8. Kapitel
Maximilian hatte mit Anne geschlafen. Schon früh, mit fünfzehn oder mit sechzehn. Sie war ein paar Monate älter als er, und ihr "erstes Mal" war so selbstverständlich gewesen, als sei es nur die folgerichtige Fortsetzung der Doktorspiele ihrer Kindheit. Ein paar Jahre zuvor hatte er schon ihren aufknospenden Busen geküsst und seinen ersten Erguss gehabt, als er sich über sie beugte. Er hatte sich zu ihr gedreht, hatte sich auf sie legen wollen, als sein Penis zu zucken begann. Die Schwerkraft hatte genügt, um ihn ausfließen zu lassen, ganz ohne sein Zutun, eine Schwerkraft, die an seinen Hoden und Lenden gezerrt hatte, so als brauche es nur von der Rücken- auf die Bauchlage zu wechseln, um ein Kind zu zeugen. Er hatte nichts dabei gefühlt, gar nichts. Nur seine Unterhose war nass geworden, und, obwohl auch Anne halb angezogen gewesen war, er hatte gefürchtet, sie könne schwanger geworden sein. Monatelang hatte er sie beobachtet, hatte auf Anzeichen von Übelkeit geachtet, und als sie nach Wochen in der Mittagshitze über Schwindel klagte, war er sich sicher gewesen, Vater geworden zu sein. Später erzählte sie ihm, sie habe zu jenem Zeitpunkt noch gar nicht ihre erste Regel gehabt, und sie hatten herzlich gelacht.
Nach diesem Erlebnis war er ihr aus dem Weg gegangen. Sie hatten sich nachmittags nicht mehr unterm Dach des Goldschmidt'schen Verlagshauses getroffen, und auch ihre gemeinsamen Besuche im Café König wurden seltener. Eine Weile versuchten sie es mit anderen Freunden. Er mit einer langen Reihe adrett gekleideter Reederstöchter, die wunderbar parlierten, sich beim Küssen aber fast zu Tode kicherten. Sie mit verwegenen Burschen, die ihr zwischen die Beine fassten und bei ihrem Vater schon wegen ihres Äußeren keine Gnade fanden.
Kurz nach Ausbruch des Krieges, waren sie wieder zusammengekommen. Sie nahm ihn bei der Hand, führte ihn in ihr Zimmer, zog sich aus und legte sich aufs Bett. Die Sonne fiel honiggelb auf ihre blasse Haut, auf die rotblonden Haare zwischen ihren Beinen, sie öffnete ihre Schenkel, um ihn hereinzulassen, und er drang in sie ein, leicht, küsste ihre voller gewordenen Brüste, und dann kam er, und diesmal wollte er kommen, und sie stieß einen kleinen Schrei aus, und dann seufzte sie und drückte ihn an sich. Später lag er an ihrem Busen, müde und erstaunt, wie einfach das Leben war.
Anfang zwanzig hatten sie sich getrennt, und die Reederstöchter ließen sich jetzt küssen, ohne dabei kichern zu müssen, sie ließen alles mit sich machen, nur schlafen wollten sie mit ihm nicht. Ihre Unschuld war ein kostbares Kapital, das sie hinüber in den Stand der Ehe zu retten gedachten, in eine Ehe, die ihre Väter mit anderen Vätern aushandelten, als verkauften sie ein Schiff, zumindest aber eine wertvolle Ladung. Ein paar Mal ging er zu Prostituierten, und sie waren genauso bereitwillig, wie es Anne seinerzeit gewesen war. Überhaupt schienen ihm die Unterschiede eher gering, und er dachte, das müsse bei allen Frauen so sein.
Umso erstaunter war er, dass bei Laura alles ganz anders war. Und vielleicht war Laura tatsächlich eine Ausnahme, jene Frau, die man im Leben nur einmal trifft, bei der es Zufall oder glückliche Fügung ist, dass sie nicht die erste ist. Denn wenn es zwei oder drei gibt, die vorher waren, zwanzig oder dreißig, hat man das Glück, sie an ihnen messen zu können.
Nach Giacomettis Lesung hatte Maximilian sie zum ersten Mal bedrängt. Der Juli war schon weit fortgeschritten, und mit jedem Tag, der verging, wuchs seine Furcht, die Zeit der freudigen Erwartung könne übergangslos in eine des Abschiednehmens übergehen, in ein Zuspätsein, das umso schmerzlicher sein musste, wenn ihm keine oder eine nur kurze Zeit der Erfüllung vorangegangen war. Es war auch die Zeit, in der er zum ersten Mal daran dachte, für immer in Italien zu bleiben, Anne und seine Lektorenstelle aufzugeben, um vielleicht Piero in der Pension zu helfen und sich von Matteo in der Kunst der Bildhauerei unterweisen zu lassen. Schließlich war Pietrasanta berühmt für seine Schulen, und nachdem Giacometti in seinem Vortrag eine neue Kunst beschworen hatte, eine Kunst, die gleichgültig ob Malerei, Lyrik oder Musik, die Ausdruckskraft Wagners und Nietzsches haben müsse, warum sollte es ihm da nicht gelingen, seine Verse gleichsam in Stein zu hauen, die Worte, die sich in seinem Innern stauten, zu Marmor gerinnen zu lassen, zu makellosem Statuario?
„All das, was es bislang an Kunst gibt, vermag es nicht, den großen Zustrom neuer Ideen, Stimmungen und Gefühle zu erkennen, die auf der Schwelle der neuen Welt toben. Die Wissenschaft kann den leeren Himmel nicht wieder bevölkern, sie kann den Seelen keine Freude mehr geben. Wir wollen keine Wahrheit mehr. Gebt uns einen Traum!“ Das waren Giacomettis letzte Worte gewesen, ein Zitat Gabriele D’Annunzios, des großen italienischen Dichters, mehr als dreißig Jahre alt, wie er ob der allgemeinen Verblüffung lächelnd einräumte, aber nichtsdestoweniger aktuell.
„Ich kann nicht“, hatte Laura gesagt. Dann war sie hinausgestürzt, und hatte ihn zurückgelassen so einsam wie schon lange nicht mehr.
Giacometti hatte seinen großen Auftritt gut vorbereitet. Er hatte den Raum mit Rosen schmücken lassen, mit vielerlei Blüten, die in Tellern schwammen. Ätherische Öle hingen schwer in der Luft, und überall brannten Kerzen. Die Tische waren mit Brokaten und Atlasstoffen bezogen, sein Rednerpult mit Pfauenfedern und rosafarbenen Kissen geschmückt.
Er begann mit eigenen Versen, flocht ein paar Zitate ein, und je länger er las, desto deutlicher drang jener andere italienische Dichter durch seine Worte hindurch. Es war eine kunstvolle Menage, an deren Ende niemand mehr hätte sagen können, was von ihm, was von seinem Vorbild stammte. Er hatte den Abend als D'Annunzianischen Abend angekündigt, und der glanzvolle Erfolg, zu dem er ihn führte, hätte dem Namensgeber zur Ehre gereicht. Es ging um Liebe und Tod, um tragische Helden, und Maximilian, der nicht alles verstand, fühlte sich in ein antikes Theater versetzt, in dem allerlei mythologische Gestalten ihr Unwesen trieben.
Doch dann rezitierte Giacometti La pioggia nel pineto, und im Salon wurde es totenstill. Die Witwe Petrelli tupfte sich mit einem Seidentüchlein die vor Rührung tränenden Augen, und es gab niemanden im Raum, der an der Urheberschaft dieser Verse gezweifelt hätte:
Schweige. Auf der Schwelle
des Waldes höre ich nicht
Worte, die du sagst,
menschliche; aber ich höre
neuere Worte,
wie sie tropfen und Blätter sprechen
in der Ferne.
(...)
Als er fertig war, sich elegant verbeugt hatte im Glanz seines Auftritts, wurde geklatscht und gejubelt. Alle redeten durcheinander, und Giacometti, der seinen Triumph sichtlich genoss, warf den Damen Kusshände zu und überreichte Witwe und Tochter rote Rosen. Nur Boris, der unverhohlen von dekadentem Schwachsinn sprach, blieb in seiner Ecke sitzen. Auch Josef Lindemann gehörte nicht zu den Bewunderern des Italieners. Er beugte sich zu Maximilian und sagte, allerdings leise und auf Deutsch: „Für mich ist er ein Blender, ein kleiner Blender.“ Dann ließ er ein hässliches Lachen hören.
Doch damit standen die beiden alleine. Selbst Maximilian, den nicht gerade Freundschaft mit Giacometti verband, war beeindruckt. Insbesondere Der Regen im Pinienhain hatte es ihm angetan, der perlende Rhythmus, die scheinbar willkürliche Form, die doch so harmonisch wirkte, die ungeheure Modernität, wie er später zu Boris sagen sollte, im Versuch den anderen von seinem, wie er fand, allzu strengen Urteil abzubringen, und insgeheim nahm er sich vor, das Gedicht in Ruhe studieren. Sicher würde ihm Giacometti eine Ausgabe leihen.
„Es ist unglaublich!“ Eleonora Petrelli war noch immer außer sich. „Als habe ein guter Geist die Zeit zurückgedreht. Paris! Neunzehnhundertzehn! Oder war es neunzehnhundertzwölf?“ Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung. Ihre Hände flatterten wie Schwalben. „Wissen Sie, dass ich ihn kennen gelernt habe?“ Sie bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden und ergriff Giacomettis Arm. Dieser wandte sich ihr lächelnd zu. „Alle waren sie da: Strawinsky, Debussy, Anatole France natürlich. Selbst Nijinsky, der Tänzer. Und Ida Rubinstein, eine wundervolle Schauspielerin!“
„Mama war zu ihrer Zeit fast so berühmt wie die Rubinstein...“
„Wenn auch aus anderen Gründen, mein Kind...“ Sie kicherte.
„Ich glaube, sie hat es für Geld gemacht.“ Josef Lindemann hatte sich zu Maximilian gebeugt und flüsterte. „Die Tochter? Nein, das glaube ich nicht. Obwohl sie es faustdick hinter den Ohren hat. Und die Mutter ist auch nicht schlecht, glauben Sie mir. Aber beide zusammen“ - er pfiff leise durch die Zähne - „das ist die Krönung! Wie die perversen Schwestern, wenn wir schon bei D’Annunzio sind, und ich wette mit Ihnen, der hat sie auch gehabt, die Mutter natürlich, ob für Geld oder umsonst, das will ich mal dahin gestellt sein lassen.“ Eine Weile hörten sie den anderen zu. „Wenn sie nicht dumm, schwul oder impotent sind, sollten Sie die Gunst der Stunde nutzen. Eine solche Gelegenheit bekommt man im Leben nicht oft! Und das sagt Ihnen ein Mann, der es wissen muss.“ Dann begann er das eine oder andere anatomische Detail der beiden zu bemühen und wollte gerade zu den Stellungen übergehen, die sich seiner unmaßgeblichen Meinung nach, wie er betonte, anböten, als ihn ein finsterer Blick Maximilians innehalten ließ. „Verzeihen Sie, mein stiller Freund, ich vergaß, dass sie einer holden Jungfrau im fernen Deutschland versprochen sind.“ Und er stieß ihn zwinkernd mit dem Ellbogen an.
Am nächsten Tag war es windstill. Die Luft war durchsichtig wie selten im Sommer, und die Berge schienen so nah, als könne man die Blöcke, die man aus ihren Gipfeln schnitt, direkt ins Meer stoßen. Von den Gewittern der letzten Tage sauber geschliffen, umschlossen sie den Himmel wie eine unüberwindliche Wand. Als habe es in der Nacht ausgiebig geschneit, klafften die weiß blutenden Wunden der Steinbrüche.
Es sollte der große Tag werden. Es sollte der Tag werden, an dem Scott, der Amerikaner, über das Wasser zu schweben gedachte, gezogen von der Kraft von zwei Dutzend Pferden. Dass es dann ganz anders kam, war nur einem Zufall zu verdanken, einem jener Zufälle, die nach zwanzig oder fünfzig Jahren als Fügungen des Schicksals erscheinen, als Notwendigkeiten, die manchmal über Leben und Tod entscheiden, meistens sich aber mit Geringerem zufrieden geben.
Concetta hatte nicht geruht, bis die Kunde des bevorstehenden Ereignisses zu den entlegensten Winkeln der Küste gedrungen war. Dieses Mal würden sie ihr glauben müssen. Glauben ohne Wenn und Aber. Jetzt sollten alle büßen, die sie Klatschweib schimpften, aufgeblasenes Frauenzimmer und Schlimmeres! Und ohne das bewährte Korrektiv, das einen Großteil des Sensationswertes gleich wieder abzog, wuchs das Gerücht ins Unermessliche.
Waren sich die einen sicher, ein amerikanischer Prophet würde das Wasser teilen wie einst Moses das Rote Meer, teilen oder aber ersatzweise darüber hinwegwandeln zu Fuß wie Jesus, wussten die anderen ganz genau und aus erster Hand, ein Traktor oder Lastwagen, eine Lokomotive solle von der Verladestation bis nach Carrara schwimmend einen riesigen Marmorblock ziehen, den Monolithen möglicherweise, aber das stünde noch nicht fest.
So hatten sich neben dem halben Dorf auch Menschen aus der ganzen Umgebung am Strand versammelt. Die Arbeiter der Verladestation hatten ihre Arbeit unterbrochen, und die Touristen waren mit Hüten und Schirmen aus den nahen Badeanstalten zusammengeströmt, als gelte es, das große Feuerwerk an Mariä Himmelfahrt zu bestaunen. Der beste Platz schien jener auf der Landungsbrücke, und diese ächzte unter dem Gewicht der Schaulustigen wie schon seit ihrer Einweihung im Jahre 1877 nicht mehr.
Wäre Piero geschäftstüchtiger gewesen, hätte er den Strand abgesperrt, um Eintritt zu verlangen. Schließlich konnte er mit einigem Recht die Urheberschaft an der Vorführung für sich beanspruchen, waren doch alle Beteiligte seine Gäste. Er beschränkte sich darauf, seine Kinder mit großen Körben herumgehen zu lassen, um belegte Brötchen und bomboloni zu verkaufen, ringförmige, in heißem Fett ausgebackene Krapfen, die zum Teil mit Creme, zum Teil mit Konfitüre gefüllt waren.
Es erinnere ihn an die große Flugschau in Brescia, 1909. Maximilian, der nicht zuletzt deswegen beim Wirt stand, weil er hoffte, in seiner Nähe auf Laura zu treffen – seit ihrem fluchtartigen Aufbruch am Vorabend ging sie ihm aus dem Weg –, nahm seinen Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Noch war nichts von Scott oder Matteo oder ihrer Höllenmaschine zu sehen. „Sie wissen gar nicht, wie oft ich diesen Tag verflucht habe!“ Er sei mit seinen beiden Ältesten dort gewesen und mit fünfzigtausend anderen Verrückten. Jeder Flugbegeisterte Italiens sei dahin gepilgert. Alle wollten die sagenhaften Flugmaschinen sehen. Fliegen! Jahrtausendelang war das nur ein Traum, und plötzlich sollte jeder, der wollte, einfach in ein solches Gerät steigen können und fliegen? Unvorstellbar! „Ich bin sicher, mein Sohn würde heute noch leben, hätte er sich dort nicht mit jenem Bazillus angesteckt.“ Wie eine unheilbare Krankheit sei das gewesen. Aber so war das damals, und ahnen, das hatte er beim besten Willen nicht können, niemand hätte es können. Selbst Puccini war da gewesen, der große Puccini. Wenn man jemandem die Schuld geben könne, dann dem comandante, aber das sei nur so dahin gesagt. D’Annunzio sei zuerst zu Curtiss ins Flugzeug gestiegen, dann habe er den Wright-Doppeldecker von Mario Calderara genommen und sei geflogen. Allein! Einfach so. Ganz Italien hatte Kopf gestanden. War es dann ein Wunder, wenn ein kleiner Junge glaubte, er könne das auch?
Dann war es endlich soweit, und ein Raunen fuhr durch die Menge. Eine Barkasse löste sich aus der Bucht hinter der Landungsbrücke und strebte dem offenen Meer zu. Es war das hässlichste seetaugliche Fahrzeug, das man jemals gesehen hatte. Auf einer behelfsmäßigen Plattform im Heck thronte ein unförmiger Lastwagenmotor und drückte das Boot tief ins Wasser. Kreischend wie eine Säge, die sich durch einen harten Stein frisst, sorgte er für Vortrieb und stieß dabei Unmengen schwarzen Rauch aus. Es stank erbärmlich nach Dieselöl, und einige Damen hielten sich ihre parfümierten Taschentücher vor die Nase. Wie ein riesiger schwarzer Käfer kroch das seltsame Gefährt aufs Meer hinaus und schwankte heftig von einer Seite auf die andere, so spiegelglatt das Wasser vom Ufer aus zu sein schien.
Ohrenbetäubender Lärm brandete auf, als das Boot schneller wurde, sich eine handbreit aus den flachen Wellen hob, als könne es tatsächlich zu einem langen Sprung ansetzen, und je mehr Fahrt es aufnahm, umso ruhiger schien es im Wasser zu liegen. So schoss es parallel zur Küste dahin, eine lange Rauchwolke hinter sich herziehend, so schnell wie noch kein Boot zuvor, da waren sich alle Anwesenden später einig, und es hätte niemanden gewundert, wenn es – Flügel hin, Flügel her – tatsächlich abgehoben hätte, hinaufgestiegen wäre in den wolkenlosen Himmel.
Doch dann wurde das Tempo gedrosselt, und als es wendete, schaukelte es so gefährlich wie zuvor. Mit der gleichen irrwitzigen Geschwindigkeit ging es zurück am überfüllten Strand entlang, am hölzernen Steg der Verladestation vorbei, und Scott und Matteo standen kerzengerade wie zwei stolze Kapitäne und winkten der Menge, die frenetisch jubelte, als sei das schon die ganze Vorführung gewesen. Die Gäste der Pension liefen zusammen, man klopfte sich auf die Schulter, und Josef nutzte die Gelegenheit, alle Frauen zu umarmen, denen er habhaft werden konnte. Selbst Piero schien die trüben Gedanken an Brescia verscheucht zu haben.
Als dann das Eigentliche kommen sollte, der Höllenritt über den tosenden Ozean oder wie die weithin verbreiteten Ankündigungen sonst noch gelautet hatten, verblasste der frisch erworbene Ruhm der Pioniere genauso schnell wie er errungen worden war. Die Massen waren wankelmütig, wer hätte das besser gewusst als Matteo, der seit frühester Kindheit dem Genoa, der genuesischen Fußballmannschaft, die Treue hielt, der gerade in diesem Jahr ihren überraschenden Absturz aus dem Olymp der Liga miterlebt hatte und jetzt hilflos mit ansehen musste, wie sein amerikanischer Partner sich abmühte, das Gleichgewicht auf den rot angemalten Brettern zu halten, sei es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, und je häufiger er in seinem über dem Bauch zum reißen gespannten Badeanzug ins Wasser klatschte, desto mehr Pfiffe wurden laut, schadenfrohe Lacher, in die sich Buh-Rufe mischten, ein sich verstärkendes Johlen und Grölen, wie beim letzten Heimspiel, als man gegen Neapel 0:3 verlor.
Bald war klar, dass ihn die Hölzer nicht tragen konnten, nicht jetzt und nicht in tausend Jahren. Er war zu schwer. Oder die Bretter waren nicht lang oder breit oder dick genug, um ihm den notwendigen Auftrieb zu geben. Kaum stellte er sich drauf, versanken sie in den Fluten wie Steinplatten, und Matteo, der Vollgas gab in der Hoffnung, ihn mitsamt der Skier wieder heraus zu ziehen, schleifte ihn hinter sich her wie eine vollgelaufene Boje.
Schließlich gab Scott auf. Matteo, der nicht viel leichter war, versuchte es erst gar nicht. Schon begannen die ersten Zuschauer abzuwandern. Doch anstatt wieder den kleinen Hafen hinter dem Anlegesteg anzusteuern, sich schamhaft dorthin zurückzuziehen, wo es hergekommen war, hielt das Boot geradewegs auf den Strand, auf die Gruppe der betreten dreinschauenden Gefährten zu.
Die gescheiterten Pioniere hatten jedoch keineswegs die Absicht, sich von den Freunden trösten zu lassen, und als diese ihre wahre Absicht erkannten, war es zu spät. Zu spät, um sich unauffällig davonzuschleichen, zu spät, um sich eine überzeugende Ausrede einfallen zu lassen.
Die Damen kamen selbstredend nicht in Frage, Arkadij dachte nicht im Traum daran, den eigentlich schon besiegten Kontrahenten, sozusagen durch die Hintertür, doch noch zum Sieg zu verhelfen, Boris, der eine gewissen Sympathie für die technische Seite der Herausforderung hegte, erklärte, er sei durch und durch unsportlich. Giacometti lehnte es brüsk ab, sich vor der ganzen Welt zum Affen machen zu lassen. Josef schlug sich ein paar Mal entschuldigend, wenn auch nicht sonderlich betrübt gegen die Brust. Stefano hätte sich vermutlich breitschlagen lassen, doch als Laura plötzlich aus der Menge auftauchte mit ihrem noch halbvollen Korb bomboloni und der ins Gesicht geschriebenen Gleichgültigkeit, trat Maximilian einen Schritt vor: „Ich mach es.“
Es war keine Verzweiflung, die ihn dazu trieb, er wollte niemanden etwas beweisen, und es steckte auch keine Berechnung dahinter, nicht die Absicht, Laura zu ängstigen, noch jene, sie zu beeindrucken. Nichts war in ihm vorgegangen, kein Gedanke, nicht einmal ein Gefühl. Es war wie ein Reflex gewesen, etwas, was aus den Tiefen seines Rückgrats kam und ihn vorwärtsgehen ließ, das tun ließ, was getan werden musste. Erst als Erstaunen in ihre Gesichtern trat, Erleichterung, erst als sie ihm auf die Schultern klopften und zum Boot drängten, erst dann kam die Angst. Da suchte er ihren Blick, ihre glänzenden Augen, und sein Herz klopfte ihm laut in der Kehle.
Es wurde eine denkwürdige Fahrt. Das Boot ging in Position, er stellte die Bretter so, wie Scott es ihm eingeschärft hatte, und der Motor kreischte auf. Das Seil sprang aus dem Wasser und riss ihn mit der unbändigen Kraft entfesselter Pferde mit. Schon beim ersten Mal stand er, ein wenig gebückt und verkrampft zwar, doch je länger er über das spiegelglatte Meer flog, umso besser gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten, seinen Schwerpunkt so weit nach hinten zu verlagern, dass er seine Füße nicht überholte, die Beine zu schließen, mit federnden Knien die heftigen Schläge auszugleichen. Bald entspannte er sich, lehnte sich zurück, und plötzlich bedurfte es keiner Anstrengung mehr, keiner Konzentration. Er war schwerelos geworden, und jetzt flog er tatsächlich, flog zwischen den Elementen dahin, nicht mehr im Wasser und noch nicht in der Luft. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Er war wie im Rausch, im Rausch der Geschwindigkeit, die an seinen Füssen zerrte, an seinem ganzen Körper, und im Rausch des Triumphs, den er genauso deutlich zu schmecken glaubte wie das Salz in seinem Mund, so eindringlich spürte, wie den am Seil tanzenden Ring in seinen Händen. Obwohl er die jubelnde Menge nicht hören und im dichten Rauch der Abgase nur undeutlich sehen konnte, wusste er sie dort, wusste sie dort, wo er Laura wusste.
Matteo wagte einen lang gezogenen Halbkreis, und das Boot kam zurück, raste noch einmal die Küste entlang an den schreienden Menschen vorbei.
Später nach Minuten, Stunden, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, stand er mit wackligen Beinen am Ufer. Fremde umringten ihn. Jemand reichte ihm ein großes Handtuch. Dann drängte sich Laura durch die Umstehenden hindurch, schlang ihre Arme um ihn, küsste seinen Mund, seine Wangen, seine Augen, und auch er küsste sie, und er schmeckte ihre Tränen, aber vielleicht war es nur das Salz seines eigenen nassen Gesichts. Sie flüsterte unaufhörlich: „Du Dummer! Warum hast du das getan, warum nur?“ Er antwortete: „Ich weiß es nicht.“