8. Kapitel
Gina Manconi war Schneiderin gewesen. Unbestritten die schönste Frau von Monteforte. Und wenn sie mit dem offenen schwarzen Haar unter ihrem Hütchen durch die Straßen ging, mit kurzen Trippelschritten über das Pflaster zu schweben schien, dann starrten ihr die jungen Männer nach, als hätten sie in Ginas Augen ihre ungeborenen Kinder gesehen. Geister, die Geister blieben, denn sie pflegte die ausgehungerten Blicke nicht zu erwidern, sah weg oder zu Boden, lächelnd zwar und nicht schüchtern, und doch schien sie für niemanden zu haben zu sein. Außerdem hätte sie sich niemals vorstellen können, dem Drängen eines Bürgerlichen oder gar Faschisten nachzugeben. Sie stand politisch links, und da sie in Monteforte lebte, war sie Anarchistin. Noch lange nach dem Marsch auf Rom pflegte sie mit einer roten Nelke am Kragen ihrer Sonntagsbluse auf die Straße zu gehen.
Als Schneiderin liebte sie Brautkleider. Und als Stefano sie eines Tages fragte, warum sie sich nicht selbst ein Hochzeitskleid schneiderte, antwortete sie nicht. Es war der Heiratsantrag eines schüchternen Mannes, eines Mannes, der nie um sie geworben, ihr niemals ein Kompliment gemacht hatte, eines Mannes, den sie immer nur verstohlen zu ihrem kleinen Laden blickend über den Platz hatte gehen sehen. Doch zeigte der Umstand, dass sie ihn nicht sofort zurückwies, dass sie Gefallen an ihm gefunden hatte, sie es sich zu überlegen gedachte.
Sie sollten erst Jahre später nach seiner Rückkehr aus dem französischen Exil heiraten. Inzwischen verbrachte er jede freie Minute in ihrer Werkstatt in der Piazza Mazzini, saß auf einem der niederen Schneiderstühle, die ihm seine langen Beine in den Magen drückten, und sah ihren Fingern zu, ihren Händen, die über die Stoffe strichen, die Nadel führten oder die klappernde Maschine bedienten. Meistens schwiegen sie. Manchmal sah sie auf und lächelte.
Noch Jahre später, als sie ihn schon längst in Nizza wusste, ging ihr Blick manchmal zu der Standuhr mit dem goldenen Pendel, und wenn seine übliche Zeit gekommen war, begann ihr Herz zu hämmern, und sie verdrehte sich den Hals, um durch das Schaufenster hinaus auf die Straße zu sehen, in der vergeblichen Hoffnung, er käme doch noch, wie so oft davor, mit einem Buch unterm Arm vom Ufer der Magra herüber.
Nach der Flugblattaktion im Hafen von Carrara war Stefano nicht in die Berge gegangen. Er hatte den Weg genommen, den viele, Flüchtlinge oder lediglich Arbeitslose, an der Küste gegangen waren. Mit einem der Kähne, die den Marmor nach Südfrankreich schafften, von wo er in die ganze Welt verschifft wurde, erreichte auch Ginas Verlobter jene andere Küste. Und während in Aigues-Mortes, in der Camargue, die italienischen Salinenarbeiter von den Einheimischen zu Dutzenden erschlagen wurden, weil sie ihnen die Arbeit wegnahmen, verkehrte er, Dank einer kleinen monatlichen Unterstützung, die ihm Piero und Maria zukommen ließen, in den Lokalen der Rue Droite in Nizza, wo sich jene trafen, die schon lange und vergebens auf das Ende der faschistischen Herrschaft in Italien warteten.
Gleich am Eingang der Bars und Restaurants hingen Bilder von König Vittorio Emmanuele III und Mussolini. Sie waren groß und waren dort angebracht, wo man sie kaum verfehlen konnte, spuckte man dagegen, wie es allgemeine Sitte war, wenn man kam oder ging.
In diesen Etablissements konnte man den Eindruck gewinnen, die Tage des Regimes seien gezählt, und doch drehte sich die Welt der Emigranten nur um sich selbst, sah man von den faschistischen Spitzeln ab, die in denselben Lokalen ein- und ausgingen und allerlei, meist wertlose Informationen über geplante Anschläge oder Mitglieder des Widerstandes sammelten.
In Nizza verbrachte Stefano drei Jahre. Tagsüber betrank er sich in den Bars, nachts starrte er ins Dunkel und dachte an Gina. Als man ihm mitteilte, über die Flugblattaktion sei Gras gewachsen, er werde nicht mehr offiziell gesucht, ging er zum Hafen und schiffte sich nach Carrara ein.
An diese lange und traurige Zeit musste Stefano denken, während er wieder zu sich kam. Er lag in einem richtigen Bett. Saubere Laken umgaben ihn, sein Kopf versank in einem weichen Kissen. Er verscheuchte die düsteren Gedanken, schloss seufzend noch einmal die Augen, um den Geruch der Wäsche tief einzuatmen, die Sauberkeit und Frische, die der Stoff verströmte.
„Mamma, er wird wach“, rief Lina, die in einem Stuhl am Bettende gesessen hatte, und lief hinaus.
Dann kam Rita, die Müllersfrau, und half ihm, sich aufzusetzen. Von ihr erfuhr er, dass er mehr als drei Tage schlafend und fiebernd verbracht hatte. Erst in diesem Augenblick fiel ihm der Feuerüberfall wieder ein, und er griff sich an die Schulter, die sich unförmig und wund anfühlte. Der grobe Verband wies bräunliche Spuren von geronnenem Blut auf. Sie hatten ihn notdürftig verbunden. Weit und breit gab es keinen Arzt, aber die Heilung schien Fortschritte zu machen. Das war zumindest Ritas Ansicht, und da sie im Dorf die verletzten Tiere versorgte und auch manch ein Kind zur Welt gebracht hatte, glaubte er ihr.
„Was ist mit den anderen?“ wollte er irgendwann wissen. Sie hatte ihm eine Gemüsesuppe mit dicken Bohnen gebracht, die er gierig verschlang.
Lange sah sie auf den Holzboden, als müsse sie nachdenken. Dann blickte sie auf. „Tot oder gefangen. Einige versprengt. Wenn dein Neffe und Leone dich nicht weggebracht hätten...“ Sie beendete den Satz nicht.
„Danke“, war alles, was er sagen konnte.
„Bedanke dich bei ihnen und nicht bei mir.“ Sie stand auf, um frisches Wasser zu holen.
„Du weißt, was ich meine.“
Sie winkte ab und ging hinaus.
Später erfuhr er, dass tenente Roberto gefangen genommen worden war. Zwei Tage lang hatten sie ihn verhört. Von den Milizionären war er blutig geschlagen worden. Schließlich sollen sogar die Deutschen Mitleid mit ihm gehabt haben. Ein Offizier habe ihm noch eine Zigarette gegeben. Dann hätten sie ihn erschossen. „Die Schwarzhemden wollten, dass er Es lebe der Duce ruft, doch die Deutschen haben auf eine ordentliche Exekution bestanden“ - das waren die Worte der Müllerin gewesen.
Rita kam regelmäßig, um ihn mit Neuigkeiten zu versorgen. Sie war stets schwarz gekleidet und ging etwas gebückt, so als trage sie eine schwere Last. Sie mochte nur ein paar Jahre älter als Stefano sein, hatte aber ein wettergegerbtes, von der schweren Arbeit gezeichnetes Gesicht, das ihr wirkliches Alter einer genaueren Bestimmung entzog. Das Essen wurde meistens von Lina gebracht, ihrer fast erwachsenen Tochter. Sie war es auch, die seinen Verband wechselte und die Wunde auswusch. Sie war im gleichen Alter wie Vieri, und die beiden freundeten sich schnell an.
In den nächsten Wochen wurde die Mühle von Villareggio zu einem Treffpunkt für den Widerstand der ganzen Region. Neben Vieri, Mick, dem avvocato und weiteren Überlebenden der Brigade - sie hatten sich verschiedenen anderen Formationen angeschlossen - kamen Conti und Lewis gelegentlich zu Besuch. Selbst Pietro von den Grauen ließ es sich nicht nehmen, ihm seine Genesungswünsche persönlich zu überbringen. Daneben gingen Kuriere ein und aus, die die Verbindung zu den Nationalen Befreiungskomitees in Genua und im restlichen besetzten Italien aufrecht hielten.
Schon bald nach seinem Erwachen wurde Stefano eine Ärztin angekündigt, die sich seine Wunde anschauen wollte. Sie heiße Dolores, sagte man ihm, und als Vittoria ins Zimmer trat, brauchte er lange, um zu verstehen, dass es sich um ein und dieselbe Person handelte. Sie wusste natürlich, wer sie erwartete, und die Geschwister schlossen sich in die Arme. Sie hatten sich seit Monaten nicht gesehen.
Nicht dass ihre Beziehung in den letzten Jahren ungetrübt gewesen wäre. Stefano hatte von Anfang an ihre Heirat missbilligt und ihren Mann mehr als einmal als kapitalistischen Ausbeuter bezeichnet. Ihr Lebensstil missfiel ihm, das großbürgerliche Gehabe, das seiner Meinung nach überhaupt nicht zu ihrer Familie passte, der Müßiggang, der so wenig ihrer zupackenden Art entsprach. Umso mehr freute er sich, ihr jetzt in den Bergen als verkleideter Bäuerin zu begegnen, und als sie wie beiläufig eine alte Pistole aus ihrem Umhang zog, um sie auf das Tischchen zu legen, sah er fast ehrfürchtig zu ihr auf. Später sollte er sich Sorgen um sie machen. Einer einzelnen Frau konnte hier oben alles Mögliche zustoßen, und dass sie sich dessen offenbar nur allzu bewusst war, ließ sie in seiner Achtung noch höher steigen. Schließlich hatte sie ohne Not die wohlbehütete häusliche Sicherheit aufgegeben, um das zu tun, was sie als ihre Pflicht ansah.
Doch sie war selten allein unterwegs. Wenn sie gebraucht wurde, kam Franco zum Stadtrand und schickte einen Jungen, um sie zu holen. Dann wartete er beim Eichenwäldchen, und im Schutz seines alten Gewehres machten sie sich auf dem Weg zu einem der Bergdörfer, wo ein anderer Franco oder Paolo oder Enzo sich den blutenden Bauch hielt. Einigen konnte sie helfen, viele starben ihr unter den Händen weg.
Am Tag als Vittoria seine Wunde zum ersten Mal versorgte, war auch Lewis, der englische Hauptmann, zugegen. Von Rossano herunter war es nicht weit, und da ihm der ehemalige Politische Kommissar der Weißen sympathisch war, sollte er Stefano in den Wochen der Genesung immer wieder einen Besuch abstatten. Dann brachte er echten Tee mit – sie waren endlich mit Nachschub versorgt worden – den Rita mit tausend Ausrufen des Entzückens aufbrühte und den sie gemeinsam still und in kleinen Schlucken genossen. Manchmal spielten sie Dame, häufiger besprachen sie die strategische Lage, die sich fast täglich änderte. Stefano, der seit dem Tod von tenente Roberto niemanden mehr hatte, mit dem er in der Beurteilung der Situation so weit übereinstimmte, freute sich stets auf die Nachmittage, auf die ruhige und förmliche Art des Engländers. So anders als seine Landsleute, mochten es Bergbauern oder zu ihnen gestoßene Städter sein, die sich ungefragt duzten und auch sonst einen eher persönlichen Umgang miteinander pflegten, genoss er dessen distanzierte Haltung, die gleichwohl Wertschätzung und Mitgefühl ausdrückte und auf ihn sogar aufrichtiger wirkte.
Schon bald nach Vittorias Ankunft brach Lewis auf. Er schüttelte beiden die Hand, verbeugte sich tief und ging in Begleitung eines Griechen, der vor dem Haus Posten bezogen hatte.
Die Schwester nahm ihm den schmutzigen Verband ab. Die Kugel hatte die Schulter glatt durchschlagen. Die Wunde hatte dunkelrote, fast schwarze Ränder und nässte, schien aber kaum mehr zu eitern. Vittoria trug die Salbe auf, die sie mitgebracht hatte und legte eine frische Binde an. Sie schwiegen, bis sie ihre Arbeit beendet hatte.
„Ich habe Vieri gesehen. Er ist erwachsen geworden.“ Aus einer Karaffe goss sie Wasser in ein Glas.
„Er kämpft wie ein Mann...“ Stefano stockte und lächelte verlegen. „Entschuldige.“
Sie betrachtete ihn lange, den Bart, der sich an den Wangen grau zu färben begann, die Stirn, die sich weit hinaufzog und in eine große kahle Stelle überging. Je älter er wurde, desto mehr ähnelte er Piero, dem Vater. Er war größer und muskulöser, und ihm fehlte die weiche Gutmütigkeit, die den anderen stets ein wenig verlegen erscheinen ließ, und doch hatten sie die gleichen graugrünen Augen, den gleichen stets halbgeöffneten Mund. Dann sah sie auf ihre Hände. „Pass auf ihn auf“, sagte sie.
„Er hat mir das Leben gerettet.“
Es war ein lichtdurchfluteter Frühlingsnachmittag. Durch das weit geöffnete Fenster fiel heiß die Sonne und ließ die Fliegen wie übergroße Staubkörner in ihrem Strahl tanzen.
„Wie geht es Mamma?“ fragte er.
„Seitdem alle Ärzte im Krieg sind, gibt es wieder Arbeit für sie. Aber es kommen wenig Kinder zur Welt in diesen Zeiten. Und wenn sie kommen, dann muss man sie mit Gewalt holen. Mit Gewalt oder mit guten Worten.“ Sie füllte das Glas nach. „Misstrauisch beäugt werden sie, von den Großvätern und von den Onkeln und von den Großmüttern, deren Lippen sich lautlos bewegen, wenn sie die Monate und Wochen zurückrechnen.“ Sie stand auf und ging zum Fenster. Ein Luftzug hob ihr Haar und ließ es rötlich aufleuchten.
„Und Piero?“
Lange sah sie hinaus, dann drehte sie sich um. „Er besucht mich oft – und Laura. Manchmal glaube ich, dass ihm der Krieg am meisten zu schaffen macht. Er ist zu alt zum arbeiten, und er ist zu alt zum kämpfen.“
„Viele alte Männer kämpfen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, du kennst ihn, wenn er etwas nicht richtig machen kann, dann macht er es gar nicht.“ Sie kam zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl neben seinem Bett. „Er ist den ganzen Tag unterwegs, wandert kreuz und quer durch die Berge, abends muss er dann Laura bei dem Deutschen abholen und nach Hause bringen...“
Er griff nach ihrer Hand. „Was willst du damit sagen?“
„Nichts, ich habe schon zuviel gesagt.“ Sie machte sich los. „Du hättest sie niemals hinschicken dürfen. Du kennst meine Meinung. Aber du hast uns schon immer gern herumkommandiert, uns alle...“
„Lass uns nicht wieder damit anfangen.“
„Ja, lass uns streiten, wenn du wieder gesund bist.“ Sie lächelte. „Franco wartet unten an der Brücke auf mich. Schone dich. Ich komme bald wieder.“ Sie ging.
Mit dem Frühling und der Wärme hatte sich vieles geändert. Die frisch begrünten Bäume schützten die Partisanen jetzt auch vor allzu neugierigen Blicken, und es waren nicht mehr nur junge Carabinieri, mehr von der Pflicht als von unbeugsamen Siegeswillen getrieben, die ängstlich und schlecht gelaunt die Straßen zu den Dörfern hinauftrotteten,. Die Säuberungsaktionen standen immer häufiger unter unmittelbarem deutschem Kommando. Als sich dann eines Tages die Nachricht wie ein Lauffeuer durch die Dörfer des ganzen Tales und darüber hinaus verbreitete, die SS sei gesichtet worden, da dämmerte auch den Letzten der stets Zuversichtlichen, dass es ernst wurde. Carabinieri, Milizen, deutsche Gebirgsjäger, SS und die verschiedenen Brigaden der Partisanen: Jeder schien jeden eingekreist zu haben, es gab keine Frontlinie, niemand wusste, wo der Feind stand. Manch ein Hof wurde von den Flammenwerfern eingeäschert, und die Bereitschaft der Bauern, die Partisanen zu unterstützen, schwand weiter.
Auch Lewis war besorgt. Mehrmals sprach er von einem Pulverfass, dessen Lunte bereits brannte. Immer mehr und besser ausgerüsteten Widerstandskämpfern standen kampferprobte und militärisch geführte Einheiten der regulären deutschen Armee gegenüber. Während die einen das Warten satt hatten und endlich Taten sehen wollten, schienen die anderen entschlossen zu sein, den Widerstand mit allen Mitteln zu brechen.
„Kann sein, dass die Alliierten noch diesen Monat landen“, sagte Stefano.
Es war ein Sonntag im Mai, und seine Schulter war fast verheilt. Er weilte noch immer im ospedaletto, wie seine Krankenstation alsbald getauft worden war, lag jetzt aber nicht mehr im Bett, sondern saß am Tisch und las oder schrieb. An diesem Tag standen Ritas tönerne Teetassen darauf, und im Aschenbecher glommen zwei fast schwarze Zigarillos. An der Küste galt es als ausgemacht, dass die Befreier irgendwo zwischen Carrara und Viareggio an Land gehen würden, und man wartete täglich auf die Parole, die kurz vorher über BBC London käme: Avanti Savoia.
„Die Deutschen bereiten sich auf einen Angriff auf die Riviera vor. Sie bauen einen zweihundert Kilometer langen Wall bis an die französische Grenze. Jeder Arbeiter bekommt tausend Lire. Am Tag! Keine Kunst, wenn man die Druckerpresse nach Belieben laufen lassen kann.“ Der Engländer fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über sein Bärtchen. „Ich bin mir da gar nicht so sicher, weder was die eine noch was die andere Option angeht.“ Wie angewurzelt standen die Amerikaner unweit von Florenz. Nur wenige Kilometer und der Kamm der Apenninen trennten sie von ihnen. Niemand verstand, warum sie nicht schon längst da waren. „Die Alpen sind kein gutes Einfallstor nach Berlin. Ich fürchte, man wird uns hier in unserem Saft schmoren lassen bis zum Ende unserer Tage.“ Mit einem dünnen Lächeln nahm er die Tasse und hielt sie sich unter die Nase. Tief sog er den Duft des Tees ein. „Solange sie uns dabei anständig versorgen, will ich mich nicht beklagen.“
Pietro war unlängst bei Lewis gewesen. Die Grauen drängten auf eine groß angelegte Aktion gegen die Westseite der Apuanischen Alpen oberhalb von Massa. Zusammen mit ihnen nahestehenden Brigaden brachten sie es auf fast tausend Mann, genug, um die Bergdörfer und vielleicht sogar die Stadt selbst zu befreien. Mit etwas Glück konnte man dann später zum Meer vorstoßen und die wenigen verbliebenen Deutschen im Becken von Pisa einkesseln und sich mit den Alliierten vereinigen.
„Was sagt das Nationale Befreiungskomitee dazu?“
„Das Komitee ist weit weg und die Verbindungen sind schlecht. Es fahren kaum noch Züge, und wir haben viele Kuriere verloren.“
Stefano nickte. Er stand auf und ging im kleinen Zimmer ein paar Mal hin und her. Der Holzboden knirschte unter seinem schweren Schritt. Lange halte ich diese Untätigkeit nicht mehr aus, dachte er. Aber es war nicht nur die Schulter, die ihn in der Mühle von Villareggio festhielt wie in einem Gefängnis. Er war fest davon überzeugt, dass sie erst losschlagen konnten, wenn die Alliierten kamen. Jede verfrühte Aktion ging unweigerlich auf Kosten der Zivilbevölkerung.
„Kesselring ist ein Fuchs“, fuhr Lewis fort. „Eine halbe SS-Panzerdivision steht keine dreißig Kilometer von hier. Wenn die wollen, sind sie innerhalb eines Tages unten in Livorno. Die gehen durch unsere Linien durch wie ein heißes Messer durch ein Stück Butter. Und das weiß auch Pietro.“
„Das weiß er. Aber die Grauen denken schon weiter, sie denken an die Zeit nach dem Krieg...“
„Ja, wie die Alliierten. Die einzigen, die nicht weiter denken, sind wir. Wir und die Deutschen.“
Sie schwiegen lange. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Schließlich erhob sich auch Lewis. „Ich muss zurück.“ Fest drückten sie sich die Hand, und Stefano fragte sich, ob er den englischen Hauptmann wiedersehen würde.
Betrat man die Mühle von der Straße her, kam man direkt in das kleine Wohnzimmer, das sich genau unterhalb von Stefanos behelfsmäßigem Lazarett befand. Dort stand ein altes Grammophon, für das es nur wenige Schallplatten gab. Eine davon war das Klavierkonzert in b-Moll von Tschaikowsky. Drohte Gefahr, so war mit den Müllersleuten verabredet worden, sollte diese Platte aufgelegt werden. Dann sollte Stefano durch die Luke in der Decke seines Zimmers auf den Speicher fliehen. Gleichzeitig käme Lina oder Rita herauf, um die Spuren seines Aufenthalts möglichst schnell und vollständig zu tilgen. Erklang das Konzert bis zu seinem vom Komponisten vorgesehenen Ende, dann entwickelte sich alles zum Besseren, brach die Musik jedoch plötzlich ab, dann hatten sich die ungebetenen Gäste entschlossen, das ganze Haus zu durchsuchen.
Als an einem Vormittag die achtjährige Ginella laut schreiend durch die einzige Straße des Dorfes rannte, dass die wenigen verbliebenen Hühner gackernd auseinander stoben, ließ Luigi, der Müller, das Töpfchen mit dem Fett sinken, mit dem er gerade die Angel der Eingangstür schmierte, und wunderte sich. Er hörte das Mädchen etwas von Tod und Teufel rufen, und erst als die kleine Prozession um die Ecke bog, verstand er ihre Aufregung. Wenige Augenblicke später erklangen aus der Mühle die ersten Takte von Tschaikowskys Klavierkonzert in b-Moll.
Der „Mann mit der Maske“ war in Begleitung von zwei Dutzend Soldaten. Voraus ging die SS. Sechs Mann mit Stahlhelmen und Maschinenpistolen im Anschlag. Es folgten die Gebirgsjäger in ihren grauen Uniformen. Am Ende des Zuges und weniger geordnet kamen die Carabinieri, denen einige Schwarzhemden folgten. Der Mann in ihrer Mitte war schwarz gekleidet, trug eine weite staubige Hose und ausgebeulte Schuhe. Vor das Gesicht gepresst, hielt er eine gleichfalls schwarze Maske, die an ein Karnevalslarve erinnerte. Er war weder groß noch klein weder dick noch besonders dünn und hatte kurzes dunkles Haar. Lange starrte Luigi die seltsame Erscheinung an. Die meisten Männer die er kannte, hätten sich hinter diesem Aufzug verstecken können. Nur er selbst hatte vielleicht ein paar Kilo zuviel auf den Rippen.
Ohne ein Wort kamen sie langsam die Straße herauf. Erst jetzt fiel Luigi auf, wie still es im Dorf geworden war. Wer konnte, hatte sich versteckt. Nur einige Kinder standen mit offenem Mund am Straßenrand.
Der Mann mit der Maske hob die Hand. Er schien genau auf den Müller zu deuten, der noch immer unbeweglich in der halb offenen Tür stand. Zielstrebig kamen sie auf die Mühle zu. Ein paar Meter vor dem Eingang blieb der Maskierte stehen. Als sei dies das verabredete Zeichen, kam plötzlich Bewegung in die Gruppe. Die Feldjäger liefen über die Holzbrücke auf die Rückseite des Hauses, während zwei SS-Männer ins Haus stürmten. Die restlichen Deutschen waren ausgeschwärmt und sicherten in verschiedene Richtungen.
Der dicke Natta kam auf Luigi zu. Er kaute Tabak und spuckte vor seinen Füßen aus. „Wo ist er?“ sagte er nur. Als Luigi nicht antwortete, schlug er ihn mit dem Gewehrkolben nieder.
Später saß Stefano auf dem Mäuerchen der halbverfallenen Scheune und blickte hinunter ins Tal. Vieri war bei ihm und auch Lina, die ihm den Weg über das Dach der Mühle gezeigt hatte. Unten brannten die Häuser. Zuerst waren es einzelne gewesen. Dünne Säulen bläulichen Rauchs, die senkrecht im windstillen Nachmittag standen. Als seien es Zeichen, fremdartige Botschaften, die über immer weitere Entfernungen ausgetauscht wurden, waren dann die Antworten gekommen. Zuerst aus den umliegenden Dörfern, dann aus denen des ganzen östlichen Tals, und als die ersten Feuer heruntergebrannt waren, sich ihr Rauch unter der eigenen Last zu Boden gesenkt hatte, füllte sich das Tal, entschwand es ihren Blicken, bis sie auf ein Meer aus Rauch hinunterzusehen meinten, das sich in der sinkenden Sonne violett zu färben begann.