3. Kapitel
Am Samstag wurde der Monolith gefunden.
Zuerst wusste es Concetta, Pieros Küchenhilfe. Doch das wunderte niemanden, denn sie war es stets, die die Pensione Moderna mit Neuigkeiten aller Art, mit Gerüchten und Geschichten versorgte. Nicht, dass das etwas abseits zwischen Dorf und Meer gelegene Haus ohne sie von der Grundversorgung mit Nachrichten abgeschnitten gewesen wäre. Gleich am Eingang, dort, wo Piero eine behelfsmäßige Rezeption eingerichtet hatte, hing eines der seltenen Telefone an der Wand. Es war ein Gerät neuester Bauart und wenn es klingelte, musste Laura oder ihre Schwester Vittoria oft loslaufen, um aus der nahen oder ferneren Nachbarschaft den zu holen, den man verlangte. Dann wurde in die Muschel gebrüllt, je weiter der Anrufer entfernt war, desto lauter, sodass das ganze Haus Anteil hatte. Und so gab es kaum ein Ereignis, ob Todesfall, ob Heirat oder Geburt, das ihnen entgangen wäre. Und doch, zu allem, was sich an der Küste zwischen La Spezia im Norden und Pisa im Süden ereignete, schien Concetta den besseren Draht zu haben. Sie war der modernen Technik stets eine oder zwei Stunden voraus. Als habe sie unsichtbare Fühler in jedem Dorf und jede Stadt im Umkreis von dreißig Kilometern, erschienen die Botschaften, die sie erhielt, wie plötzliche Eingebungen. Unvermittelt konnte sie dann den Holzlöffel in die kochende Polenta fallen lassen, um sich zu bekreuzigen. Lucchesis Tochter habe sich ein Bein gebrochen, hieß es dann, die Rothaarige mit dem zweifelhaften Lebenswandel, und sie dankte der Mutter Gottes für das Zeichen und hoffte, es sei Rita Warnung genug, auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Ob sie tatsächlich telepathische oder gar hellseherische Fähigkeiten besaß, war umstritten. Es gab Leute, die behaupteten, sie warte mit solchen Nachrichten einfach auf einen günstigen Augenblick, so lange, bis sie vorgeben konnte, diese aus dem luftleeren Raum gleichsam zu empfangen, ganz so, als sei sie im Besitz einer besonderen Gnade - Wichtigtuerei, sonst nichts, eine Vermutung, die nur schwer mit dem Vorsprung in Einklang zu bringen war, den Concetta vor allen anderen noch so geschwätzigen Frauen des Dorfes hatte. Andere vermuteten, sie habe ein besonders feines Gehör, mit dem sie auch weit entfernte Gespräche mühelos verfolgen konnte, und wenn sie in der Kirche oder in der Markthalle war, sei es ihr ein Leichtes, in wenigen Minuten sämtliche Neuigkeiten des Tages aufzunehmen, zumal sie zugegebenermaßen über ein hervorragendes Gedächtnis verfüge. Gegen die übersinnlichen Fähigkeiten sprach auch ein anderer Umstand. Stets war das, was sie zu berichten wusste, ein wenig übertrieben, manchmal auch stark übertrieben, und so hatte man sich angewöhnt, einen Grossteil des Sensationswertes ihrer Neuigkeiten einfach wieder abzuziehen, ein Verfahren, das im Laufe der Jahre vervollkommnet worden war und recht zuverlässig funktionierte.
Als sie am Samstagmorgen noch in der Tür von einem riesigen Marmorblock zu erzählen wusste, einem dreihundertfünfzig Tonnen schweren Stein aus reinstem Statuario genannt, dem größten jemals in den Bergen gefundenen Monolithen aus reinstem weißen Marmor, dividierte man die Zahl also im Geiste durch einen feststehenden Nenner, zog zur Sicherheit noch ein paar Tonnen ab und kam dennoch auf ein stattliches Ergebnis. Sollte dieser Stein auch nicht zwanzig Meter lang sein, wie sie unbeirrt behauptete, er war sicherlich der größte zusammenhängende Block, der seit vielen Jahren, vielleicht sogar seit alters her gefunden worden war.
Natürlich musste man noch abwarten. Manch ein scheinbar makelloser Stein erwies sich als brüchig. Unsichtbare Risse lauerten in seinem Innern, um bei der nächsten Gelegenheit den Block auseinander zu sprengen wie Glas. Geschah das nicht während des Transports, eines mühsamen Unterfangens, mit dem solch ein Ungetüm in tagelanger Arbeit mit Seilen und mit Hilfe von Ochsen, neuerdings auch mit dampfbetriebenen Traktoren, zu Tal befördert wurde, dann konnte bei der Bearbeitung die schönste Statue plötzlich auseinanderfallen, als habe sie jemand mit einem scharfen Messer in Scheiben geschnitten. Nicht umsonst hatte sich Michelangelo persönlich hinauf in die Steinbrüche bemüht, um darüber zu wachen, dass die von ihm ausgewählten Blöcke, mit der notwendigen Sorgfalt behandelt wurden. Denn oft genug rissen Seile, und die auf den parati, eingeseifte Buchenhölzer, rollenden Quader machten sich los und stürzten Abhänge hinab, stießen gegen Felsen und Mauern. Marmor war ein sprödes Element, spröde und weich.
Die Nachricht vom Fund des Monolithen verbreitete sich in Windeseile. Im Dorf wusste es jeder, und dieses Mal war es müßig zu raten, wie viel Vorsprung Concetta gehabt hatte. So atemlos, wie sie hereingestürzt kam, den Wagen mit dem Gemüse noch draußen vor der Tür in der prallen Sonne, schien sie nichts eiliger zu haben, als jeden Anteil nehmen zu lassen.
Unnötig zu erwähnen, dass der ungewöhnliche Fund wie jedes seltene Ereignis geeignet war, die wildesten Spekulationen über Sinn und Vorsehung, über Vergangenheit und Zukunft, über das Schicksal im Allgemeinen und im Besonderen sprießen zu lassen. Als handle es sich um einen neu entdeckten Kometen oder eine totale Sonnenfinsternis, stand außer Frage, dass dieser Fund etwas bedeutete. Was er bedeutete, darüber war man sich uneins. Schon um die Frage, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen sei, wurde erbittert gerungen. Während die einen den Stein als untrüglichen Hinweis auf einen besonders harten Winter werteten, auf einen Winter, in dem die Olivenbäume erfrieren würden, eine Katastrophe, die sich in schöner Regelmäßigkeit alle dreißig Jahre wiederholte und auf die man wartete, wie auf man auf ein unabwendbares Unglück wartet, der vielen gespendeten Kerzen zum trotz, stand für andere fest, schon die lange und schlanke Form des Monolithen, seine Erhabenheit müssten etwas Gutes bedeuten, müssten etwas mit Kirche, mit Königshaus, ersatzweise mit der glorreichen Zukunft des Vaterlandes zu schaffen haben, die Heimkehr der dalmatinischen Provinzen ankündigen beispielsweise, wenigstens das. Aber das waren noch längst nicht alle Erklärungen, und so sollten den ganzen Sommer über die Gerüchte schwirren, sollte jedes andere ungewöhnliche Ereignis, jede noch so kleine Auffälligkeit in einen unmittelbaren Sinnzusammenhang gebracht werden, so bemüht war man, die eigenen Annahmen durch zusätzliche Argumente zu stützen, um auch den letzten Zweifler von ihrer Richtigkeit zu überzeugen. Denn, so viel stand fest, sollte einer von ihnen recht behalten, Respekt und Achtung für alle Zeiten wären ihm gewiss.
Vielleicht war es diese Unruhe, die sich breit gemacht hatte, eine Ungewissheit, die an Angst grenzte, die die Bergarbeiter schon nach wenigen Tagen bewog, dem Rat der Gewerkschaft zu folgen und den Monolithen dem Duce zu schenken. So wie man einem mächtigen Gott Opfer darbietet in der Hoffnung, ihn und das Schicksal zu besänftigen, konnte auf diese Art und Weise gewiss auch der Stein von seinen zerstörerischen Anteilen gereinigt werden. Denn, welche Macht, ob irdisch oder nicht, hätte es mit dem Duce aufgenommen? Und wenn der Monolith als Obelisk erst einmal in Rom stünde, er wäre ein Denkmal für sie alle, für jene, die ihn dem Berg abgetrotzt hatten, wie für all die anderen, die in den folgenden Monaten die Straßen säumen sollten, um die lizzata, den langen Abstieg zum Hafen, zu feiern.
Für die Gäste der Pensione Moderna stellte der Monolith mehr als eine willkommene Abwechslung dar. Das Neue der ersten Tage hatte sich im abgesteckten Zirkel von Mahlzeiten, Strand und Spaziergängen gleichsam gesammelt und war zu wiederkehrenden Mustern geronnen, und so beschaulich diese Gewohnheiten waren, mehr und mehr meinten sie, hinausgetrieben zu werden, das Gefühl für die wirkliche Welt zu verlieren, einer Welt, die, nur wenige Schritte von ihrer Haustür entfernt, zurückzuweichen schien, um sie allein zu lassen auf ihrem luxuriösen Vergnügungsdampfer, der viele Meilen vom Land entfernt zwischen den Welten kreuzte. Nur Boris, der Marxist, saß manchmal auf dem Dorfplatz neben dem Brunnen, um die Menschen zu beobachten, die Frauen, die Wasser holten, die Maulesel mit ihren Lasten, die Bauern, die vom Markt kamen und die nicht verkauften Waren in ihren Handkarren die staubige Straße zurück zum Hof zogen.
In der Aufregung, in der Neugier und der Erwartung sahen sich die Pensionsgäste mit den anderen Dorfbewohnern vereint, mit den Arbeitern unten an der Verladestation, den Müttern und Töchtern, die ihre Wäsche gegen einen billigeren Stein als Marmor schlugen und jenen alten, schwarz gekleideten Frauen, die die ausgetreten Stufen zur Kirche hinaufschlurften, um Maria oder die Heiligen oder wen auch immer milde zu stimmen. Als sei er vom Himmel, aus großer Höhe auf die Erde gefallen, hatte der Monolith alle aufgerüttelt. Ein Erdbeben dessen Wellen die Berge hinabgestiegen waren bis über das Flussdelta im Norden hinaus und die Sümpfe im Süden. Die ganze Küste, dieser nur wenige Kilometer breite den Zweitausendern des Apennins, der Alpi Apuane, vorgelagerte Streifen war erschüttert worden, ein Stoß, der auch Pieros Gäste zurückgeholt hatte in die wirkliche Welt. Sie gehörten wieder dazu, und daran bestand kein Zweifel.
Aufgeregt wie Kinder umringten sie Concetta, die schwer atmend die Fülle ihres Körpers auf einen Stuhl hatte sinken lassen. Einiges musste in die verschiedenen Sprachen übersetzt, einiges den im Umgang mit Marmor weniger bewanderten, und das waren die meisten, anschaulicher erklärt werden. Und plötzlich stand der schweigsame Matteo im Mittelpunkt, der als Bildhauer am meisten von Steinen verstand. Schon sein Vater und Großvater hatten den Marmor bearbeitet, hatten daraus Kaminsimse, Waschbecken und Vasen gemacht, hatten ihn geschnitten und geschliffen, gefräst und poliert, und während Matteo langsam und mit tiefer Stimme den einen oder anderen Arbeitsgang erläuterte, blickte er auf seine großen Hände, die über unsichtbare Flächen glitten, über Kanten und Ecken, und so, wie er den Stein zu sehen schien, seine Hände ihn streichelten und tasteten, meinten auch seine Zuhörer den goldschimmernden Venato vor sich zu haben, einen grünlichen oder rosafarbenen Travertin.
Der Frühstückstisch im weinumrankten Hof war noch nicht abgeräumt, da beschloss man, den Fund gleich am nächsten Tag, einem Sonntag, in Augenschein zu nehmen. Mit Rücksicht auf die Kirchgänger unter ihnen, wurden die Pferdewagen für elf Uhr bestellt. Ein Hinweis, den die notorischen Langschläfer dem Amerikaner verdankten, der damit geschickt den allgemeinen Eifer bremste, auch wenn es außer der Wirtsfamilie und ihren Töchtern niemanden gab, der die kleine Kirche oberhalb des Dorfplatzes regelmäßig besuchte.
Es wurde ein richtiger Ausflug. Schon lange vor der vereinbarten Zeit fand man sich mit allerlei Sonnenschirmen und Hüten, in eleganten Sommerkleidern und leichten Anzügen vollständig im Hof ein. Selbst die blasse Lidia war mit von der Partie, auch wenn sie am Vortag keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie nicht allzu viel von solch beschwerlichen Vergnügungen hielt. Denn der Weg war weit und die Pferde langsam. Für die einfache Strecke mussten mindestens zwei Stunden veranschlagt werden.
Nicht einmal die Wirtsfamilie wollte sich das Schauspiel entgehen lassen, und so saß Piero mit seiner Frau Maria vorne auf dem Bock, die Töchter hatten den zweiten Wagen vorgezogen, der vom benachbarten Hotel ausgeliehen worden und der ungleich bequemer und größer war. Außerdem besaß er eine Stoffplane, die im Wind knatterte und vor der fast senkrecht stehenden Sonne schützte. Einzig Stefano fehlte, und man erzählte sich, er sei schon am frühen Morgen mit seinen Freunden losgezogen. Ob hinauf in die Berge zu den Steinbrüchen oder woandershin, blieb offen.
Maximilian saß ebenfalls im Hotelwagen, auch wenn er sich bald fragte, ob er nicht besser mit der Mehrzahl der anderen Pensionsgäste, das klapprige hauseigene Gefährt genommen hätte. Laura hatte sich nach vorne zu Sandro Lucetti gesetzt, einem Burschen, der in den Marmorsteinbrüchen arbeitete und gelegentlich im Hotel Principe aushalf und den Maximilian an diesem Tage zum ersten Mal sah. Dieser schien sich mit der Wirtstochter bestens zu verstehen. Sie sprachen in einem schnellen und für ihn unverständlichen Dialekt, und je länger Maximilian ihnen zusah, umso niedergeschlagener wurde er. In Sandros Anwesenheit konnte sie mit einer Unbeschwertheit lachen, die ihm das Herz zuschnürte, und wenn sie wie beiläufig ihre Hand auf seinen sonnengebräunten Arm legte oder ihm scherzhaft in die Rippen stieß, dann regte sich eine Mischung aus Angst, Wut und Hilflosigkeit in ihm, ein Gefühl, das er in ihrem Zimmer beim Anblick des Fotos des vermeintlichen Verlobten vermisst hatte. Jetzt war er eifersüchtig.
Es hatte ein paar Tage bedurft, um sie anzusprechen, um mehr zu sagen als guten Morgen oder gute Nacht, nach dem Essen zu fragen oder dem Weg zum Markt. Wäre die geheimnisvolle Verbindung nicht gewesen, die sich beständig hielt, seinen Zweifeln zum Trotz, er hätte es nicht gewagt. Aufmerksam und etwas ängstlich hatte er die Avancen des anderen Deutschen verfolgt, die Andeutungen und Anspielungen, die dieser mühelos einzuflechten wusste und die mit schlafwandlerischer Sicherheit stets jene unsichtbare Grenze zwischen Schicklichem und Unschicklichem ausloteten, ohne sie jemals zu überschreiten, hatte seinen Charme beobachtet, den er sich wie etwas Fremdes überziehen konnte, kaum wurde er ihrer ansichtig, einem Schauspieler gleich, der sich einen inneren Ruck gibt, wenn er vor den Vorhang tritt. Die gelassene Bestimmtheit, die freundliche Nachsicht, mit der Laura Josef zurückwies und auf Abstand hielt, hatte ihn beruhigt, aber auch entmutigt. Was konnte er in seiner Unerfahrenheit mehr bewirken als der andere?
Doch wie Josef von seiner geheimnisvollen Krankheit getrieben wurde, so verspürte auch er einen unwiderstehlichen Drang, etwas, was ihn gegen jede Vernunft, gegen jede Einsicht handeln ließ. Vielleicht war auch er krank, vielleicht litt jeder Mann an dieser seltsamen Satyriasis, von der Josef berichtet hatte, der eine mehr, der andere weniger, und vielleicht waren selbst Frauen nicht frei davon, mochte sich bei ihnen das Krankheitsbild auch anders darstellen. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage musste er an die stumme Hella denken, die wartende. Auch damals hatte er diese Unruhe verspürt, und mit jedem untätigen Tag, jeder untätigen Stunde war die Spannung gewachsen, bis sie schließlich unerträglich geworden war. Aber etwas hatte ihn zurückgehalten, etwas Stärkeres hatte ihn zögern und zurückweichen lassen. Erst an jenem letzten Tag, nach jener Nacht, in der er aufgestanden war, um sie zu suchen, als er sich völlig sicher gewesen war, sie stünde jetzt, genau in diesem Augenblick in ihrem weißen Nachthemd im hellen Mondlicht, dort an ihrem Treffpunkt vor dem Haus Wiking oder irgendwo anders, an einem Ort, der ihm einfiele, denke er nur eindringlich genug an sie, und den er nicht gefunden hatte, obwohl er die halbe Nacht umhergeirrt war, erst dann hatte er gewagt, sie anzusprechen.
Im Gegensatz zu damals, als er mit schweißnassen Händen vor dem mageren Mädchen stand und keinen zusammenhängenden Satz hervorbrachte, war es dieses Mal einfach gewesen, es hatte sich fast ohne sein Zutun ergeben.
Kurz nach dem Frühstück war er mit einem Buch in der Hand wieder im Hof erschienen und hatte sich einen Stuhl in die Sonne gestellt. Den anderen gegenüber, die wie jeden Morgen zum Strand drängten, eine gutgelaunte Karawane, die sich erst sammeln musste und deren Aufbruch sich über eine halbe Stunde hinzuziehen pflegte, hatte er einen Anruf erwähnt, auf den er warte, und sich einige Bemerkungen und Anspielungen über den vermuteten galanten Hintergrund anhören müssen.
Doch kaum hatten sich ihre Stimmen in der Straße verloren, ereignete sich das, worauf er gehofft, mit dem er aber nicht gerechnet hatte. Laura kam. Er hatte sich so hingesetzt, dass er die Tür im Auge behalten konnte, und so lächelte er ihr zu, freundlich, wenn auch ein wenig überrascht, so als sei er in Gedanken versunken gewesen, bei den Gedichten, die er zu lesen vorgab, bei dem Anruf, der nicht kam, oder als habe er in die Sonne hinein geträumt, wohlig der Wärme entgegenblinzelnd. Auch sie tat beschäftigt, wischte zum wiederholten Male über die Tische, starrte forschend auf dem Boden, bückte sich sogar, um selbst die Ecken genauestens in Augenschein zu nehmen. Beide sprachen sie kein Wort. Dann ging sie hinaus. Nach wenigen Minuten kam sie mit einer Schere wieder und begann den Wein zurückzuschneiden. Für die Triebe hatte sie einen weiß emaillierten Eimer mitgebracht.
„Wenn man sie nicht zurückschneidet, überwuchern sie alles. Es ist erstaunlich, wie schnell sie wachsen. Jeden Tag nur ein bisschen, so viel, dass man es nicht merkt, und doch, in einer Woche oder zwei kommt man kaum mehr durch die Tür.“ Mit jedem Halbsatz schnitt sie etwas ab, und das Knacken des brechenden Holzes unterstrich die Bestimmtheit, mit der sie sprach, die ruhige Konzentration, mit der sie zu Werke ging. Vielleicht war sie nervöser als er. Es war ihr nicht anzumerken. Noch nie zuvor hatte er sie so lange am Stück reden gehört, aber sie sprach langsam und vermied jeden Dialekt. Dank des Unterrichts, den er in Deutschland zur Vorbereitung auf seine große Fahrt genommen hatte, verstand er fast alles. Eine Weile blieb es still. Ihm fiel nichts Rechtes ein, was er hätte antworten können, und so hörte man nur das Summen der Bienen, die um die Blumentöpfe tanzten.
„Was lesen sie da?“
Vielleicht war es Zufall, vielleicht hatte er sich die Seite zurechtgelegt. Jedenfalls las er auf Deutsch:
„Nichts tilgt die Liebe,
nicht Trennung durch Berge,
nicht Zerwürfnis noch Ärger.
Durchdacht und verbrieft,
erprobt und geprüft –
meine Schwurhand heb ich zu unserem Heile,
jeder Finger eine poetische Zeile:
Ich gelobe aufs neue:
Liebe,
unverbrüchliche Treue.“
„Übersetzen Sie mir das?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann.“
Sie baute sich vor ihm auf, die Gartenschere in der Hand. Doch sie lächelte. „Das wird doch hoffentlich nichts Unanständiges sein?!“ Sie zeigte auf das Buch, das er auf den Tisch gelegt hatte. „Die russischen Revolutionsdichter sollen ja einen recht“ – sie suchte nach einem passenden Wort – „unbeständigen Lebenswandel gepflegt haben“.
Dass sie den Autor zu kennen schien, einen jungen und zudem weithin unbekannten Dichter, erstaunte ihn. Da er aber fürchtete, eine entsprechende Bemerkung könne sie verstimmen, beschloss er, darüber hinwegzugehen. Stattdessen sagte er: „Leben wir nicht alle in einer freieren Welt?“
Sie lachte. „Freiere Welt? Wie lange sind Sie schon in Italien? Drei, vier Tage? Warten Sie noch ein wenig mit ihrem Urteil!“
Es war ein merkwürdiges Gespräch. Sein Französisch und ihr Italienisch vermischten sich. Jeder von ihnen flocht einzelne Worte der jeweils anderen Sprache ein, und er war sich nicht sicher, ob sie sich wirklich verstanden.
„Bitte! Sagen Sie mir wenigstens, um was es geht!“ Jetzt wirkte sie wieder so jung, wie sie war, ernst und gespannt lehnte sie an einem der Tische. Die Schere hatte sie in den Eimer geworfen.
Er überlegte. Verlegen sagte er: „Es geht um Liebe...“
„... natürlich, la bohème!“
Fast wurde er rot. „Wo denken Sie hin! Sie tun ihm Unrecht. Es geht um Liebe, gewiss, aber um die unvergängliche Liebe, jene, die durch nichts zu erschüttern ist, und um Treue, um ewige Treue.“
Jetzt waren sie beide verlegen. Niemand wagte, den anderen anzuschauen. Schließlich sagte sie: „Sie sind sicher verheiratet.“
„Nein.“
„Verlobt?“
„Es gibt eine alte Jugendfreundschaft, die ich heiraten soll.“
„Soll?“
„Ja, mein Vater würde es gerne sehen.“
„Und Sie?“
„Ich weiß es nicht.“
Laura war zum niedrigen Mauerchen gegangen, auf dem die Geranien und Oleander standen. Sie stützte sich darauf und blickte lange hinaus, zum Meer vielleicht, dessen Tosen der Wind hinauftrug, unbeweglich bis auf eine Haarsträhne, die sich im Luftzug hob und senkte, flatterte wie ein Fähnchen. Als sie sich wieder umdrehte schien ihre nachdenkliche Stimmung verflogen zu sein. Gut gelaunt nahm sie den Eimer, um ins Haus zurück zu gehen. „Sagen Sie ihr etwas Nettes, wenn sie gleich anruft.“
„Ich verstehe nicht...?“ Dann lachte er und beeilte sich zu versichern, dass er auf einen rein geschäftlichen Anruf warte, die Nachricht seines Verlegers, wann sein Lyrikband endlich erscheine. Nein, das Schwelgen in Liebesgedichten sei rein zufällig und habe ganz gewiss nichts mit Anne zu tun.
„Anne?“ Sie horchte dem fremden Klang nach. „Ein schöner Name.“ Sie wandte sich zum Gehen.
„Laura, warten Sie!“
Sie war schon in der Tür, als sie sich umdrehte. In ihrer Miene war die unverbindliche Freundlichkeit der letzten Tage zurückgekehrt. In manch ähnlicher Situation hatte er aufgegeben und sich auf später, auf morgen, auf eine günstigere Gelegenheit vertröstet. Doch an diesem Tag war es anders. Vielleicht war es dieser stille Augenblick gewesen, als sie auf das Mauerchen gestützt hinaus gestarrt hatte, die Traurigkeit oder Schwere, die sich plötzlich gesenkt hatte auf sie wie auf ihn, das Gefühl, es sei zu spät, es sei jetzt zu spät, wie es auch vorher schon zu spät gewesen war oder es irgendwann einmal wäre. Ein kurzes Gefühl der Hoffnungslosigkeit, dem er nicht Recht geben wollte durch sein Schweigen.
„Wollen wir nicht zusammen spazieren gehen? Irgendwann, wenn Sie nicht arbeiten müssen, meine ich... Es gibt noch so vieles, über das ich gerne mit Ihnen sprechen würde!“
„Worüber möchten Sie sprechen? Über die Liebe? Über Ihre Verlobte?“
„Über was Sie wollen!“
„Das ist schwieriger, als Sie vielleicht denken. Ich habe sehr viel zu tun.“ In Anspielung auf ihr Gespräch über seine Jugendliebe fügte sie hinzu. „Und mein Vater sieht es nicht gerne, wenn ich mich mit den Gästen abgebe.“
„Also, nein?“
Sie zögerte. „Holen Sie mich morgen in der Mittagspause ab. Um halb drei bin ich mit der Küche fertig.“ Dann war sie verschwunden.
Der Weg schlängelte sich durch den Kastanienwald hinauf. Immer wieder musste ein schmaler Wasserlauf überquert werden. Dann rumpelten die eisenbeschlagenen Räder über die Holzbohlen. Darunter stürzte das Wasser zu Tal. Es war schattig und kühl.
Von hinten, von der letzten Bank aus, beobachtete Maximilian Laura und Sandro. Jetzt, da die Straße schmaler geworden war und die Pferde nur dem vorausfahrenden Wagen der Pension zu folgen hatten, lagen die Zügel lose in Sandros Hand. Er hatte sich Laura zugewandt und überließ die Tiere ihrem Lauf. Nur wenn sie zu weit zurückfielen, schnalzte er mit der Zunge. Dann schlossen sie wieder auf, und das vielstimmige Singen der Freunde wurde wieder lauter. Laura spielte mit der Peitsche. Wenn sie nahe genug am vorderen Wagen waren, rief sie etwas hinüber. Meist war es Scott, der zurückbrüllte oder Arkadij, der sie mit einem Scherz zum Lachen brachte. Kein einziges Mal hatte sie zu ihm zurückgeschaut, und Maximilian spürte, wie sich seine Eifersucht langsam in Wut verwandelte.
Ganz hinten auf der letzten Bank fühlte er sich von allem ausgeschlossen, und während sie sich den Bergwerken näherten, versuchte er zu ergründen, warum ihn Laura so offensichtlich mit Missachtung strafte.
Zwei Bänke vor ihm schienen auch Josef und Vittoria einer anderen Welt anzugehören. Jener redete auf sie ein, fuchtelte dabei mit den Händen, was vermutlich weniger seinem Temperament als den Verständigungsproblemen zwischen ihnen geschuldet war, und Maximilian konnte das nachgiebige Profil Vittorias sehen, ihre dunklen Augen, die jeder Bewegung des Deutschen aufmerksam folgten. Aber vielleicht bildete er sich das ein. Je mehr er litt, umso glücklicher erschienen ihm die anderen, umso mehr stieß er auf Einverständnis, auf Bewunderung und Hingabe.
Er dachte an jenen Spaziergang mit Laura zurück. An ihr Gespräch über Vieri, den toten Bruder, an die Zusammengehörigkeit, die sie empfunden hatten, auch sie, da war er sich sicher. An den Abend, als sie in den Salon gekommen war, um ihm zuzulächeln, in ihrer weißen Schürze und leise wie ein Dieb, während Lidia Puccini vortrug und Verdi und andere italienische Komponisten, deren Namen er vergessen hatte. Sie hatte nur für wenige Minuten neben der Tür an der Wand gestanden, und während Lidia dem Klavier die wunderbarsten Töne entlockte, hatten sie sich angesehen. Und wenn er die Augen schloss, dann stand sie noch immer vor ihm im Licht der gedämpften Lampen, lächelte sie noch immer jenes Lächeln, mit dem sie das Versprechen des Nachmittags zu erneuern schien. Mit einem unmerklichen Nicken war sie gegangen und hatte ihn in freudiger Erwartung zurückgelassen. Heute würdigte sie ihn keines Blickes. Er verstand sie nicht.
Endlich waren sie oben.