske über, und doch durfte auch die kunstvollste Verkleidung niemals darüber hinwegtäuschen, dass sie etwas verbarg. Was es war, blieb ein Rätsel.

Im krassen Widerspruch zu dieser spielerischen Virtuosität, mit der er höchst feinfühlig ein Netz von Täuschung und Einbildung, von Hintersinn und Unsinn spinnen konnte, stand das schroffe, geradezu unversöhnliche Rebellentum, das seine wissenschaftliche Arbeit auszeichnete und ihn schließlich berühmt machen sollte.

 

»Was ist los?« Ich hatte wohl schon eine Weile, den Hörer noch in der Hand, vor mich hin gestarrt, denn Madelaine, die dunkelhäutige Volontärin, klang besorgt, als sie in meine Erinnerungen eindrang.

»Es ist jemand gestorben.« Es war eine Wahrheit, die wenig besagte, der ich im Augenblick aber nichts anzufügen wusste. Und tatsächlich, obwohl es wenig oder nichts erklärte, Verständnis schien über ihr Gesicht zu huschen.

»Altomonte ist tot.«

»Der Physiker?«

Ich nickte.

»Das war ein Freund von dir?«

Ein Freund? Wieder nickte ich.

»Es tut mir leid.«

Es brauchte ihr nicht leid zu tun.

 

Der laufende Fernseher spiegelte sich flackernd in der großen Fensterfront. Ich sah hinaus auf den Hafen. Das rötliche Licht der Lampen strich über die dunklen Bassins und umgab Speicher und Kais wie eine wärmende Aureole. Obwohl es mit Einbruch der Nacht ruhiger geworden war, schwangen die Ladekräne hin und her, und manches Gefährt hastete einer unbekannten Bestimmung entgegen. Es war, als hätte die Aufbruchsstimmung des Hafens heute auch mich erfasst.

»Wie erst heute bekannt wurde, kam am letzten Sonntag in Genf der fünfundvierzigjährige Schweizer Physiker Massimo Altomonte bei einem Unfall ums Leben. Erst im vergangenen Jahr war ihm der Nobelpreis für seine bahnbrechenden Arbeiten im Bereich der Hochenergiephysik zuerkannt worden. Näheres über die Umstände wurde zunächst nicht bekannt.«

Als könnte ich mich nicht daran gewöhnen, schrak ich auf. Hinter der Sprecherin prangte ein Schwarzweißfoto. Ein tadellos gekleideter Altomonte sah mich spöttisch an.