9. Kapitel

 

Am Tag als Piero verhaftet wurde, fuhren Maximilian und Laura ein letztes Mal zum  Meer hinunter.

Es war heiß geworden. Eine trockene Hitze, die den Himmel Tag für Tag mehr auszubleichen schien, bis nur noch ein staubiges Grau über den ausgedörrten Feldern lag. Es war, als sauge der stetige Südwind, der über die Küste strich, mit der Feuchtigkeit auch alles Leben in sich auf. Zurück blieb gelblicher Wüstensand, der zwischen den Zähnen knirschte und in den Augen brannte.

Laura war kurz in der ehemaligen Pension gewesen, war mit Wäschebündel und anderem Hausrat beladen zurückgekommen, und Maximilian hätte nicht sagen können, was in ihr vorging, ob sie an etwas anderes dachte, als an die Liste, die sie am Vormittag geschrieben hatte und nun im Auto noch einmal Posten für Posten durchging, ob sie sich um den Vater sorgte, mit dem sie nur ein paar Worte hatte wechseln können, oder ob die zerfallende Mauer um den mit Gerümpel vollgestellten Hof, die abgestorbenen Weinranken darüber in ihr etwas Ähnliches ausgelöst hatten wie in ihm.

Sosehr er sich jeden Tag über ihre Anwesenheit freute, ihr Beisammensein vielleicht mehr genoss als jemals zuvor, so deutlich führte ihm die stille und ungastlich gewordene Pension vor Augen, dass sie niemals wieder an jenem weit entfernten Punkt würden anknüpfen können, dass es gleichgültig war, ob sie sich wieder gefunden hatten oder nicht, dass sie vielleicht nur zufällig die gleichen Personen waren, so austauschbar wie immer schon, dass es nichts gab, was eine Brücke über diesen Abgrund an Zeit hätte schlagen können.

Nicht einmal Vieri, dachte er plötzlich, nicht einmal ihr Sohn.

Schweigend saßen sie im Wagen. Laura hatte ihre Liste ordentlich gefaltet und eingesteckt. Die Straße war menschenleer. Nur das Meer füllte die Stille.

Und vielleicht war es dieses Flüstern, das sie anzog, das Rauschen und Fauchen, das der Wind in die Ohren spülte, mit jedem Auffrischen zu verstärken schien, bis man einen zahnlosen Alten nuscheln zu hören meinte – eine unverständliche Sprache, die dennoch seltsam vertraut klang. Als sei die verlassene Pension nicht Enttäuschung genug, fuhren sie zum Strand.

Die Posten waren verstärkt worden. Wie Sandburgen lagen alle paar hundert Meter befestigte Stellungen in den Dünen. Auch hier war niemand zu sehen. Nur wenn der Wind eines der Tarnnetze hob, blickte man auf die schwarzen Arme der Maschinengewehre oder in den Doppellauf einer 30-Millimeter-Kanone.

Dann der Strand, weiß und endlos, eine Schneise, die von Norden kommend sich in der salzigen Gischt verlor, ein leeres Stück Niemandsland, auf dem der letzte Sturm das Treibgut zu einem schmalen bräunlichen Band zusammengeschoben hatte. Grau wie der Himmel auch das Meer, schwarz fast duckte es sich unter dem niedrigen Horizont. Die Landungsbrücke, von allem brauchbaren Material entkleidet, ragte wie das Gerippe eines Pferdes aus dem Wasser.

Auf einem mit einem Seil gesicherten Weg gingen sie vorsichtig durch die Minenfelder. Dort, wo der Sand schon feucht wurde, setzten sie sich. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Von weitem glichen sie einem einsamen Liebespaar.

„Kannst du nichts für ihn tun?“ Laura weinte lautlos in den grauen Filz seiner Uniformjacke.

Piero war auf einem seiner langen Spaziergänge in den Bergen einem Vorauskommando in die Arme gelaufen. Man verdächtigte ihn, ein Kurier der Partisanen zu sein, hatte aber nichts bei ihm gefunden.

„Er ist ein harmloser alter Mann.“

Wie oft hatte Piero sie abgeholt, hatte, die Mütze verlegen in Händen haltend, im Flur der Casa Letizia gestanden? In diesem Augenblick wusste Maximilian, dass er dieses Bild vor Augen hätte, wann immer er an ihren Vater dächte. „Das weißt du, und das weiß ich“ - sein Blick ging zur Horizontlinie, dorthin wo das Grau des Himmels sich mit dem dunkleren Grau des Meeres vermischte - „aber er ist auch Stefanos Vater.“ Der Horizont war leer. Kein Schiff war zu sehen, kein Wölkchen Rauch.

„Und ich bin seine Schwester!“

„Du bist eine Frau.“

„Ihr seid so dumm!“

Er legte seine Hand auf ihren Arm. „Sie werden ihn laufen lassen, in ein paar Tagen schon, einer Woche vielleicht...“

„Er hat nichts getan, das musst du mir glauben. Er ist nur spazieren gegangen.“

Maximilian glaubte ihr, wie er ihr immer geglaubt hatte, auch wenn er wusste, dass das wenig nutzte. Niemand ging in diesen Tagen einfach nur spazieren. Außerdem schien es den zuständigen Stellen gleichgültig zu sein, ob man den Falschen oder Richtigen erwischte, der eine war so gut wie der andere, und verdächtig war jeder. Immerhin hatte er verhindern können, dass man Piero allzu hart anfasste. Letztlich würde man ihn freilassen, davon war er überzeugt. Täglich gab es unzählige Verhaftungen, man konnte nicht die ganze Bevölkerung einsperren.

Er dachte an Kesselrings vertrauliches Rundschreiben, an die unvermeidlichen Härten, die der Zivilbevölkerung zugemutet werden müssten, und an die unbedingte Rückendeckung, die jeder, der einen solchen Übergriff zu verantworten hätte, durch das Oberkommando erfahre.

Er dachte an Engel, der, obwohl gleichen Rangs, sich vor wenigen Tagen vor ihm aufgebaut hatte, um „Ein deutscher Soldat ist kein Hühnerdieb! zu brüllen. Eine Anspielung auf Marias Auftritt Anfang des Jahres, als sie zur Ortskommandantur gekommen war, um den Diebstahl eines Huhnes anzuzeigen, und Guderjahn die ganze Garnison im Garten des Albergo Oceano hatte antreten lassen. Lauras Mutter war von einem zum anderen gegangen, hatte in die unbewegten Gesichter geschaut und plötzlich vor ihrer eigenen Courage Angst bekommen. Nein, er sei nicht dabei, hatte sie schließlich gesagt, und mehr zu sich selbst: „Die sehen doch sowieso alle gleich aus.“

Die Zeiten hatten sich geändert, das hatte ihm der SS-Offizier unmissverständlich klar gemacht. Solchen weltfremden Phantasten wie ihm sei es mit zu verdanken, dass deutsche Soldaten täglich Opfer der Banditen würden. Ab sofort liege die Verantwortung für alle Aktionen gegen die anarchokommunistische Verschwörung allein bei der SS. „Es ist vorbei mit der weichen Linie“, hatte er schließlich gebrüllt, und wer jemals wieder einen deutschen Soldaten des Hühnerdiebstahls beschuldige, den stelle er höchstpersönlich an die Wand, und es sei ihm gleich, ob das dann ein Itaker sei oder ein Deutscher. Ob er ihn verstanden habe, wollte er dann wissen, und Maximilian hatte zornbebend salutiert.

Hauptsturmführer Engel war erst wenige Wochen im Land. Seine Methoden der Partisanenbekämpfung hatte er auf dem Balkan entwickelt und vervollkommnet, und dass Maximilian den sonst eher kühlen und beherrschten Norddeutschen noch nie so wütend gesehen hatte, bestärkte ihn in der Annahme, auch er stehe unter Druck und müsse endlich Erfolge vorweisen.

Das Meer war ruhig, eine dunkle ölige Fläche, die mit einem schmatzenden Geräusch an Land schwappte, sich dann zusammenzuziehen schien, um erneut bis zu ihren Füßen hinaufzulaufen.

Vor kurzem erst waren die Alliierten in der Normandie gelandet. Den täglichen Verlautbarungen zum trotz, sie seien ins Meer zurückgeworfen worden wie einst in Dünkirchen, wusste Maximilian, dass das der Anfang vom Ende war. Ob nach der Invasion in Frankreich eine alliierte Landung in Norditalien näher oder im Gegenteil weiter in die Ferne gerückt war, darüber gingen die Meinungen von Besatzern und Einheimischen auseinander. Aber heute, an diesem Tag, wünschte sich Maximilian plötzlich den Rauch der Schlachtschiffe, die Fesselballons am Horizont aufsteigen zu sehen. Auch wenn es für ihn persönlich zweitrangig war, wo er in Gefangenschaft ginge oder fiele, er wünschte es Laura und den Menschen an der Küste, er wünschte es sich fast so sehr wie Laura selbst, wenn sie vom panzerreitenden Scott träumte.

Als deshalb nach wenigen Tagen die vereinbarte Losung über BBC London kam, schien für die Widerstandsbewegung wie für die Bevölkerung nur ein langgehegter Wunsch in Erfüllung zu gehen. Beerdigung erster Klasse und Vorwärts Savoyen hieß es an diesem Nachmittag, wobei der erste Code einen weiteren Abwurf von Waffen und Munition am Monte Picchiara ankündigte, der zweite für eine unmittelbar bevorstehende alliierte Landung zwischen Viareggio und Carrara stand.

Stefano erreichte die Nachricht auf dem Weg zum Kommando der Brigata Lunense, die im verlassenen Pfarrhaus von Vigilata untergebracht war. Das Dorf lag im Rücken der Apuanischen Alpen, jenseits der Marmorsteinbrüche, und war nur über einen schmalen Weg zugänglich, das sich tief in den felsigen Kamm schnitt. Ein Meldegänger kam ihm rennend entgegen, schrie, jede Vorsicht außer Acht lassend: „Die Amerikaner sind da!“, und Stefano sah zuerst Vieri an, dann die beiden anderen Männer, die sie begleiteten. Sie fielen einander in die Arme, ungläubig noch, aber grenzenlos erleichtert. Doch als sie ins Dorf kamen und erfuhren, dass kein einziger alliierter Soldat, nicht einmal ein Schiff oder ein Flugzeug gesichtet worden sei, machte sich Ernüchterung breit.

Pietro und Falco standen über eine Karte gebeugt, sie sahen kaum auf, als Stefano den Raum betrat. Hayden und einer der Monarchisten, Pitti, wenn sich Stefano richtig erinnerte, war bei ihnen.

„Es geht los, Simon!“ Pietro war um den Tisch herumgegangen, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen. „Endlich!“ Er nahm seinen Arm und führte ihn zur Karte. „Unsere Einheiten stoßen von Nordosten an der Marmorbahn entlang bis Monte Sant’Angelo vor...“

„Dort sind Hunderte von Flüchtlingen“, wandte Stefano ein.

„Eben.“ Seine Hand wanderte über die Karte und beschrieb einen weiten Bogen. „Ganz nebenbei befreien wir die ganzen Bergarbeiterdörfer. Major Hayden und Pitti kommen von Süden“ - er nickte den beiden Männern zu - „so nehmen wir Massa in die Zange. Die 28. und 29. Matteotti bleiben hier“ - er tippte auf eine Stelle im Landesinnern - „und halten uns den Rücken frei.“

„Was ist mit Lewis?“

Pietro hob die Schultern. „Lewis ist zu weit weg. Er soll versuchen, sich oberhalb von La Spezia einzunisten, um den deutschen Rückzug zu stören.“

Stefano betrachtete schweigend die Karte.

„Was hältst du von unserem Plan?“

„Wenn die Amerikaner nicht kommen, sitzen wir in der Falle.“ Langsam schüttelte er den Kopf. „Dann können wir nur noch senkrecht den Berg hoch.“

Falco schlug auf den Tisch, dass der Aschenbecher hochsprang. Er fluchte laut und anhaltend in seinem für Simon unverständlichen Dialekt. „Immer findet ihr einen guten Grund, nichts zu tun.“ Sein Bart war gewachsen und ließ seine dunklen Augen noch finsterer erscheinen. „Ihr habt eine große Klappe“ - er pochte auf die Karte - „aber es ist nur die Tat, die zählt.“ Leiser fügte er hinzu: „Nur an ihr wird man euch eines Tages messen.“

Lewis hat Recht, durchfuhr es Stefano. Sie alle denken weiter. Nur wir leben von heute auf morgen, versuchen uns, von einem Tag zum anderen zu retten. Ruhig sagte er: „Es ist gar nicht so lange her, da waren wir es, die euch Untätigkeit vorgeworfen haben.“ Und dann lächelnd: „So ändern sich die Zeiten.“

„Ja, Simon, man muss wissen, wann es Zeit ist.“

Schweigend maßen sie sich mit Blicken. Dann sagte Pitti: „Wir haben uns zusammengerauft, und jetzt marschieren wir auch gemeinsam.“

„Wenn ihr eine Aufgabe für mich habt, werde ich sie übernehmen“, antwortete Stefano. Dann nickte er in die Runde, drehte sich um und ging hinaus.

Die Partisanen wurden wie Befreier gefeiert. In den Dörfern wurde gesungen und getanzt, als sei der Krieg schon zu Ende. Doch die Amerikaner landeten nicht. Sie landeten nicht am nächsten Tag und auch nicht am Tag danach. Stattdessen kamen am Morgen des dritten Tages die Deutschen.

Der Kampf dauerte bis zum Abend. Als am nächsten Morgen die gefangenen Widerstandskämpfer am Flussufer erschossen wurden, floss rotgefärbtes Wasser den Berg hinunter und ins Meer hinaus.

Unterstützt von einer Abteilung alpini kam die X. MAS Flottille über dem Berg und schnitt ihnen den Rückweg ab. Die Männer von der 28.und 29. Matteotti hatten ihnen wenig entgegenzusetzen. Starke Verbände der SS stießen unter schweren Verlusten von Massa her auf Monte Sant’Angelo vor und zwangen Hayden sich östlich in Richtung Altissimo zurückzuziehen. Um die Straße zum Dorf wurde erbittert gekämpft. Pitti fiel in den ersten Stunden. Ein Teil der Lunense konnte sich über die westlichen Bergdörfer absetzen, der Rest wurde rund um Monte Sant’Angelo eingeschlossen. Stefano und Vieri, die mit ihren Männern einen Felsüberhang vermint und gesprengt hatten und so die Zugangsstraße für mehrere Stunden blockierten, retteten sich auf die Berge. Als die letzten Patronen verschossen waren, ergaben sich die Überlebenden.

Zwei Tage später kam eine Ordonnanz in Maximilians Büro in Monteforte.

Der SS-Mann überbrachte ihm die Nachricht, Hauptsturmführer Engel wünsche sein sofortiges erscheinen.

Der Soldat wartete unbewegten Gesichts, bis Maximilian sich fertig gemacht hatte. In Begleitung einer Eskorte fuhren sie aus dem Städtchen hinaus. Zuerst ging es in südliche Richtung, dann bogen die Wagen in eine schmale Straße, die bergan führte. Obwohl Maximilian sicher war, sie schon einmal gefahren zu sein, brauchte er lange, bis die Erinnerung zurückkam.

„Wohin fahren wir?“ Der Fahrtwind pfiff in ihren Helmen, und der Mann neben ihm schwieg. Vielleicht hatte er ihn nicht gehört. So wiederholte Maximilian seine Frage: „Wohin fahren wir, Soldat?“

Der SS-Mann sah ihn kurz an. Schließlich sagte er: „Ich bin nicht befugt, Ihnen weitere Informationen zu geben.“

Sie fuhren zu den Marmorsteinbrüchen hinauf. In den Dörfern, durch die sie kamen, hingen großformatige braune Plakate, auf denen ein breit lächelnder Landser seine Hand ausstreckte. Deutschland ist dein Freund, stand darauf zu lesen. Es war die gleiche Straße, die er im Pferdewagen zurückgelegt hatte, als sie an jenem Sonntag zur Cava della Carbonera gefahren waren, um den Großen Monolithen zu bestaunen. An jenem Sonntag, als ihm Laura aus der Hand gelesen und er seinen Arm zum ersten Mal um ihre Schultern gelegt hatte. Wie überzeugend hatte sie ihm klargemacht, dass ihre Liebe keine Zukunft hätte!

Für einen Moment wünschte er sich, er hätte auf sie gehört, auf sie und auf die Vernunft. Aber da war jener Steinblock gewesen, jenes Wunder an Vollkommenheit, das am Eingang der Cava lag, weiß und makellos, strahlend  wie ein Traum, wie ein Versprechen, das nur darauf zu warten schien, ausgesprochen zu werden, gefüllt zu werden mit einer beliebigen Sehnsucht. Und gottgleich, wie nur etwas Absolutes sein kann, würde er erfüllen, was man sich wünschte, so schien es. Alles war möglich, es gab keine Grenzen, keine Zukunft, die nicht hätte gedacht werden können.

Wie anders fühlte er sich heute! Maximilian dachte an den hastigen Aufbruch in der Casa Letizia zurück, an das Gedicht, das er Laura noch schnell auf den Küchentisch gelegt hatte. Wie ein Abschiedsbrief, dachte er. Er hatte es in der Nacht geschrieben.

 

Deine Augen

 

Kommen wird der Tag, fiebrig,

befeuert von zahllosen Versprechen,

wird gierig mich umarmen,

wird meinen Namen tragen

und meine Augen haben.

 

Kommen wird die Nacht, zögernd,

licht und warm wie endlos lange Tage,

wird seufzend sich erbarmen,

wird deinen Namen tragen

und deine Augen haben.

 

Kommen wird der Tod, morgen,

gefangen in sprachlos stillem Stolz,

wird müde mich umsorgen,

wird meinen Namen tragen

und deine Augen haben.

 

Unten auf dem Platz, dort wo sich die Menschen aufgeregt gedrängt hatten an jenem Tag, standen Lastwagen. Ein Nachzügler rumpelte den steilen Abhang vom Steinbruch herunter und stellte sich dazu. Sein Motor erstarb mit einem Seufzer. Eine letzte Wolke Ruß quoll aus dem Auspuff und wurde vom Talwind davongetragen. Überall standen Soldaten, Wagen und Motorräder, doch es war seltsam still.

Maximilians Fahrer hatte gewartet, bis der Lastwagen den Weg freigemacht hatte, und fuhr dann selbst die in der Abraumhalde kaum sichtbare Spur hinauf.

Am Eingang zum Steinbruch standen einige schwerbewaffnete SS-Männer. Der Wagen hielt neben der alten Holzbaracke, und sie stiegen aus.

„Folgen Sie mir, bitte.“ Sein Begleiter schien plötzlich höflich und bemüht. Mit einer Hand wies er ihm den Weg.

Gleich hinter dem Eingang überquerten sie eine weite steinerne Fläche. Dort, wo das Wasser zu hoch stand, überbrückten morsche Holzstege die grünschwarzen Pfützen. Schon lange war hier nicht mehr gearbeitet worden. Überall verrostete Eisen, faulten Seile und Holzscheite vor sich hin. Noch stand die Sonne am Himmel, doch je weiter sie in den Berg drangen, die Steinwände in die Höhe wuchsen und näher rückten, umso blasser schien sie zu werden. Maximilian fröstelte. Dann öffnete sich der Boden, und ein tiefer Krater tat sich vor ihnen auf. Dort, tief unter ihnen, war es dunkel. Die Marmorwände um sie herum, waren weiß und glatt und senkrecht. Nur das quadratische Muster der ausgeschnittenen Blöcke und die grünbraunen Spuren der Moose waren darauf zu sehen. Überall klafften schwarze Löcher, öffneten sich Stollen und Höhlen im Berg. Es roch muffig und feucht.

Dann hallte die lange Salve eines Maschinengewehrs durch den steinernen Dom, zersprang an den Wänden, um tausendfach zurückgeworfen zu werden, sich explosionsartig aufzuschaukeln und genauso plötzlich in sich zusammenzufallen, als hätten die Töne sich gegenseitig ausgelöscht. Am Abgrund vorbei gingen sie nach rechts zu einem kleinen Platz. Hier liefen Soldaten hin und her. Sie holten Menschen in kleinen Gruppen aus einer Höhle und führten sie in einen Stollen.

Maximilians Herz hämmerte in seiner Brust, als er schließlich Hauptmann Engel gegenüberstand. „Was geht hier vor?“

„Das ist zwar nicht das Jüngste Gericht, aber doch etwas Ähnliches. Wir üben Vergeltung.“ Er lächelte aus dünnen Lippen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Auch Engel schien angespannt. Die Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Er unterbrach sich, um sich umzudrehen und einen Befehl zu brüllen. „Wir sind die Götter des Alten Testaments, und das ist die Gerechtigkeit des Blutes.“

Wie betäubt stand Maximilian vor ihm. Er spürte ein Kribbeln oben auf der Stirn, dort, wo der Haaransatz war, ein Kribbeln, das über die Kopfhaut lief und sich wie ein kaltes Netz auf seinen Schädel legte. Der Boden unter ihm schien zu schwanken, und er wünschte sich, tatsächlich zu fallen, wünschte sich die Dunkelheit herbei, die ihn in diesem Fallen umfinge. Stattdessen starrte er in die wasserblauen Augen des Hauptmanns. Hilflos sagte er: „Das sind Frauen, Kinder...“

Engel sah zur nächsten Gruppe hinüber, die in gespenstischer Stille in den Stollen ging. „Ich weiß.“ Er schlug sich ein paar Mal mit seinem Stöckchen in die behandschuhte Hand. „Es ist Krieg, von Kampen, Krieg!“ Dann lauter: „Jeden Tag sterben Tausende deutscher Frauen und Kinder im Bombenhagel. Sie verbrennen bei lebendigem Leib in den Trümmern unserer Städte. Wann waren Sie das letzte Mal in der Heimat, von Kampen?“ Er hatte begonnen auf und ab zu gehen. Das Knallen seiner Absätze wurde von den Wänden zurückgeworfen. „Es ist keine Zeit für Gefühlsduselei. Wenn wir nicht mit aller Härte durchgreifen, dann ist diese Front nicht mehr zu halten. Das wissen Sie so gut wie ich. Ich tue nur meine Pflicht, und ich empfehle Ihnen dringend, es mir endlich gleichzutun.“ Mit dem Stöckchen zeigte er zur Höhle. „Im Übrigen sind das keine Zivilisten. Die meisten sind rechtmäßig verurteilte Verbrecher. Banditen, Attentäter, Subversive, die wir aus den Gefängnissen geholt haben und...“

Das Krachen einer neuerlichen Salve übertönte seine letzten Worte, erhob sich unerträglich laut wie ein Schwarm schreiender Vögel und stob davon. Fast genauso laut, so schien es Maximilian, hämmerte sein Herz. Plötzlich war ihm Piero eingefallen, Lauras Vater, der aus nichtigem Anlass im Gefängnis saß und dessen Freilassung er der Tochter versprochen hatte. „Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich mir Ihre Verbrecher einmal näher anschaue.“ Seine Stimme klang rau.

„Aber gewiss nicht, mein lieber von Kampen“, Engel zog das Leder seiner Handschuhe über den Fingern stramm. „Just aus diesem Grund habe ich Sie holen lassen.“ Er gab zwei Männern ein Zeichen, sie zu begleiten.

Sie betraten die Höhle und blieben stehen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Es war keine natürliche Höhle, sondern ein langer, rechteckiger Raum, dessen Entstehen auf eine große Marmorader zurückgehen mochte, die man waagrecht aus dem Berg geschnitten hatte. Auch hier waren die Wände glatt, glänzte die Feuchtigkeit auf ihnen im matten Licht, das durch den breiten Eingang fiel. So glich die Höhle eher einer Kirche als einer steinernen Grotte, und daran fühlte sich Maximilian erinnert, als er in die Kälte trat.

Der Raum war voll Menschen. So weit er sehen konnte, bis an jene Stelle, wo das Licht nicht mehr reichte und die Dunkelheit begann, standen sie einzeln und in kleinen Gruppen. Es mussten Hunderte sein. Es roch nach Kohl und ungewaschener Kleidung, der Geruch von Armut und Angst. Von der Decke fielen in unregelmäßigen Abständen dicke schwarze Tropfen.

Die Luft war erfüllt von einem steten Murmeln, und Maximilian brauchte lange, um zu verstehen, dass sie beteten.

Piero dagegen erkannte er sofort. Er stand etwas abseits, stand fast genauso, wie er ihn in Erinnerung hatte, nur dass er seine Mütze auf dem Kopf trug und die Hände unter den Achseln zu wärmen versuchte. Er schien müde.

Maximilian rief seinen Namen, ging auf ihn zu, und Engel ließ seine Männer innehalten, die dazwischengehen wollten. Piero nahm seine Mütze ab und begrüßte ihn. Er schien ruhig und gefasst.

„Sie kennen den Mann?“

„Er ist der Vater meiner Haushälterin. Er ist unschuldig.“

„Soso.“ Engel hob die Augenbrauen, dann sah er zu seinem Adjutanten.

„Er ist ein Partisan. Wir haben ihn bei Kurierdiensten geschnappt.“

„Unschuldig, soso“, wiederholte Engel, und Maximilian beeilte sich zu beteuern, es sei ein Missverständnis, er kenne Piero schon lange persönlich und sei bereit, sich für ihn zu verbürgen. Engel ließ ihn reden, schien aber ungeduldiger zu werden, je länger es dauerte. Schließlich schlug er sich hart mit dem Stock in die offene Hand. „Es reicht, von Kampen, es reicht! Merken Sie denn nicht, dass Sie sich um Kopf und Kragen reden?“ Ruhiger fuhr er fort: „Es gibt Stimmen, die Ihre Bemühungen um Verständigung mit der Zivilbevölkerung für überzogen halten. Böse Zungen behaupten sogar, Ihre Beziehungen zum Feind, seien sehr persönlicher, ja“ - er hüstelte - „geradezu intimer Art.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe mich immer geweigert, dies zu glauben. Allerdings beginne ich jetzt, nachdenklich zu werden, sehr nachdenklich...“

„Er ist unschuldig...“

„Er ist nicht unschuldig, er ist tot! Haben Sie das endlich verstanden?“ brüllte Engel.

„Lassen Sie es gut sein, signor maggiore“, sagte Piero auf Italienisch.

„Und du hältst das Maul!“ schrie der SS-Offizier, nahm seine Pistole aus dem Halfter und zog sie ihm mit einer schnellen Bewegung über den Kopf. Piero sackte auf die Knie. Ein dünnes Rinnsal Blut bildete sich hinter seinem Ohr.

Mit einem Schritt war Engel hinter dem auf dem Boden Knienden, entsicherte seine Pistole und setzte sie ihm auf dem Hinterkopf. Er schien schon abdrücken zu wollen, als er sich besann. Langsam drehte er sich um. „Ich habe eine bessere Idee.“ Engel reichte Maximilian die Waffe. „Tun Sie es.“

Verständnislos starrte Maximilian ihn an. Er fühlte sich unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen.

„Erschießen sie ihn!“

Lange schwieg er, schließlich brachte er mit tonloser Stimme heraus: „Das können Sie nicht von mir verlangen...“

„Heute kann ich alles verlangen. Zeigen Sie mir, auf welcher Seite sie stehen. Drücken Sie ab!“

Maximilian starrte auf die Waffe. Schwer und kalt lag sie in seiner Hand. Angestrengt sah er auf das schwarze Stück Metall, als gelänge ihm nicht, zu durchschauen, wie und wozu man es benutzte.

„Das ist ein Befehl!“

Und während Engel weiterschrie, ihn anfeuerte und ihm drohte, hob sich langsam der Lauf, fast ohne sein Zutun zeigte er schließlich auf Pieros Hinterkopf. Dann ließ er ihn wieder sinken. „Ich kann nicht...“

„Schießen Sie!“ Engel schien außer sich. Er riss seinem Adjutanten die Pistole aus dem Halfter und drückte die Mündung Maximilian in den Nacken. „Schießen Sie! Oder ich werde abdrücken. Das schwöre ich Ihnen bei Gott!“ Leiser, wie zu sich selbst, fügte er hinzu: „Denn so spricht der Herr. Heute ist der Tag der Vergeltung, und es zählt nicht die Farbe des Blutes, das vergossen wird, solange es nur in Strömen fließt. – Hören Sie mich, von Kampen? Es ist mein gottverdammter Ernst.“

Und Maximilian stand da, spürte die Kälte des Laufs, das sich in seinen Nacken bohrte, spürte die schweren Tropfen, die von der unsichtbaren Decke fielen, auf ihn fielen und auf die Gebete der Menschen.