7. Kapitel

 

Es klang wie ein Lied, ein heiserer Chor, der Schrei des capolizza, der sich in den Bergen verlor, das Echo, das sich in den Felsen brach und wie aus vielen Mündern zurückzukehren schien. Und in dieses Brausen hinein antworteten seine Männer. Sie brüllten hinauf zum molator, und der Stein fiel schwer in die zum Zerreißen gespannten Seile. Er sackte nicht mehr als eine Handbreit, und doch schien er sich jedes Mal von jedem Halt befreit zu haben, um unaufhaltsam in die Menschenmenge hinunterzustürzen, die das Schauspiel atemlos verfolgte. Und so mischten sich die Ohs und Ahs der Zuschauer in den Singsang der Männer.

Aléé, Gigi, ihr schafft es!“ rief jemand aus einer kleinen Gruppe, die gleich neben den Carabinieri bei der Absperrung stand. Und während die Rufe hinauf- und herunterschallten, mahnten jene zischend zur Ruhe, die fürchteten, der molator oben auf dem Plateau könne sich im Durcheinander der Schreie nicht mehr zurechtfinden und das Seil im falschen Augenblick lockern oder zu spät wieder anziehen.

„Ich kann nicht hinsehen.“ Die Frau, die neben Maximilian stand, griff nach dessen Arm. Der Wind blies ihr dünnes rotes Kleid auf und ließ sie unförmig erscheinen. „Was muss er sich beweisen, mein Gigi.“ Sie schüttelte den Kopf, und ihre schwarze Perücke verrutschte ein Stück. „Das nächste Jahr tue ich mir das nicht mehr an.“

Ob man vorhabe, die Vorführung zu wiederholen, fragte Matteo, der näher getreten war.

„Was glauben Sie denn?“ Ihr Blick ging zum Himmel. „Man nennt es Revival“. Sie sprach das Wort italienisch aus, und Maximilian benötigte eine kurze Spanne Zeit, um es zu verstehen. „Alles für die Touristen. Natürlich.“ Sie seufzte, und ihr Blick ging noch einmal oben. „Wenn es nur nicht regnet!“

Die carica bestand aus drei Blöcken, die von Tauen zusammengehalten wurden, zusammen fünfzehn oder zwanzig Tonnen schwer, ein seltsames, weißgraues Bündel, das an ein von Kinderhand gezeichnetes Fahrzeug erinnert hätte, ein eckiges Auto, eine unförmige Lokomotive, wären die dicken Drahtseile nicht gewesen, die es hielten und deren Singen den Chor der Männer begleitete, die Luft durchschnitt, wenn sie sich spannten.

Mit seiner gesunden Hand zeigte Matteo hinauf. I cavi, die Drahtseile. Es kann nichts passieren.” Für die Touristen wollte man kein Risiko eingehen.

Die Frau schüttelte den Kopf. Sie murmelte: „Was wisst ihr schon.“

Der Berg war kahl, rötlich die von Felsen durchzogene Erde. Überall lag loses Geröll. Wenige vertrocknete Sträucher und Gräser hielten sich in den Spalten und an einigen geschützten Stellen. Nur die via di lizza, jene fast senkrechte Verbindung zwischen Bergwerk und Tal, war geräumt, schien so blank gescheuert, als wäre an dieser Stelle noch Stunden zuvor ein reißender Bergbach hinabgestürzt.

Sechs Männer waren zu sehen. Dazu kam der unsichtbare molator, der hoch über ihnen an den Drahtseilen arbeitete. Drei standen hinter der Ladung, nahmen die parati auf, jene Rundhölzer, auf denen die Blöcke langsam zu Tal glitten, und warfen sie nach vorne dem ungino zu, dem Einfetter. Dieser betastete sie, schmierte bei Bedarf weitere Seife darauf, und reichte sie Gigi, dem capolizza. Ein paar Meter talwärts begutachtete sein Stellvertreter die Strecke, entfernte den einen oder anderen Ast oder lockerte mit seinem genagelten Schuh das Erdreich, um einen vorspringenden Stein aus dem Boden zu lösen.

Vor dem Marmorblock stand nur der capolizza selbst, ein kleines Männchen, wie es von unten schien, und als er sich bückte, um eines der glitschigen Rotbuchen- oder Eichenhölzer unter den Stein zu schieben, die Stelle sorgfältig zu prüfen, an der es eingeführt werden musste, stützte er sich mit einer Hand gegen den Block, der riesig und schwer über ihm hing, und in diesem Augenblick waren es nicht mehr die armdicken Stahlseile, die den Stein hielten, sondern er selbst, eine unscheinbare, gekrümmte Gestalt, die alle Kraft der Welt aufbrachte. Doch dann wich er zurück, ein Schrei erklang, und der Block sackte ein weiteres Stück zu Tal.

Als Gigi fiel, den halben Hang hinunterrutschte und dann wie tot liegen blieb, dachten alle zuerst an einen Unfall. Die Frau neben Maximilian schrie auf und rannte nach vorne zur Absperrung.

Man brachte ihn herunter, ein Sanitäter, ein bereitstehender Arzt liefen herbei, und die Menschen traten näher, bildeten einen undurchdringlichen Ring um das Geschehen. Nach einer Weile zog Matteo Maximilian mit sich. An den Essen- und Getränkeständen war jetzt weniger Andrang, und sie bestellten Wein, einen streng riechenden, fast harzig schmeckenden Weißen, der candia hieß und den Maximilian nicht kannte. Wortlos tranken sie die ersten Schlucke.

Auf dem Platz begann sich die Menge zu zerstreuen. Die ersten Motorroller wurden gestartet und knatterten an den Souvenirständen vorbei die schmale Straße hinunter ins Tal. Der Himmel war dunkel, fast schwarz. Bald würde es regnen.

Maximilian sah zum Bergwerk hinauf. Gigis Männer saßen auf einem Vorsprung und rauchten. Verlassen hing der Block auf halbem Wege in den stählernen Seilen. Ohne die arbeitenden Männer wirkte er noch bedrohlicher als zuvor. Es war ihre Anstrengung gewesen, die ihn gezähmt hatte, es waren ihre Hände gewesen, die sich an ihm festgehalten und dabei den Anschein erweckt hatten, sie hielten nicht sich, sondern ihn – seien tatsächlich in der Lage, seinem Gewicht zu trotzen. So mussten die Drahtseile, die ihn nur mühsam zu bändigen schienen, jetzt unweigerlich reißen, zerspringen wie vormals die kunstvoll gedrehten und gefetteten Hanftaue. Und er wirkte fremd. So eckig und glatt schien er niemals Teil des Berges gewesen zu sein.

Maximilians Blick wanderte weiter zum Dorf, zu den Häusern aus dem gleichen grauweißen Stein, die sich in den gegenüberliegenden Hang drängten, hinauf bis zum Gipfel. Er suchte eine Stelle dazwischen, jene Stelle, wo er Laura zum ersten Mal berührt hatte, umarmt hatte. Er dachte an den Wind, an ihr offenes Haar auf seinem Gesicht, an die Steinchen, die sie hinuntergeworfen hatten, an ihr rundes Knie in seiner Hand. Hatten sie sich geküsst? Er wusste es nicht mehr und erschrak.

„Wie geht es deinem Sohn?“ Böig riss der Wind an den nur notdürftig befestigten Plastikplanen der Bude. Staub wurde aufgewirbelt und trieb über den sich leerenden Platz. Matteo sah auf seine Hände, die den Plastikbecher mit dem Wein festhielten.

Wieder ging Maximilians Blick zum Hang hinauf auf der Suche nach jener Stelle. „Es war hier... Irgendwo da oben habe ich Laura zum ersten Mal geküsst. Vielleicht habe ich sie gar nicht geküsst, vielleicht habe ich es mir nur so sehr gewünscht, dass es keine Rolle spielt, ob es passiert ist. Ich weiß es nicht.“ Er starrte immer noch hinauf, blickte aber ins Leere. „Vieri ist unser einziger Sohn.“ Erneut lächelte er. „Wir wollten zwölf Kinder haben. Stell dir vor, zwölf!“ Er wurde wieder ernst. „Und, obwohl ich ihn verloren habe und wieder gefunden und wieder verloren und wieder gefunden...“ Er stockte. „Wenn er tot ist“ – er hob eine Hand und ließ sie wieder sinken – "dann wird auch alles andere zu Ende sein.“ Matteo blickte auf und Maximilian fuhr fort. „Laura hat einmal gesagt – es ist mehr als dreißig Jahre her –, so schön unsere Liebe sei, sie sei nur ein Spiel, nicht mehr als ein schönes Spiel. Unser Sohn sei das eigentlich Wichtige. Er sei das, worauf es ankäme.“ Er sprach langsam und hatte die Stirn in Falten gelegt. „Es ist seltsam, aber erst heute verstehe ich, was sie gemeint hat.“ Er sah den Freund an. „Vielleicht muss man erst seine Kinder sterben sehen, um es zu verstehen.“

„Er ist nicht tot.“

„Nein, er ist nicht tot.“

Ein Krankenwagen überquerte den Platz. Als er auf die Straße bog, die hinunter ins Tal führte, wurde die Sirene eingeschaltet. Lange war ihr leiser werdendes Heulen zu hören.

„Vieri nimmt unser aller Schuld auf sich“, sagte Maximilian schließlich. Er wiegte den Kopf und brachte ein halbes Lächeln zustande. „Es ist sehr lange her, dass das jemand versucht hat.“ Irgendwann fügte er hinzu: "Und wir sind alle schuldig. Ich, Laura, Lauras Brüder Vieri und Stefano..."

"Was hat Stefano damit zu tun?"

„Erinnerst du dich an jenen Abend, als der Stein durch das Fenster der Pension geworfen wurde? An dieses falsch geschriebene Wort – tradittore!, Verrätter! – das auf dem Zettel stand? Es war so lächerlich falsch geschrieben, dass es einfach falsch sein musste. Ein Buchstabe zu viel oder zu wenig, und schon verschwindet alles, was hinter einem Wort stehen könnte. Es bleiben nichts als Zeichen übrig, wirr aneinander gesetzte Zeichen, die zum Lachen reizen. Keinen Gedanken haben wir daran verschwendet, dass es wahr sein könnte. Dass Stefano ein Spitzel der Faschisten war.“ Maximilian schüttelte den Kopf. „Oder lag es an Stefano, dass man ihm das nie zugetraut hätte?“

„Ich kann es auch heute nicht glauben.“

Maximilian nickte. „So ging es auch mir, als Vieri es mir erzählte.“

Erste schwere Regentropfen klatschten auf das Papier, mit dem die behelfsmäßige Theke ausgelegt war. Matteo zog die Schirmmütze tiefer in die Stirn.

„Und doch stimmt es. Bei seinen Nachforschungen über seinen Namensgeber, den Fliegerhelden, hat Vieri etwas gefunden und Stefano zur Rede gestellt. Etwas, was so eindeutig war, dass er sich nicht herausreden konnte. Und vielleicht wollte er es gar nicht. Denn er hat ihm alles gesagt.“

Es hatte heftiger zu regnen begonnen. Sie zogen sich in den Schutz des Budendaches zurück. Eine Lautsprecherstimme erklärte die Veranstaltung aufgrund der widrigen Wetterbedingungen für beendet. Dem Kollegen Luigi Lattanzi, dem capolizza, ginge es besser. Er habe einen Herzanfall erlitten und sei nach Carrara ins Krankenhaus gebracht worden.

Während Matteo in den Regen starrte, der hoch in den Pfützen aufspritzte, erzählte ihm Maximilian Stefanos Geschichte. Als er geendet hatte, schwiegen sie lange. Schließlich fragte Matteo: „Und der Krieg, die Partisanen...? Ich verstehe das alles nicht. Hat er auch während des Krieges als Spitzel für die Faschisten gearbeitet, für die Nazis?“

„Nein. Nachdem er aus Frankreich zurückkam, war alles vorbei. Das war die Abmachung. Sie haben ihn in Ruhe gelassen, und er ist den alten Genossen aus dem Weg gegangen. So blieb es fast fünfzehn Jahre. Bis 1943.“ Maximilian leerte seinen Becher und zerknüllte ihn. „Erst nach dem Waffenstillstand und dem Chaos, das dem achten September folgte, hat er den Kontakt zu den Widerstandsgruppen wieder aufgenommen. Die Faschisten hatten sich zerstreut, waren kopflos, wir Deutschen hatten das Kommando. Ich glaube, er war sich sicher, dass die alten Geschichten vergessen waren, von den einen wie von den anderen vergessen.“ Es donnerte. Dumpf rollte das Echo durch das Tal. „Und er wollte alles besser machen. Er wollte allen beweisen, dass er ein guter, ein unbestechlicher politischer Führer war. Vielleicht wollte er es vor allem sich selbst beweisen.“

„Er war ein Kriegsheld. Er hätte es in der Politik zu etwas bringen können, vielleicht sogar zum Staatspräsidenten.“

„Ja!“ Maximilians leises Auflachen ging in ein Husten über. „Und doch hat ihn die Vergangenheit schließlich eingeholt.“ Er berichtete von der abenteuerlichen Fahrt nach Rom, die Stefano kurz nach dem Krieg mit seinem Neffen Vieri unternommen hatte. Conti hatte ihn gerufen. Die ehemaligen Kampfgefährten hatten einflussreiche Posten inne, waren hohe Regierungsbeamte geworden, Abgeordnete, Senatoren. In allen Parteien saßen sie an den Schaltstellen. Und doch suchten sie hängeringend nach jemanden wie Stefano.

Matteo nickte. „Ja. Du hast es nicht erlebt. Die Revolution schien vor der Tür zu stehen. Überall Streiks, keine Woche in der nicht ein paar Arbeiter von der Polizei erschossen wurden. Es gab jede Menge junge Heißsporne, aber wenig gestandene Männer, die mäßigend hätten einwirken können.“

Maximilian fuhr fort: „Stefano und Vieri wohnten bei Conti. Die Stadt war voller Flüchtlinge. Nur langsam kam das normale Leben wieder in Gang. Sie hatten die ersten Gespräche mit den Sozialisten geführt, mit den Kommunisten, sie waren noch keine Woche in Rom, als Conti eines Abends zurückkam und ihm die Akte gab. ‚Du bist erledigt.’ Das war alles, was er sagte. Vieri war gerade nicht da. Er hat von diesem Gespräch erst Jahre später erfahren. Stefano nahm die Akte. Schon nach wenigen Zeilen wusste er, was darin stand. Als er Conti zum Abschied umarmte, hatte er Tränen in den Augen. Conti hat keine Erklärung verlangt, kein Wort. Am nächsten Morgen ist Stefano mit Vieri aufgebrochen, um nach Portoclemente zurückzukehren.“

Der Regen war schwächer geworden. Von der Küste her klarte der Himmel auf.

„Stefano ist daran zerbrochen.“

In die letzten Regentropfen hinein gingen sie über den leeren Platz zum Auto zurück. Verlassen und drohend schwebte der Marmorblock in der Bergwand. Außer der Besatzung eines Streifenwagens und einem einsamen Bergarbeiter, der, in gelbes Ölzeug gehüllt, die Spannvorrichtung der Drahtseile bewachte, war niemand zu sehen.

Schweigend fuhren sie hinunter zu Matteos Werkstatt. Schon nach wenigen Kilometern brach die Sonne durch die dünner werdenden Wolken. Schnell wurde es heiß. Schwarz und dampfend lag die Straße vor ihnen.

Später standen sie gemeinsam vor Maximilians erstem Werk. Es war ein Kopf, eine Büste. Auch wenn die Darstellung nicht wirklich gegenständlich war, so waren doch die Gesichtszüge eines Mannes zu erkennen.

Matteos Hände strichen über den weißen Stein. „Er gefällt mir.“ Mit Daumen und Zeigefinger fuhr er über die kantige Nase, die Augenhöhlen, die Wülste, die sich dort aufwölbten, wo der Mund hätte sein können. „Du hast Talent. Es ist wirklich gut.“

„Lob dich nur selbst. Du weißt, dass es nur dein Verdienst ist. Ich habe nicht viel mehr als den Meißel gehalten.“

Matteo hob die Hände. „Da tust du dir aber Unrecht! Ich habe dir den einen oder anderen Tipp gegeben, mehr nicht.“

Maximilian ging einmal um den Kopf herum. Dann nahm er die verblichene Fotografie in die Hand. „Ich hoffe, es gefällt ihr, auch wenn die Ähnlichkeit nicht eben groß ist.“ Er wollte die Büste Laura zum Geburtstag schenken. Sie war ihrem toten Bruder Vieri nachgebildet.

Stefano starb an einem Dienstag im Juni. Obwohl die Sonne an diesem Tag so hoch stand, dass ihr gleißendes Licht die Haut zu verbrennen schien, wenn es durch die klare Luft wie durch eine vollständige Leere fiel, der Leere des Weltalls nicht unähnlich, obwohl es sehr warm, fast heiß war, ließ das Meer die frühen Badenden frösteln. Sein grünes Wasser erinnerte an die langen Regen des Frühjahrs, die schaumigen Kronen der Wellen an den Schnee, der im Winter die Gipfel der Apenninen überzogen hatte und mit den Geröllhalden der Bergwerke zu einer bizarren winterlichen Landschaft verschmolzen war. Und doch, trotz dieser Eiseskälte - die einem den Atem nahm, wollte man es den wenigen Deutschen gleichtun und sich ins tiefere Wasser wagen, die das Herz aussetzen ließ und die Haut betäubte, um dann später zu brennen wie Feuer - war man sich später weithin einig, dass es nicht das Wasser selbst gewesen war, das Stefano umgebracht hatte.

Man sah im tragischen Tod seines einzigen Neffen, eines Neffen, dem er zudem lange Jahre fast ein Vater gewesen war, den entscheidenden Auslöser. Nicht den Grund, nein, das nicht. Hätte man einen Grund gesucht, wäre man unweigerlich zu jenem ersten Nachkriegsjahr zurückgekehrt, zu jener seltsamen Reise nach Rom, die ihn verändert hatte, so ausgewechselt hatte, als wäre ein anderer an seiner Statt aus der Hauptstadt zurückgekommen. Auch der Niedergang der Pension konnte eine Rolle gespielt haben, ihr erst kürzlich erfolgter Verkauf an eine mailändische Hotelgruppe, dem er sich in seltener Eintracht mit der ganzen Familie bis zuletzt widersetzt hatte.

An diesem Mittsommertag war er am späten Nachmittag an den Strand gekommen.

Tagsüber hatte er noch eines der Schleppsiebe repariert, hatte ein neues Drahtgeflecht zurechtgeschnitten und mit wenigen, sauber angebrachten Stahlklammern befestigt – eine Arbeit, die er seit sechzig Jahren verrichtete und bei der er es, wie bei vielem anderen, zu einiger Meisterschaft gebracht hatte.

Die Pension hatten sie ihm Frühjahr verkaufen müssen. Nicht einmal die neue, Erfolg versprechende Saison hatten sie abwarten dürfen. Mit den explodierenden Zinsen waren die Kredite, die sie Ende der sechziger Jahre aufgenommen hatten, jährlich größer, anstatt kleiner geworden. Hinzu kam, dass der Umbau der Pension ein paar Nummern zu groß geraten war. Die hochfliegenden Erwartungen aus den Goldenen Sechzigern hatten sich nicht erfüllt. Es kamen längst nicht so viele Gäste wie erhofft, und auch die Preise, die sie ihren allzu optimistischen Berechnungen zugrunde gelegt hatten, ließen sich nicht erzielen.

Nach getaner Arbeit pflegte Stefano meist bis zur Fünfhundert-Meter-Boje zu schwimmen. Eine Angewohnheit, die er erst nach dem Krieg angenommen hatte und der er sommers wie winters mit derselben unnachgiebigen Entschlossenheit nachging, mit der er manches andere tat. Mit dem Alter und der nachlassenden Kraft seiner Beine – das jahrelange Rauchen ließ ihn längst mehr schlurfen als gehen – hatten sich diese täglichen Leibesübungen verkürzt, zuerst um fünfzig oder hundert Meter, nach und nach aber so weit, dass er schließlich nur noch im brusthohen Wasser dümpelte und sich von der Strömung den Strand hinauf- oder hinuntertreiben ließ, das Gesicht stets zur untergehenden Sonne gewandt.

Als er an diesem Juninachmittag in seiner zu weiten Badehose aus der Kabine kam und mit kleinen Schritten zum Sonnenschirm trippelte, sah Marietta auf. Er war noch weit entfernt, als sie ihm zuwinkte, ihn dabei betrachtete, sein seltsames vornübergebeugtes Gehen, seine Alte-Männer-Brust, die an ihm herunterhing wie ein zu weit gewordenes Hemd. Stefano war alt geworden. Das war unübersehbar, und sie wunderte sich, dass er in einem Jahr stärker gealtert schien als in all den Jahren zuvor, die sie ihn kannte.

Als er schließlich vor ihr stand, schien er bester Laune, er sang sogar leise vor sich hin, und Marietta sah ihn fragend an. „Geht es dir gut?“

Volare, oh oh! Cantare, oh oh oh oh! Nel blu dipinto di blu, felice di stare lassù…” Er strich Mariettas Tochter Barbara, über die karottenroten Locken.

Zio“, flüsterte das Mädchen und strahlte ihn an. Es hatte eine schneeweiße, eine beängstigend weiße Haut. Sommersprossen überzogen sie so zahlreich und dicht wie Blumen eine Wiese.

„Warum sollte es mir nicht gut gehen?“ Er sah zur Sonne, die noch hoch über der Halbinsel der Punta Bianca stand. „Es wird Sommer. Es ist Sommer. Vielleicht wird es nie mehr Sommer geben als heute“, sagte er lächelnd. Er hielt eine weiße, viel zu große Badekappe in Händen, an der er herumzupfte, als müsse er ihr erst eine Form geben, um sie aufsetzen zu können.

Marietta runzelte die Stirn. „Das Wasser ist noch kalt. Du wirst dir den Tod holen.“

Stefano blickte aufs Meer hinaus, das grau und ruhig unter der sinkenden Sonne lag. Eine einzige glitzernde Lichtspur, gerade wie eine Straße, führte nach Westen. „Ich werde ihn fragen, ob er mich behalten will.“ Stefano schien gelassen, fast fröhlich. „Ich werde ihn fragen.“

„Du solltest so etwas nicht einmal denken!“

„Es spielt keine Rolle, wann man stirbt, ob früher oder später. Und wenn ich sterbe, dann sterbe ich zu spät. Bestimmt nicht zu früh.“ Abwesend berührte er die Narbe auf seiner Schulter. Sein Blick ging über den fast leeren Strand. Mit der Routine der Jahrzehnte prüfte er die Aufstellung der Schirme, der Liegestühle, die hellblaue Farbe der Umkleidekabinen und die Körnung des Sandes. In Gedanken war er jedoch woanders. „Wo ist Pierino?“

Marietta sah hinauf in den wolkenlosen, dunkler werdenden Himmel. „Irgendwo dort oben. Er hat heute Dienst, glaube ich.“

„Grüß ihn von mir.“ Leise summte er sein Lied vor sich hin. Vorsichtig, als entfalte er etwas Kostbares, zog er die Badekappe auf. Ciao, Marietta, ciao, bambina.” Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, ging er mit kleinen Schritten aufs Meer zu.

Eine Weile sah Marietta ihm nach, dann schüttelte sie den Kopf und seufzte. Erst viel später lief sie zum Restaurant hinauf, um Hilfe zu holen.