Epilog
7
Das Kind war jetzt wach. Es strampelte in seinem Arm. Mit großen blauen Augen griff es nach seinem Finger, nach seiner Hand. "Massimiliano!", flüsterte Maximilian von Kampen und lächelte. Das Kind brabbelte einige unverständliche Worte. Es ist ein Wunder, dachte er, ein Wunder.
Der Wind hatte aufgefrischt, ein freundlicher Abendwind, der vom Meer landwärts strich und die Wärme des Wassers in sich trug Es wäre schön gewesen, noch einmal zu baden, dachte er, während er vom hinteren Teil der Terrasse zurückkam, um ins Haus zu gehen.
Vor Vieris Büste blieb er stehen. Sie stand in einer Ecke der Terrasse, dort, wo die Sträucher ein dichtes Gestrüpp bildeten und sie in manch einem Jahr zu überwuchern drohten. Sie war sein einziges Werk geblieben. Als habe sich sein ganzer Eifer an diesem einzelnen Stein verausgabt – erschöpft, dachte er. Später hatte es ihm genügt, Matteo bei der Arbeit zuzuschauen, genauso still in dessen Werkstatt zu sitzen, wie er es manchmal auch noch nach seinem Tod getan hatte.
Zum ersten Mal seit langer Zeit blieb er wieder vor der Büste stehen. Er betrachtete Vieris Augen, suchte in den vorspringenden Augäpfeln jene des Marinefliegers und jene seines Sohnes, und er war sich nicht sicher, was er sah. Er waren harte Augen, kalte Steinaugen, und Maximilian fielen Matteos Worte ein. „Der Stein weint nicht, es sind die Menschen, die weinen.“ Wie oft hatte er das gesagt, wenn er ihm begreiflich zu machen versuchte, dass der Stein nichts bedeutete, dass es seine Hände waren, die ihn formten, der Betrachter, der etwas in ihn legte, was ihn zu Tränen rührte, zum Weinen oder zum Lachen brachte. Der Stein war kalt und so tot, wie er es schon immer gewesen war.
Maximilian fasste das Kind fester und ging hinein. Die feuchte Wärme des Hauses legte sich auf ihn, und er musste kurz innehalten, sich gegen die Wand stützen, als ihm schwindlig wurde. Plötzlich hatte er Angst, er könnte fallen und im Sturz das Kind verletzen, das er trug. Mit unsicherem Schritt ging er ins Gästezimmer, in Lauras Zimmer, verbesserte er sich in Gedanken. Er ging leise, damit ihn niemand hörte. Als er schließlich das Kind in seinen Laufstall gesetzt hatte, atmete er schwer. Müde ließ er sich zu Boden sinken.
Hart klopfte das Herz in seiner Brust. Er schwitzte. Das Kind saß auf seiner Decke und spielte. Lange sah er dem Kind zu. Und während Maximilian ihm zusah, schien sich das Kind von ihm zu entfernen, aufzubrechen in eine ferne und ungewisse Zukunft, in der es einen Maximilian von Kampen nicht mehr gab, in der von ihm nur noch eine blank geschliffene Marmorplatte auf dem Friedhof von Mirteto übrig war.
Er selbst war fast hundert Jahre alt. Wie alt mochte sein Urenkel werden? Er dachte an die Fortschritte der Medizin, an das neue Jahrtausend, das in seiner Vorstellung ein großes, geschlossenes Tor war. Er stellte sich das Jahr 2100 vor, eine unwirkliche, eine hellblaue, fast weiße Zahl, die in seinem Kopf schwebte wie in einem luftleeren Universum. 2120. Würde es immer so weitergehen?
Und er dachte zurück, an das ferne Jahr 1900, ein erdbraunes, schmutziges Jahr, so verblichen wie eine alte Fotografie, an seine Kindheit, an den Großen Krieg, an den Zweiten, an die elende Zeit dazwischen, an seinen eigenen Sohn, der es nicht geschafft hatte, der sich in den Jahren verloren hatte, wie so viele andere auch.
Wie konnte man weitergehen, vorwärts, wenn man das alles wusste? Wie viel Mut brauchte man, um zu überleben, wie viel unbändigen Lebenswillen? Was erwartete seinen Urenkel? Für einen Augenblick verkrampfte sich sein Herz, als ihm bewusst wurde, dass er ihn allein lassen musste, dass Massimiliano ohne ihn hinausgehen würde, so arglos und so blind, wie er selbst gegangen war. Er dachte an die schwarzen Vögel, die sich Abend für Abend draußen auf dem Meer sammelten, sich zusammenrotteten, um gemeinsam nach Osten zu fliegen. Er dachte an Pierino, seinen Enkel vor den Kontrollschirmen in seinem fliegenden Pilz und wünschte dem kleinen Massimiliano ein leichteres Los, als ihm selbst beschieden gewesen war.
Maximilian schloss die Augen. Ihm war immer noch schwindlig. Übelkeit stieg in ihm auf. Er war so müde, dass er meinte, jeden Augenblick einzuschlafen. Ohne die Kälte zu spüren, legte er den Kopf auf die Steinplatten.
Irgendwann wurde er ruhiger. Das Rauschen in seinen Ohren verstummte, und sein Kopf wurde klar.
Dann hörte er die Stimmen. Sie drangen aus dem Wohnzimmer, helle Frauenstimmen, die wie Schwalben in seinem Kopf weiterflogen, und Männerstimmen, wie aus bauchigen Musikinstrumenten. Es waren viele Stimmen, und er wunderte sich ein wenig, sie erst jetzt zu hören. Er stand auf, leicht, sprang fast auf die Beine, wie er es in seiner Jugend getan hätte, und öffnete die Tür.
Alle waren sie da. Ungläubig sah er in die Runde. Sein erster Blick fiel auf Laura. Sie saß am Kopfende des Tisches und lud ihn ein, sich auf den freien Stuhl neben sie zu setzen. Am anderen Ende saß Vieri, sein Sohn, ebenfalls lächelnd. Dazwischen Piero und Maria. Stefano drehte sich um und nickte ihm zu. Neben ihm saß Gina. Selbst Gianluca war da, bleich und finster wie immer. Matteo, der rauchend trank, Vittoria in einem luftigen weißen Kleid. Schüchtern ging Maximilian auf sie zu.
Als Maximilian von Kampen schließlich gefunden wurde, schien er zu schlafen.
Annalisa kniete sich neben ihm. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn, fühlte an seinem Hals nach dem Puls. Sie sah auf: „Mein Gott, ich glaube, er ist tot!“
Nein, er war nicht tot, er lächelte unsichtbar, einige Augenblicke hatte er noch.