5. Kapitel

 

Der Januar brachte einige Veränderungen mit sich.

In gleichem Maße, wie die Temperaturen sanken, wurde auch der Ton der Verlautbarungen, die durch Hauptmann von Kampens Hände gingen, schärfer, die vom Oberkommando angeordneten oder direkt aus Berlin kommenden Maßnahmen unerbittlicher. Nicht, dass vorher an der Küste, in den Bergen oder im übrigen besetzten Italien ein freundliches Miteinander von Besatzern und Bevölkerung geherrscht hätte, nicht einmal ein stillschweigendes gegenseitiges Gewährenlassen, doch hatte Maximilian den Eindruck gewonnen – ein Eindruck, der mehr von der Hoffnung gespeist wurde denn aus feststehenden Tatsachen – er könnte sich mit seiner neuen Aufgabe irgendwie arrangieren, es sei möglich, sowohl seiner Uniform gerecht zu werden, als auch seiner Liebe zu dem Land, zu den Menschen. Die ersten Wochen des neuen Jahres brachten diese Überzeugung ins Wanken.

Die Milizen und Behörden machten zwar Jagd auf Deserteure, auf all jene, die sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatten - nach der weitgehenden Auflösung der italienischen Armee also auf jeden gesunden Mann zwischen achtzehn und fünfzig Jahren -, doch beschränkten sie sich darauf, diese entweder zu kriegswichtiger Arbeit zwangszuverpflichten oder neuen, im Entsehen begriffenen Armeeverbänden zuzuteilen. Es waren Anweisungen, die nur wenige Tage lang befolgt wurden, gerade so lange, bis sich die Betroffenen wieder bei ihren Familien einfanden oder in die Berge flohen. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel, das meistens, sah man von Schlägen und manch einer Demütigung ab, glimpflich verlief.

Waren es die Partisanengruppen, die über den Winter fast ebenso viel Zulauf erhalten hatten wie die vom Regen zu reißenden Flüssen geschwollenen Bäche? Hatte sich die Ansicht durchgesetzt, das Land sei gegen den eigenen Willen nicht zu halten? Jedenfalls wurde das besetzte Italien in diesen Tagen ultimativ aufgefordert, eine halbe Million Mann zu mobilisieren. Andernfalls würden die Besatzungstruppen abgezogen. Eine Drohung, die keine war, und doch beeilte man sich, Einberufungsbefehle zu schreiben, und jedem die sofortige Erschießung anzudrohen, der sich diesen entzog.

Auch Vieri erhielt eines Morgens ein solches Schreiben, unerwartet, denn es fehlten noch einige Wochen bis zu seinem achtzehnten Geburtstag, und da er keine Vorstellung hatte, was er tun sollte, machte er sich auf den Weg nach Carrara zu Ginas Haus, um seinen Onkel Stefano um Rat zu fragen. Am liebsten wäre er sofort in die Berge gegangen - ein Leben, das er sich voller Abenteuer und Heldentaten vorstellte und das er genauso herbeisehnte, wie das Ende der Untätigkeit, zu der er verurteilt war, seitdem die Steinbrüche geschlossen worden waren. Er hatte sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen, hatte den einen oder anderen Kurierdienst für die Widerstandsbewegung übernommen, doch war das kein Leben gewesen, das einem richtigen Mann zustand, denn als ein solcher fühlte er sich, seitdem der Vater in den Krieg gezogen war.

Aber Stefano war der Ansicht, er sei dem Widerstand nützlicher in Uniform als frierend, unbewaffnet und hungrig in einer Berghöhle, und so meldete er sich, trotz seiner Enttäuschung, am nächsten Tag beim Bezirkskommando in Massa. Er wurde zum Dienst beim Militärgericht von La Spezia eingeteilt.

Auch in der Beziehung zwischen Maximilian und Laura hatte sich eine Wandlung vollzogen.

Nach der schallenden Ohrfeige, deren Schmerz er angesichts der überraschenden Eröffnung kaum verspürt hatte, begannen sie, wieder miteinander zu reden, und Maximilian wunderte sich, dass er die Monate der Sprachlosigkeit so ergeben hingenommen hatte, so selbstverständlich, als rechtfertige die Zeit, die zwischen dem Jetzt und dem Früher lag, die Fremdheit, mit der sie sich begegneten, als zwängen sie ihre nur oberflächlich vernarbten Wunden, sich gegenseitig aus einer sicheren Entfernung zu beobachten. Hinzu kam, dass er sich schuldig fühlte, schuldiger noch, als er sich schon die ganze Zeit gefühlt hatte, und so war er es, der auf sie zuging, der sich um sie bemühte, der versuchte auszuräumen, was nicht auszuräumen war.

Schon am nächsten Tag fragte er sie, warum sie ihm nicht geschrieben habe, ob sie in jenem Sommer schon gewusst habe, dass sie schwanger war, er stammelte, er meine, ob sie es schon gewusst habe, als er noch hier gewesen sei. „Ich wollte, dass du meinetwegen bleibst, dass du meinetwegen zurückkommst“, antwortete sie, und er starrte sie an, dachte an die junge Frau, die er gekannt hatte, versuchte die Härte in ihren Augen über die Jahre zurückzuverfolgen bis in jene Zeit. Dann schüttelte er den Kopf.

Er wusste nicht, ob die Schwangerschaft etwas an seiner Abreise, an seinem Bleiben in Deutschland geändert hätte. Für ihn wäre alles schwerer geworden, das war gewiss. Im Nachhinein, nach seiner gescheiterten und kinderlosen Ehe, nach allem, was sich in Deutschland ereignet hatte, war es einfach, sich zu wünschen, etwas hätte damals den Ausschlag gegeben, hier zu bleiben oder hierher zurückzukehren, ein Grund, etwas, was genauso wenig wegzuschieben gewesen wäre wie seine Verlobung, seine Zusage, die Stelle im Verlag anzutreten, das Versprechen an die Eltern. Doch wie hätte er damals entschieden? Er wusste es nicht.

Und während sie aufeinander zugingen, so vorsichtig, wie es nur tief Enttäuschte zu tun vermögen, grübelte er, lag nachts stundenlang wach, und auch tagsüber, wenn er über seiner Arbeit saß, schweiften seine Gedanken ab, waren schon lange nicht mehr bei den Befehlen und Rundschreiben, die täglich auf seinem Schreibtisch landeten.

Was wäre gewesen, wenn er nicht nach Deutschland zurückgekehrt wäre? Er dachte an ihre gemeinsamen Pläne zurück, an die Träume, die sie mit liebestrunkenem Kopf geträumt hatten, und so unmöglich, sie ihm damals erschienen waren, jetzt meinte er, die Winzigkeit einer Möglichkeit darin zu sehen. War nicht schließlich einer dieser Träume Wirklichkeit geworden, hatte leibhaftig hier in diesem Gang vor ihm gestanden? Er dachte an Vieri, und obwohl er sein Sohn war, davon war er überzeugt, gab es nichts, woran er hätte anknüpfen können. Seit drei Monaten lebten Laura und er wie ein altes Ehepaar unter einem Dach, wenn sie auch nicht im gleichen Bett schliefen, doch waren diese achtzehn Jahre wie eine unüberwindliche Mauer.

„Hast du es ihm gesagt?“ hatte er sie später gefragt.

„Sandro weiß es, und Vieri wird es niemals erfahren“, hatte sie geantwortet.

Was ließ seine damaligen Entscheidungen so unabänderlich, so zwangsläufig erscheinen? Maximilian dachte an den lang vergessenen Krieg zurück, an den Großen Krieg, an den Krieg, der sich jetzt mit dem Zusatz „der Erste“ zu schmücken begann, jetzt, da der neuerliche Krieg ihn befördert hatte. Er dachte an den Augenblick, an dem Georg vorgetreten war, um für ihn in den Tod zu gehen, während er selbst wie gelähmt dagestanden hatte in der absoluten Gewissheit, nichts und niemand könne etwas daran ändern. Dabei hätte es nur eines Wortes bedurft, und der Hauptmann hätte ihn selbst geschickt.

Auch Laura dachte zurück. Auch sie hatte vom ersten Tag an gewusst, was auf sie zukäme, in seltsamer Klarheit und ohne dass sie sich dagegen hätte wehren können. Sicher, sie hatte gehofft, und es hatte sogar eine Zeit gegeben in jenen ausgedörrten Augusttagen, da sie zuversichtlich gewesen war, und doch hatte es keines Pendels bedurft, um in die Zukunft zu sehen.

Nur einmal, kurz vor dem Krieg hatte sie einen jener Experten aufgesucht, die sich im Dorf und an der ganzen Küste einer immer größeren Beliebtheit erfreuten.

Im gleichen Maße wie die Radiophonie ihren Siegeszug angetreten hatte und dank großzügiger staatlicher Subventionen in Gestalt von Mittel- und Kurzwellenempfängern Eingang in Küchen und Wohnzimmern fand, wuchs auch die Zahl der Anhänger der Radioästhesie. Was später abfällig als Rutengängerei bezeichnet werden sollte, war in den Jahren vor dem Krieg eine fast exakte Wissenschaft, so gewichtig und kompliziert, dass sie den Männern vorbehalten war, Technikern vorzugsweise, Geometern oder Mathematikern, was Concetta in den letzten Jahren ihres Lebens zu langen Tiraden Anlass gab, in denen sie die Pendelei, wie sie sich ausdrückte, aufs schärfste als neumodische Scharlatanerie verurteilte, sah sie sich doch in ihrem ureigenen Bereich bedroht.

Vielleicht nutzte die Werbung, die „übersinnliche Kräfte“ ins Feld führte, bewusst die sprachliche Nähe zur Radiophonie, den elektromagnetischen Wellen, die den Alltag zu revolutionieren versprachen, vielleicht war es die Unwissenheit der Menschen, die auf Grund der Wortähnlichkeit gleiche Wirkmechanismen unterstellten, eine neu im Entstehen begriffene technische Umwälzung vermuteten, nur vergleichbar mit der Erfindung der Glühlampe, des Telefons oder der cucina economica, des modernen Küchenherdes. Jedenfalls bestand kein Zweifel daran, dass die Verwendung eines Pendels ein höchst rationales Mittel war, um verloren gegangene Gegenstände zu finden, Flüchtlinge und Vermisste aufzuspüren oder das Geschlecht eines Kindes noch vor der Geburt festzustellen; es bedurfte nur einer Fotografie der Betreffenden, und schon wusste man, ob die Ehefrau tatsächlich treu oder die Verlobte wie behauptet jungfräulich war. Der Anwendung erschloss sich ein weites Feld. So ganz nebenbei war es auch möglich, auf einer großen Europakarte den Standort der verbotenen ausländischen Sender zu ermitteln. Mit Magie, Okkultismus oder Ähnlichem hatte das nichts zu tun.

In der Zeit bevor Laura in Begleitung ihres Vaters den alten Mario aufsuchte, hatte sie oft an Maximilian gedacht. Vieri hatte seine Lehrzeit im Steinbruch begonnen, und sie war immer häufiger allein. Sie strickte und nähte, besserte Laken, Tischdecken und Handtücher für die Pension aus, und so wie jeder jedem, gab auch sie den Schülern in der Nachbarschaft Nachhilfeunterricht in den verschiedensten Fächern. Ein paar Lire die Stunde, die sie bitter nötig hatten. Die Frage, was aus Maximilian geworden war, ob er noch lebte, ob er Anne tatsächlich geheiratet hatte, begann sie zu verfolgen. Um zu schreiben oder anzurufen, war sie zu stolz, außerdem hatte sie Zweifel, dass er unter der angegebenen Adresse noch erreichbar war. Hinzu kam die Neugier auf die vielgerühmten Meister des Pendels, und als Piero wieder einmal von den Erfolgen seines Freundes Mario erzählte - dieser hatte unlängst einen im spanischen Bürgerkrieg Vermissten in der Nähe von Genua aufgespürt -, beschloss sie hinzugehen.

Mario war ledig und verbrachte seine Abende im Caffé degli Svizzeri in Monteforte. Seine Kunst war weithin bekannt, und so saß er selten lange genug allein da, um den Verdacht der faschistischen Spitzel zu erregen. Niemals verlangte er Geld, ließ sich aber gerne zu einem amaro oder einem grigioverde, einem Grappa mit Minzlikör, einladen. Er war weder homosexuell noch sonst wie gescheitert, was das Regime von einem Junggesellen sofort anzunehmen schien, und einige Jahre älter als Piero. Er war gelernter Maurer, man nannte ihn aber den ingegniere, weil er jahrelang im Auftrag der Bezirksregierung in den Bergen herumgestiegen war, um die Notwendigkeit von Ausbesserungsarbeiten an den vom großen Erdbeben beschädigten Häusern abzuklären, Pläne, die selten in die Tat umgesetzt wurden. Dennoch war er beliebt, und wie er mit dem Kaffeelöffel in der Hand über seine Rätselzeitung gebeugt dasaß, ein würdiger, grauhaariger Herr, der auch als pensionierter Lehrer oder als Kassierer der Filiale der Banca d’Italia in Massa durchgegangen wäre, flößte er auch Laura sofort Vertrauen ein.

Vorsichtig nahm er das Pendel aus seinem Kästchen. Es bestand aus Kupfer, Blei und Stahl und war mit Bakelit überzogen, einer Art künstlichem Harz. Laura hatte Maximilians Fotografie auf den Tisch gelegt. Das Foto war beim Volksfest anlässlich des Fundes des Monolithen von einem Fotografen aufgenommen worden. Ursprünglich war auch Laura darauf zu sehen gewesen. Sie hatte es mit einer Schere entzweigeschnitten, sorgsam darauf achtend, die Darstellung des Deutschen nicht zu verstümmeln – man wusste ja nicht, wie empfindlich so ein Pendel war. Jetzt lag das Bild da, ein unbegreiflich junger Maximilian, der verlegen in die Kamera lächelte. Der ingegniere hielt das Pendel eine Handbreit darüber. Noch unbeweglich hing es an seinem dünnen Faden zwischen Daumen und Zeigefinger. Es müsste die Aufgabe erst verstehen. Er sagte es, und meinte das Pendel, denn schließlich war der Mensch nichts als ein demütiger Diener der Technik. Nur diese sei in der Lage, die Aufgabe mit, wie Mario ausführte, mathematischer Präzision zu lösen. Nach einiger Zeit begann das Pendel langsam im Uhrzeigersinn zu kreisen. Ja, dieser Mann lebe in Hamburg – hatte sie das erwähnt? – er sei verheiratet und habe zwei Kinder, nein, drei, verbesserte er sich bald, als das Pendel nervös zu zittern begann, zwei Buben und ein Mädchen. Zufrieden lächelnd lehnte er sich zurück, trank den amaro, den der Kellner unverzüglich gebracht hatte, und begann weitschweifig von der Sitzung mit der Signora Musetti zu erzählen. Diese habe doch tatsächlich...

Möglich, dass das genau die Antwort war, die sie hören wollte. Die Unruhe, die monatelang an ihr genagt hatte, verschwand schlagartig. Sie war erleichtert, wenn auch niedergeschlagen. Doch hielt sich diese Trauer in Grenzen. So als habe sie erfahren, dass ein unheilbar Kranker tatsächlich gestorben sei, allen Bemühungen zum Trotz. Es war ein absehbares Ende, ein Tod, den sie jahrelang in sich getragen hatte, ein Sterben, das sie immer aufs neue hinausgezögert hatte und jetzt endlich zulassen wollte.

Umso überraschter hatte sie Maximilians Rückkehr aufgenommen, eine Rückkehr, die keine war, das beeilte sie sich zu vergegenwärtigen, denn sicherlich stand sie in keinem Zusammenhang mit ihrer Person oder der zusammen verbrachten Zeit, vom gemeinsamen Sohn ganz zu schweigen. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt vor der Geschichte mit dem Pendel hätte sie vielleicht anders reagiert. Jetzt aber, da sie abgeschlossen zu haben glaubte, fühlte sie nichts, nichts als Erstaunen. Und selbst dieses Erstaunen war austauschbar. Zu oft waren in diesem Krieg Dinge geschehen, die sie für unmöglich gehalten hatte, und so wie der Krieg ein andauernder Ausnahmezustand zu sein schien, war für sie auch Maximilians Ankunft ein Ereignis, das nicht zu erklären war und über das lange nachzudenken sich nicht lohnte.

Sie hatte sich vom Bruder überreden lassen, die alte Verbindung zugunsten der Widerstandsbewegung wiederzubeleben, zu reaktivieren, wie er sich in der Wortwahl der Strategen ausgedrückt hatte, eine Rolle, die er immer mehr zu lieben schien und die ihm auf den Leib geschneidert war. Wenn sie in Maximilians Abwesenheit dessen Papiere durchwühlte, abschrieb, ein unliebsames Dokument gar verschwinden ließ, überlegte sie häufig, was sie dazu antrieb. Sicherlich hasste sie die deutschen Besatzer, so wie sie von den meisten an der Küste gehasst wurden. Sicherlich glaubte sie an die Notwendigkeit, Widerstand zu leisten, zu kämpfen, notfalls unter Einsatz des eigenen Lebens, eine Tugend, die den Männern vorbehalten schien und die sie auch für sich beanspruchte. Und doch meinte sie, manchmal etwas anderes zu spüren, Genugtuung darüber, Maximilians blindes Vertrauen zu missbrauchen, eine dunkle Freude, die Arglosigkeit lächerlich zu machen, die ihn wie einen Heiligenschein umgab, diese Unfähigkeit, sich auch nur vorzustellen, sie könne ihn hintergehen. Rache war vielleicht das richtige Wort, eine kleine Rache, die sie sich niemals aus persönlichen Gründen zugestanden hätte, im Dienste des Vaterlands und der gemeinsamen Sache aber durchaus zu genießen im Stande war.

Hinzu kam, dass sie gern in seiner Nähe war. Auch das fiel ihr nicht schwer, sich einzugestehen. Außerdem konnte es irgendwann notwendig werden, den persönlichen Einfluss, den sie auf ihn zu haben glaubte, zu nutzen. Eine solche Gelegenheit ergab sich bald.

Fünf junge Männer, alle nicht viel älter als Vieri, waren von maresciallo Cozzis Männern aufgegriffen und der Fahnenflucht angeklagt worden, und da es in anderen Bezirken deswegen schon zu Hinrichtungen gekommen war – man schien jetzt hart durchgreifen zu wollen –, sah der Widerstand Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen.

Laura war an diesem Frühlingsmorgen in die Casa Letizia gestürzt und hatte Maximilian angefleht, er möge etwas unternehmen, sofort, hatte sie hinzugefügt, denn es gehe um Leben und Tod. Er hatte noch in der Küche vor einer Tasse Kaffeeersatz gesessen, die dünne Zeitung in der Hand, kaum mehr als ein beidseitig bedrucktes Blatt gelblichen Papiers.

Später, schon im Auto auf dem Weg zum Militärgericht, dachte er an diese Szene zurück. Die Angst, die ihn angesteckt hatte, ihre Atemlosigkeit, die Betroffenheit, die Laura verwandelt hatte, die tiefen Gefühle, die unvermittelt aus ihr herausbrechen konnten, die gleichen Gefühle, die er schon früher bestaunt hatte, wie er ein Naturschauspiel bestaunt hätte.

Auch er war aufgewühlt, und während er an knospenden Kirschbäumen entlangfuhr, ballte er nervös sie Fäuste. Schon einmal im Herbst war er in einer ähnlichen Lage gewesen, doch damals hatte er Glück gehabt.

Ein Wagen der Feldjäger war in der Nähe von Annunziata beschossen worden. Der Fahrer war sofort tot, der Beifahrer starb am nächsten Tag. Von den Tätern fehlte jede Spur. Knippschild hatte unverzüglich eine Abteilung ins Dorf geschickt und neben dem Bürgermeister weitere neunzehn Dorfbewohner festgenommen. Für jeden getöteten Deutschen sollten zehn Einheimische hingerichtet werden, das besagten die Anweisungen, die schon geraume Zeit ihre Gültigkeit hatten. Meistens wurden Insassen von Gefängnissen oder Internierungslagern ausgewählt, manchmal aber auch Männer willkürlich aus ihren Häusern geholt. Oft hatten die italienischen Behörden die Opfer der Vergeltungsmaßnahmen selbst zu benennen. An diesem Herbsttag in Annunziata wurde auch Maximilian von Kampen hinzugezogen. Warum, wusste er nicht, denn als er dort eintraf, schien schon alles entschieden. Einem kurzen Prozess sollte eine ebenso schnelle Hinrichtung folgen. Er erinnerte sich noch gut an den Bürgermeister, einen schwitzenden kleinen Mann mit rotem Kopf und flehenden Augen, der einem dicken Cherub aus einem altertümlichen Fresko nachgebildet schien und dem tobenden Generalmajor umständlich zu erklären versuchte, die Bewohner des Dorfes, zumal jene, die er ausgewählt habe, verstünden sich mehr auf das Heben des Glases als auf das Laden von Pistolen und Gewehren und der Korkenzieher und das Schinkenmesser seien die einzigen Waffen, mit denen sie umzugehen wüssten. Nach der Verhandlung weinten einige von ihnen, andere beteten zu San Geminiano, dem Schutzheiligen der Verrückten und geistig Verwirrten, er möge seine Hand von jenem Irren zurückziehen, der die Deutschen auf dem Gewissen habe. Vielleicht wurden ihre Gebete erhört, vielleicht ereignete sich eines jener Wunder, die es im Krieg nur selten gibt, denn sie standen schon mit verbundenen Augen vor dem Erschießungskommando, als ein Kradfahrer auf den Dorfplatz fuhr und meldete, man habe die Täter gefasst. Zwei englische Agenten, die an Ort und Stelle erschossen worden seien. Die freigelassenen Geiseln begaben sich unverzüglich zur Kapelle, um ihrem Schöpfer und den verschiedenen Schutzheiligen zu danken. Das Dorf aber musste eine hohe Geldstrafe bezahlen, weil sich die Tat auf seiner Gemarkung zugetragen hatte.

Vieri grüßte militärisch, als sie vor der ehemaligen Schule hielten, in der das Militärgericht untergebracht war. Er stand Posten, und nichts an seinem Verhalten zeigte, dass er Maximilian kannte. Seine Augen waren hart, sein Gesicht starr, fast verkniffen, aber so hätte er vermutlich jeden deutschen Offizier begrüßt. Mehr als der förmliche Empfang, war es die Uniform, die Maximilian betroffen machte. Seinen halbwüchsigen Sohn so unerwartet und so verkleidet vor sich zu sehen, ließ ihn seinen Schritt verlangsamen. Etwas zog sich in seinen Eingeweiden zusammen. Er dachte an die vielen jungen Männer, halbe Kinder, die vor seinen Augen gefallen waren. Und plötzlich glaubte er, in dem Sohn zum ersten Mal sich selbst zu sehen, wie er kaum achtzehn Jahre alt mit Hurrageschrei ins Feld gezogen war. Seltsam, dachte er, wie anders etwas erscheint, wenn man es von außen betrachtet, von außen oder aus der Entfernung.

Der Fall der aufgegriffenen Fahnenflüchtlingen war colonello De Tommaso übertragen worden, einem verkalkten Berufssoldaten adliger Abstammung, einem überzeugten Faschisten zudem, den er bei anderer Gelegenheit bereits kennen gelernt hatte. Dieser würde nicht zögern, einen Menschen schon aus nichtigerem Anlass als einer Entfernung von der Truppe an die Wand zu stellen. Die übrigen Offiziere schienen nervös, kurze, heftige Wortwechsel waren zu hören, verstummten aber sofort, wenn Maximilian oder De Tommaso sich näherten, eine Aufregung, die sich auch auf die einfachen Soldaten, die meist als Wachen oder Schreibkräfte ihren Dienst versahen, übertragen hatte. Das ganze Haus schien vor Anspannung zu zittern.

Maximilian verbrachte zwei ganze Tage beim Militärgericht. Er vernahm die Gefangenen im Beisein des colonello, er vernahm sie allein, er vernahm sie zusammen mit dem Militärankläger Giorgio Bocca, einem besonnenen Mann, der ihm sofort sympathisch war. Dieser schien wie er selbst ein Interesse daran zu haben, die befürchtete Höchststrafe abzumildern, zu einer Versetzung in ein Strafbataillon umzuwandeln, zu zwanzig Jahren Zuchthaus, was einem Freispruch gleichgekommen wäre, gab sich doch angesichts der Lage an den verschiedenen Fronten niemand der Illusion hin, der Krieg sei noch zu gewinnen oder die sichere Niederlage nennenswert hinauszuzögern.

So legten sie den Gefangenen Worte in den Mund, deuteten unauffällig mögliche strafmildernde Umstände an, entwarfen Ausreden, schufen Unschärfen und Grauzonen. Gab es nicht eine Mutter die schwer krank war, der man verständlicherweise beistehen wollte, den ansonsten gerne übernommenen Pflichten dem Vaterland gegenüber zum Trotz? Hatte nicht jener schwere Sturm das elterliche Haus so stark beschädigt, dass ein kräftiger erwachsener Mann tatkräftig mit anpacken musste? Natürlich hätte er sich nach wenigen Tagen wieder in der Kaserne eingefunden. War er nicht just an jenem Tage, als er aufgegriffen wurde, auf dem Weg zum Bahnhof gewesen, um zu seiner Einheit zurückzukehren? So oder so ähnlich redeten sie stundenlang auf ihre Gefangenen ein. Zwei von den fünfen blieben bei ihrer Aussage, sie seien Antifaschisten und seien desertiert, weil sie nicht der neuen Republik dienen wollten. Trotz eines Hinweises, ihre standrechtliche Erschießung sei in diesem Fall kaum zu verhindern, bestanden sie darauf, ein entsprechendes Protokoll zu unterschreiben.

Wenige Tage später wurden sie nach Pisa überstellt. Die drei Einsichtigen wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, die beiden Hitzköpfe zur Höchststrafe.

Bei der Hinrichtung hatte auch Maximilian anwesend zu sein. Eine unmissverständliche Anweisung Knippschilds, der damit das besondere Interesse der deutschen Kommandantur an einer harten Linie unterstreichen wollte. Es wurde eine herzzerreißende Inszenierung, bei der es keine Täter oder Opfer, sondern nur verzweifelte Menschen gab, sah man von einigen faschistischen Milizionären ab, die sich fast fröhlich eingefunden hatten. Doch am Ende lagen die beiden Deserteure tot im Staub des Hofes, und als Maximilian zurück nach Monteforte fuhr, fragte er sich, wie er Laura wieder unter die Augen treten könne. Es sehnte sich nach seinem gemütlichen Posten in jener Nachrichtenzentrale im besetzten Frankreich zurück.

Das Gnadengesuch war abgelehnt worden. Fraglich, ob der Duce es überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Früh am Morgen war aus den Wachen und den Schreibkräften der Militärverwaltung ein Erschießungskommando zusammengestellt worden, dem ein blasser Leutnant vorstand. Und während dieser mit seiner Pistole herumfuchtelnd Anweisungen gab, dankte Maximilian Gott dafür, dass Vieri nicht unter den Unglücklichen war, die zitternd ihre Gewehre luden. Die Gefangenen lehnten eine Augenbinde ab. Und der Priester, der mit ihnen gekommen war, appellierte an das Peloton, gut zu zielen, um ihre Leiden nicht unnötig zu verlängern. Unter dem Gekicher und den Bemerkungen der faschistischen Milizionäre nahm das Erschießungskommando Aufstellung. Der Leutnant gab mit sich überschlagender Stimme den Befehl, die beiden Gefangenen riefen „Es lebe das freie Italien!“, und die Salve krachte in die Wand. Tatsächlich hatten die meisten danebengeschossen, vielleicht aus Absicht oder weil sie ihr Gewehr vor Angst kaum halten konnten. So musste der Leutnant nach vorne gehen und die noch schreienden mit einem Genickschuss hinstrecken. Anschließend fiel er selbst bewusstlos, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, auf das Pflaster. Auch einige der übrigen Soldaten waren ohnmächtig geworden. So wurden an diesem Frühlingsmorgen viele reglose Gestalten vom Hof getragen.

Im Gehen fragte Maximilian die Milizionäre, was sie hier zu suchen hätten. Erstaunt sahen sie ihn an. Sie wollten das Schauspiel genießen, naturalmente.