1. Kapitel
An einem Sonntag im Juli kehrten Maximilian und Laura nach Italien zurück, um für immer zu bleiben.
Ein Schnellzug hatte sie in der Nacht von Genova nach Pietrasanta gebracht, ein Schnellzug, in dem die Menschen in Grüppchen auf dem Gang standen und aufgeregt jede Meldung ihrer Taschenempfänger kommentierten, während der Zug durch die Dunkelheit donnerte, vielleicht genauso laut, wie die Landefähre irgendwo über ihnen auf ihrem Weg zum Mond. Und zwischen den vielen Tunnels verrenkten sie sich die Köpfe, um zu der gelben Sichel hinaufzustarren, als sähen sie sie zum ersten Mal oder als könnten sie tatsächlich diesen seltsamen „Adler“ ausmachen, der, aus dem luftleeren Raum kommend, gleich darauf zustoßen würde. Mare Tranquilitatis, das Meer der Ruhe, ein schöner Name, hatte Maximilian gedacht und in sich hinein gelächelt. Auch er war auf dem Weg zum Mond, zu etwas Fernem, was plötzlich so nahe schien, so nahe, weil es endlich sein Zuhause werden sollte.
Acht Jahre sind das schon her, dachte er, acht Jahre! Und jetzt saß er wieder in einem Zug, der jenem Schnellzug von damals zum Verwechseln ähnelte. Seit Wochen besuchte er in Livorno Vieri, der dort im Sondergefängnis einsaß.
Maximilian passierte die Kontrollen. Türen, die aufgeschlossen wurden, Gitter, gepanzerte Glasscheiben, die vor- und zurückfuhren, bedient von unsichtbaren Männern, die über Lautsprecher zu ihm sprachen und ihn durch die toten Augen der Videokameras beobachteten.
Er war ein routinierter Besucher. Gleichmütig ließ er sich abtasten. Alles, was er bei sich hatte, wurde geöffnet, durchleuchtet, von piepsenden Metalldetektoren und feucht hechelnden Hundeschnauzen beschnüffelt. Er war ein harmloser Besucher, ein hagerer alter Mann mit kurzem weißem Haar und einer großen, schwarz umrandeten Brille, die seine grauen Augen leicht vergrößerte und ihn schüchtern, fast ängstlich erscheinen ließ. Er war unverdächtig, Waffen oder Kassiber zu schmuggeln, und die umständlichen Kontrollen waren wie ein Begrüßungsritual, jede Abkürzung wäre ein unverzeihlicher Mangel an Respekt gewesen. Vielleicht sah man ihn sogar gerne kommen, hatte er manches Mal gedacht; er, der politisch über jeden Zweifel erhaben schien, hatte vielleicht einen mäßigenden Einfluss auf den prominenten Gefangenen.
Vieri sah von seinem Buch auf. Der Raum war hell und freundlich. Neben dem Bett standen Blumen, ein Fernseher hing von der Decke. Wären die milchigen Scheiben der Fenster nicht gewesen, die allgegenwärtigen Kameras, sie hätten in einem beliebigen modernen Krankenhaus sein können.
„Ciao, Papà.“
Maximilian blinzelte. Er hatte sich noch immer nicht an diese Anrede gewöhnt, und wie jedes Mal spürte er einen kleinen Stich in der Brust, das Herz, das kurz innezuhalten schien, um dann schneller weiterzuschlagen.
„Mamma ist zuhause geblieben. Es ist besser für sie, wenn sie dich nicht sieht.“
Vieri wandte sich ab. Sein Vater sah zu Boden.
Es waren schon viele Tage vergangen, seit sich Vieri dem Hungerstreik der politischen Gefangenen angeschlossen hatte. Aber es war nicht die Anzahl der Tage, die sich zunächst zu Wochen verdichtet hatten, später zu einem ersten unglaublichen Monat, die Laura ängstigte. Es war Vieris Schwinden. Eine langsame, aber stetig fortschreitende Auflösung, die im abnehmenden Körpergewicht eine nur unzureichende Entsprechung fand. Es waren die Augen, die sich in ihre Höhlen zurückzuziehen schienen, ihr verblassender Glanz, die Stimme, die von Tag zu Tag schwächer und fremder wurde, die dünne, fast durchsichtige Haut, der immer kahlere Schädel.
Zu Beginn hatte ihn Laura täglich besucht. Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der sie dreiunddreißig Jahre zuvor täglich den langen Weg von Carrara zu Maximilians Posten in Monteforte gegangen war, stieg sie in den Zug. Als sei der Krankentrakt des Sondergefängnisses nichts anderes als eine renommierte Klinik mit herausragenden Spezialisten, klang aus ihrer Stimme eine besondere Achtung heraus, wenn sie vom ospedale sprach, dem Krankenhaus, das auch die weiteste Anfahrt rechtfertigte. Das äußerte sie jedenfalls gegenüber den Verwandten, gegenüber Nachbarn und Bekannten, und Maximilian fürchtete manchmal, sie glaube selbst daran, glaube selbst, Vieris „Krankheit“ könne, ähnlich wie Krebs, durch eine bahnbrechende neue Behandlungsmethode oder durch ein neu entdecktes Medikament besiegt werden.
Doch dann hatte sie eines morgens gesagt: „Ich bin müde, es ist ein Krieg, der nie aufhört, nicht, solange es Männer gibt, und ihr spielt Krieg, so wie ihr als Kinder Krieg gespielt habt, und es ist euch egal, wen ihr mit ins Verderben reißt.“ Und später: „Max, ich kann nicht mehr. Er stirbt vor unseren Augen, jeden Tag ein Stück. Und niemand kann von mir verlangen, dass ich mir das bis zum Ende anschaue. Sag du es ihm.“
„Es bringt sie um“, fügte sein Vater leiser hinzu.
„Wenn du gekommen bist, um mir Vorwürfe zu machen...“
„Nein, es tut mit Leid.“
Maximilian saß wie immer auf einem Stuhl am Kopfende des Bettes. Meistens war er es, der sprach, während sein Sohn zuhörte. Vielleicht schlief er auch, denn oft hatte er die Augen geschlossen und atmete kurz und ein wenig angestrengt durch den halb geöffneten Mund.
Am Anfang hatte er seinem Sohn Fragen gestellt. Er hatte versucht, ihn zum Reden zu bringen, so als müsse der Weg zueinander zwangsläufig über Erklärungen führen, als sei jedes Schweigen eine Verweigerung, jeder unausgesprochene Satz ein Rückzug. Doch erreicht hatte er damit das Gegenteil, lange Sitzungen, in denen sich Erwartungen und Enttäuschungen so unauflösbar miteinander verbunden hatten, bis nur noch Stille den Raum füllte.
Hätte Maximilian nicht irgendwann aufgegeben, hätte er nicht irgendwann selbst zu reden begonnen, wären sie sich vermutlich niemals näher gekommen. Doch eines Tages brach es aus ihm heraus, zuerst aus Verzweiflung, später, weil es ihnen beiden zu helfen schien. Er erzählte vom Krieg, vom ersten und vom zweiten, von seiner frühen Zeit in Portoclemente, von seiner Arbeit beim Verlag, unbedeutende Geschichten, Anekdoten zumeist, manchmal auch mehr, und bald kam er sich wie bei einem Beichtvater vor, in einer seltsamen therapeutischen Sitzung, in der die Rollen vertauscht schienen, in der er der Patient war, während sein Sohn nur seine schiere Anwesenheit einzubringen brauchte. Denn selten ging dieser auf etwas ein, entwickelte sich ein echtes Gespräch.
Aber es hatte auch Tage gegeben, an denen Vieri geredet hatte, zuerst halblaut und kaum verständlich mit geschlossenen Augen, später aufrecht im Bett sitzend wie jemand, der einen Alptraum hat, dessen weiße Zimmerwände mit Bildern bevölkert sind, die nur er sehen kann und die er mit zitternden Händen zu greifen sucht.
„Wie ist das Wetter?“
„Es ist ein schöner Tag, achtundzwanzig Grad, leichter Südwest.“
Vieri starrte zum milchigen Fenster. „Ja, das Licht ist gelb, fast rötlich. Ein paar Schleierwolken vielleicht. Es wird Herbst.“
Sie schwiegen lange, während es draußen langsam dunkler wurde.
„Ist dir schon aufgefallen...“ Mühsam richtete sich Vieri auf. Er schien schwächer geworden zu sein. „Jedes Krankenhaus riecht gleich. Nach Essen und nach Desinfektionsmittel.“ Er schnüffelte. „Es sind tausend Gerüche, und doch, alle zusammen ergeben immer den gleichen. Immer riecht es nur nach Apfelmus. Verstehst du das?“ Maximilian schüttelte den Kopf. Vieri lächelte. „Selbst hier...“ Eine Weile bleib es still. Schließlich fuhr Vieri fort: „Gina starb in einer Novembernacht. Im Krankenhaus von Massa. Es sind jetzt fünfzehn Jahre her. Sie hatte Brustkrebs. Es ging zu Ende, und sie wusste es, oder die Ärzte hatten es ihr gesagt. An diesem letzten Abend wollte sie die Kinder noch einmal sehen.“ Er schloss die Augen. “Stefano stand an der Wand. Versteinert. Annalisa weinte still. Und die Kinder tobten durch das Zimmer. Sie wollten Schokolade und wären am liebsten auf dem Bett herumgesprungen. Schließlich haben sie ihrer Großmutter noch einen Kuss gegeben, und wir sind gegangen. Und da waren diese Gänge, stille, dunkle Gänge, und überall hing der Geruch nach Apfelmus in der Luft.“ Er schüttelte sich. „Ich kann es nicht vergessen.“
„Das hast du mir nie erzählt.“
„Nein. – Du warst nicht da. Du warst nicht da, so wie du meistens nicht da gewesen bist.“
„Du weißt, deine Mutter... Außerdem ist es eine lange Reise...“
„Ich weiß. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich habe selbst lange Zeit gedacht, es wäre das Beste, ihr würdet für immer in Deutschland bleiben.“
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden dachte Maximilian an den Tag ihrer Ankunft zurück.
„Es ist nur... Manchmal stelle ich mir vor, wie es gewesen wäre, eine richtige Familie zu sein. Nicht so, nicht dieses ewige Hin und Her...“
„Es ist noch nicht zu spät.“
Vieri sah zu ihm herüber. Dann schloss er die Augen.
Alle waren sie zur Hauseinweihung gekommen. Stefano, seine Tochter Annalisa mit ihrem Mann und den Kindern, Vieri, seine Frau Paola, Pierino, ihr Jüngster, Gianluca und Marietta. Selbst Matteo hatte plötzlich in der Tür gestanden, linkisch mit einer kleinen Topfpflanze in Händen. Maximilian hatte den Bildhauer in den Sommern regelmäßig in seinem Haus unter an der Uferstraße besucht und ihm beim Arbeiten zugesehen.
Das Radio hatte sie immer wieder unterbrochen, wenn es etwas Neues von der Mondlandung gab. Dann war eines der Kinder auf die Terrasse gestürzt, um "Sie sind jetzt noch soundsoviele Kilometer entfernt!" oder "Sie haben sich gerade abgekoppelt!" zu rufen, und Laura hatte die Stirn gerunzelt: "Abgekoppelt?", während Stefano mit einer wegwerfenden Handbewegung gemurmelt hatte: "Die Amerikaner..."
Maximilian und Laura waren in der Nacht angekommen und hatten bis in den Vormittag hinein geschlafen. Dann hatten sie das Haus in Besitz genommen. Sie hatten es im Winter gekauft und nach und nach mit Annalisas Hilfe eingerichtet. Einen Teil der Möbel hatten sie aus Deutschland geschickt, einiges war neu oder stammte aus der Pension. Auch wenn noch vieles fehlte – es gab keine Bilder und keine persönlichen Gegenstände – sie hatten sich auf Anhieb zu Hause gefühlt. Die Räume waren hell und luftig, rote Steinplatten bedeckten die Böden, und die Eichenträger, die Gianni, Annalisas Mann, sorgsam freigelegt hatte, erinnerten an das mittelalterliche Gebälk der Bergdörfer, sie strahlten Beständigkeit aus, die beruhigende Schwere der Jahre.
Das Haus hatte wenige Zimmer und keinen richtigen Garten. Dafür gab es eine große Terrasse, die mit Pflanzenkübeln und Töpfen vollgestellt war. Sie lag nach Norden, und da sie ein wenig erhöht war, umgab sie eine niedere Mauer aus grauem Gips. Auch darauf standen Blumenkästen, blühten Geranien und Oleander.
Für den Lido hatten sie sich eher zufällig entschieden. Portoclemente war nicht weit, Pietrasanta nur ein paar Kilometer landeinwärts gelegen, und als sie in der durchsichtigen Luft dieses ersten Morgens auf ihrer Terrasse standen, zur Rechten den Blick auf den nördlichen Apenninenbogen bis zur Festung von Punta Bianca, zur Linken die niedrigen Häuser des Dorfes, die Dächer, zwischen denen das Meer in der Julisonne blitzte, da dachten sie beide an die Straßenbahn, die sie zum ersten Mal hierher gebracht hatte und die es bald dreißig Jahre nicht mehr gab, an jenen Ausflug, als Maximilian zum ersten Mal ihren Busen berührt hatte, sie sich später, im niedrigen Wasser stehend, aneinander geklammert, sich festgehalten hatten, als könnten sie die Zeit anhalten. Merkwürdig, wie nah das jetzt plötzlich schien, auch wenn nicht nur ein paar Hundert Meter dazwischen lagen, sondern ein ganzes Leben.
Pierino kam auf die Terrasse gerannt: „Sie sind gelandet!“ Er stolperte und wäre gefallen, hätte ihn seine Mutter Paola nicht aufgefangen.
Ohne sich umzudrehen, deutete Matteo mit dem Kinn auf die Berge, die in der Hitze des Nachmittags zu verblassen begannen. Der Wind hatte gedreht, und in ein paar Tagen wären sie ganz verschwunden. „Das ist unser Mond. Wenn wir Steine brauchen, dann holen wir sie uns dort. Den anderen überlassen wir den Verliebten. Den Verliebten und den Hunden.“ Er hielt ein Glas Weißwein in Händen. Es war beschlagen. „Was sollen wir mit Staub, mit Sand, mit einer ganzen Wüste voll davon?“ Er schüttelte den Kopf, der mit dem lichten, kurz geschnittenen Haar noch massiger wirkte.
Maximilian folgte Matteos Blick. Seit jenem Sommertag im vorletzten Kriegsjahr war er nicht mehr in den Bergen gewesen.
"Aber vielleicht gibt es dort oben Marmor. Vielleicht besteht der Mond aus reinstem Statuario. Der Mond und alle Planeten, das ganze Universum.“ Matteo lachte. „Dann bin ich der Nächste, der hochfliegt!“ Wie immer stand er etwas nach vorne gebeugt da. Eine Haltung, die er sich über die Jahre in der Werkstatt angewöhnt hatte. Er trank einen Schluck und legte Maximilian die Hand auf die Schulter. „Weißt du, ich habe mir etwas überlegt. Jetzt, da du da bist, ich meine, wo du doch hier bleibst...“ Das Alter schien ihn gesprächiger gemacht zu haben, dachte Maximilian, gesprächiger und offener. „Du hast jetzt eine Menge Zeit. Warum lässt du dir von mir nicht ein bisschen was zeigen?“ Es sei gar nicht so schwer. Matteo zog Maximilian zur nächsten Topfpflanze. Als sei diese eine halb fertige Venus, nahm er Maß. Und während er manches technische Detail erklärte, schwang er imaginäre Hammer und führte unsichtbare Meißel. Schließlich malte er aus, wie es wäre, gemeinsam in der Werkstatt zu arbeiten. „Und wenn es uns langweilig wird, dann holen wir uns eines dieser freizügigen jungen Dinger und lassen es Modell stehen! Was hältst du davon?“
Maximilian hatte in all den Stunden in der Werkstatt des Freundes nur selten daran gedacht, aber plötzlich wusste er, dass er sich diesen alten Traum erfüllen wollte. Er war begierig, seine Hände auf den Stein zu legen, seinen Widerstand zu spüren und sein Nachgeben, seinen Eigenheiten zu folgen, ihn abzuschlagen und zu glätten, zu formen nach dem Bild, das er sich von ihm machen würde.
Pierino kam erneut auf die Terrasse gerannt. Er schien geweint zu haben und schniefte. Obwohl er schon zehn Jahre alt war, war sein Gesicht so weich und offen wie das eines jüngeren Kindes. Er ähnelte mehr der Mutter oder der Großmutter als dem Vater. „Nonno, nonno, Luca hat mir meinen Schlüsselanhänger weggenommen!“
Paola, die ihm gefolgt war, sagte: „Gianluca, gib dem Kind sofort seinen Anhänger zurück! Ich weiß gar nicht, warum du dich immer mit ihm anlegst. Er ist doch fast zehn Jahre jünger als du!“
Gianluca hob die versilberte Münze in die Höhe. „Wollen wir doch mal schauen...“ Er ließ sie vor seinen Augen baumeln. „John Fitzgerald Kennedy, genannt der Kriegsverbrecher. Welch wunderbares Geschenk für unseren unschuldigen Kleinen!“ Er drehte die Münze um. „Und wen haben wir denn da? Johannes der Dreiundzwanzigste. Pontifex maximus. Das passt ja prima zusammen!“ Er hielt die Münze am Schlüsselclip eine Armeslänge über Pierinos Kopf, der vergeblich danach griff. Mit einer schnellen Bewegung warf er den Anhänger dann weit hinaus ins Gebüsch. „Oh, wie unachtsam von mir! Jetzt ist er mir doch tatsächlich entglitten.“
Pierino heulte auf, und Paola sagte: „Bist du vollkommen übergeschnappt? Das hat fünfhundert Lire gekostet!“
Sie war braun gebrannt und trug ein am Rücken tief ausgeschnittenes rot und gelb geblümtes Sommerkleid. Das dezent blondierte Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Sie war sorgfältig geschminkt, und wenn sie nervös war, spielte sie mit ihren goldenen Armreifen oder der Zuchtperlenkette, die ihr in mehreren Reihen fast bis zum Brustansatz fiel. Obwohl sie auf den ersten Blick nur unwesentlich älter als ihr Sohn Gianluca erschien, konnten die beiden kaum unterschiedlicher sein. Er war einen Kopf größer und beängstigend dünn. Der unregelmäßig sprießende Bart und die dunkle Sonnebrille ließen sein Gesicht kaum erkennen. Hinzu kamen die langen Haare, die mit einem bunten Stirnband festgehalten wurden und ihm über Stirn und Wangen fielen. Er trug eine zerschlissene Armeejacke mit der Aufschrift Fuck the army, ausgebleichte Jeans, auf denen er mit Kugelschreiber weitere Symbole und Parolen aufgemalt hatte, dazu hohe Schnürstiefel. An einem Lederriemen um seinen Hals hing ein abgesägter Mercedes-Stern.
„Und überhaupt, wie du wieder rumläufst! Wenigstens heute hättest du dir etwas Ordentliches anziehen können.“ Sie stand hinter Pierino und hatte die Hände auf seine Schultern gelegt. „Du bist wie dein Vater, ein ewiger Querkopf.“
„Es sind die Zeiten, Signora, es sind die Zeiten.“ Matteo klang, als habe er neben Kindern und Enkeln auch unzählige Urenkel aufwachsen sehen. Er hob die Hand zum Himmel und fügte hinzu: „Wir sind auf den Mond gelandet, aber unsere Kinder tanzen uns auf der Nase herum!“
„Die Amerikaner sind auf den Mond gelandet!“, sagte Pierino triumphierend.
Gianluca strich seinem kleinen Bruder über den Kopf. „Ja, mein kleiner Schatz. Du hast vollkommen Recht, es sind unsere mordenden Freunde, die Amerikaner, die auf dem Mond gelandet sind. Nicht wir, und auch nicht die Russen und die Chinesen schon gar nicht.“
„Was ihr nur immer gegen die Amerikaner habt!“ Paola schüttelte den Kopf.
„Vietnam, Mamma, Vietnaaam!“, sagte Marietta, die gerade dazugekommen war. Ihr Rock reichte knapp über den Hintern, und Matteo musste sich zwingen, woanders hinzusehen.
„Wenn ich Pilot bin, dann fliege ich nach Vietnam und helfe den Amerikanern.“ Pierino versäumte es nicht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf sein heiß ersehntes Berufsziel hinzuweisen. Schon mit vier Jahren hatte er Astronaut werden wollen.
Gianluca beugte sich vor, streckte die Arme nach hinten und rannte über die Terrasse. Dabei rief er: „Wo steckt ihr Schlitzaugen? Hier kommt Pierino, der Schrecken des Himmels und der Erde! Wir bomben euch zurück in die Steinzeit! Nehmt schon mal das: Buuum! Und das: Buuuuum!“ Beinahe wäre er mit Stefano zusammengestoßen, der gerade aus dem Wohnzimmer kam. „Und hier kommt Napalm: Bubububuum!“
„Mamma, was ist Napalm?“
Gianluca zündete sich eine Zigarette an. Leise fügte er hinzu: „Aber dann kommen die Chinesen, viele Chinesen, Millionen davon, und jeder von ihnen hat eine Kalaschnikow, und damit holen sie Pierino vom Himmel, den armen Pierino.“ Und während er das taktaktak der Maschinenpistole nachmachte, stieß er Pierino den Zeigefinder in Brust und Bauch, dass dieser aufschrie.
Es war ein gelungenes Willkommensfest. Annalisa hatte sogar Papiergirlanden angebracht und ein Transparent über die Eingangstür gespannt: Benvenuti! Die Pflanzen hatte Gianni mit dem Transporter gebracht. Auch das Essen stammte aus der Pension, die seit Ginas Tod von Stefanos Tochter und ihrem Mann geführt wurde. Stefano selbst schien sich nicht mehr dafür zu interessieren.
Nach dem Essen - Gianluca und Marietta hatten die Gelegenheit genutzt, um sich zu verabschieden - saßen Laura und Annalisa noch zusammen. Stefano war in seinem Sessel eingenickt. Vieri und Gianni rauchten schweigend am Esstisch. Nur wenn einer von ihnen Grappa nachschenkte, wechselten sie ein paar Worte.
Inzwischen war es dunkel geworden. Durch die weit geöffnete Terrassentür drang das Kreischen der Zikaden herein. Die Kinder spielten draußen, und Maximilian, der ihnen eine Weile lächelnd zugesehen hatte, ging zum hinteren Teil der Terrasse. Er legte die Hände auf die kühle Mauer und starrte hinaus in die Nacht. Der zunehmende Mond war von einem Schleier umgeben. Wie in jeder Sommernacht brannten oben in den Bergen die Wälder, nur einzelne kleine Feuer an diesem Tag, über denen unsichtbar der Rauch stand, sich schwarz und schwer über die Flammen legte und sie dunkelrot erscheinen ließ, fast kalt. Dazwischen die Lichter der Häuser, die Scheinwerfer der Autos, die sich wie Finger durch die Bäume zu tasten schienen. Tief sog er die Luft ein. Er suchte das Meer. Es roch nach nassem Staub, nach feuchtem Gras, nach dem Salz der Gischt.
Paola kam mit dem Kaffee aus der Küche und setzte sich in den freien Sessel zu den beiden Frauen.
Laura beobachtete Annalisa, wie sie ihr half, die Tassen zu verteilen, Zucker und Löffel herumzureichen. Sie war Mitte dreißig und sehr groß. Der Mode entsprechend trug sie ihre braunen Haare lang und offen. Sie hatte ein ruhiges, nicht wirklich schönes Gesicht, das alterslos schien. Es war ein Gesicht, das man sowohl einer Zwanzig- als auch einer Sechzigjährigen zugetraut hätte, und Laura, die sie ein wenig darum beneidete, fuhr sich wie so oft in ihrem Beisein über die grauen, hochgesteckten Haare, schürzte die Lippen, die sich dünn und kraftlos anfühlten. Sie verstanden sich gut. Laura mochte ihre nüchterne Art und die Leichtigkeit, mit der sie alles im Griff zu haben schien.
Mit der Frau ihres Sohnes tat sie sich schwerer. Vieri hatte die Enkeltochter des alten Del Nero geheiratet, des ehemaligen Prefetto. Paolas Vater saß für die faschistische Partei in Rom, und so hatte sie lange Zeit dort gelebt. Das großstädtische Gehabe, das sie manchmal an den Tag legte, die Art, wie sie sich über die Provinzialität der Küstenregion ereifern konnte, stieß sie ab. Auch dafür, dass ihre Ehe mit Vieri nicht besonders glücklich zu sein schien, gab Laura ihr die Schuld, obwohl sie anerkennen musste, dass es nicht ganz einfach war, mit ihrem Sohn auszukommen.
„Eine nette kleine Feier, meine Liebe. Alles so schlicht und unprätentiös und doch so stilvoll!“ Paolas Hände, die einige unbestimmte Bewegungen vollführt hatten, kamen auf ihren Knien wieder zur Ruhe.
„Wirklich, Annalisa, wir waren ganz gerührt, als wir gestern ankamen...“
„Das ist doch selbstverständlich.“
„... dabei gibt es in der Pension doch bestimmt jede Menge zu tun!“
Eine Weile unterhielten sie sich über die Besucherzahl, die auch in diesem Jahr wieder angestiegen war. Wenn der August keine unangenehme Überraschung brachte, gäbe es einen neuen Rekord. Wie die meisten anderen Hotels war auch die Pensione Moderna ausgebucht.
Als wäre ihr Stichwort gefallen warf Paola ein: „Ich habe übrigens über euer Namensproblem nachgedacht.“ Annalisa seufzte leise. “Wie wäre es mit Tropicana? Das klingt exotisch und hat Pep. Oder Mercedes? Villa Mercedes vielleicht. Hat für mich etwas Exklusives und Elegantes: Internationales Publikum in luxuriösem Ambiente oder so. Aber vielleicht mögt ihr es lieber Italienisch? Dann schlage ich Maremonti vor. Also, mir würde das gefallen: Maremonti.“ Sie sann dem Klang des Wortes nach. „Pensione Moderna ist antiquiert, einfach nicht mehr zeitgemäß. Man denkt dabei doch gleich an die fünfziger Jahre! Ich meine, modern ist nicht mehr modern, nicht wahr?“
„Wir tun uns ein wenig schwer, mit der Tradition zu brechen. Besonders ich. Gianni ist da viel offener.“
„Tradition, Tradition! Wer spricht denn heutzutage noch von Tradition? Da muss ich Vieri ausnahmsweise Recht geben, ihr seid schon ein klein wenig spießig!“
„Ich denke oft an die Großeltern, an Piero und Maria. Ich glaube, sie hätten das nicht gewollt.“
„Mein Gott, sie sind seit fünfundzwanzig Jahren tot!“
Laura hatte schweigend zugehört. Auch ihr behagte die Vorstellung nicht, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, plötzlich verändert zu sehen. Und es war nicht nur der Name. Seit Jahren lag ihnen Paola in den Ohren, sie sollten erweitern, anbauen, die Gunst der Stunde nutzen und die Pension zu einem richtigen Hotel machen, zu einem Treffpunkt für den internationalen Jetset, wie sie sich auszudrücken pflegte, jetzt wo Könige und Wirtschaftsmagnaten, Schlagersänger und Sportstars Portoclemente entdeckt hatten. Doch Laura beobachtete diese Begeisterung mit Sorge. Schon einmal hatte die Region einen Aufschwung ohnegleichen erlebt, und dann waren zwanzig magere Jahre gefolgt.
Vieri, der schon eine Weile ziellos im Zimmer umher gegangen war und sich beiläufig umgesehen hatte, gesellte sich zu ihnen. Er ließ sich auf die Couch fallen. Mit den Fingern rieb er sich die Augen.
„Du hast getrunken“, stellte Paola fest. Vieri antwortete nicht. Eine Weile sagte niemand ein Wort.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte Laura.
„Warum sollte es mir nicht gut gehen?“ Vieri sah auf. „Ich habe eine wunderbare Frau, drei wohlgeratene Kinder, und meine Mutter und mein Vater haben beschlossen, nach fast einem halben Jahrhundert zum ersten Mal gemeinsam im gleichen Land zu leben wie ich. Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, würde ich Purzelbäume schlagen vor Glück.“
„Musst du immer alles verderben?“ Paolas Gesicht war hart geworden.
Vieri antwortete nicht. Annalisa stand auf und begann die leeren Gläser und das Kaffeegeschirr in die Küche zu tragen.
„Nein, mein Lieber, du bist nicht mehr zwanzig, aber du führst dich auf, als wärst du es“, fuhr Paola fort. „Der Herr Professor! Wann hast du das letzte Mal eine Vorlesung gehalten oder ein Seminar? Vor einem Jahr? Oder sind es schon zwei? Wenn du eine richtige Arbeit hättest, ich meine, eine Arbeit, wie sie andere Männer haben, dann ginge es dir besser. Und du kämst auch nicht auf dumme Gedanken.“
„Ich glaube nicht, dass du das verstehst.“
„Nein, deine Frau versteht das nicht. Deine Frau ist nämlich dumm, strohdumm. Sie hat keine Ahnung vom Leben und auch keine Augen im Kopf!“
Vieri seufzte. Er machte Anstalten aufzustehen. „Es ist besser, wenn ich nach Pisa fahre.“
„Ja, fahr du nur nach Pisa! Fahr nur zu deinen Studentinnen.“ Heftig stieß sie die Luft aus. „Studentinnen, dass ich nicht lache! Was studieren die denn, diese Flittchen? Ich weiß schon, was die besonders gut können, aber ich halte lieber meinen Mund!“
Abermals seufzte Vieri. Zu Laura gewandt sagte er: „So ist Italien, Mamma. Aber vielleicht ist es nur diese von aller Vernunft verlassene Gegend, in der sich der blinde Kleinbürger dem historischen Wandel entgegenstellt.“ Er lachte rau, und dann sprach über die Zeiten, die sich geändert hatten, und über das neue Denken, das jetzt hoffentlich bald Einzug halten würde. Schließlich stand er auf. „Es wird Zeit für mich. Grüßt du deinen Mann von mir?“
„Willst du das nicht selbst tun?“
Er schüttelte den Kopf. Dann hob er die Schultern, fast entschuldigend fügte er hinzu: „Es ist der erste Tag...“ Und dann lächelte er, und es war ein Lächeln, das Laura an früher erinnerte, an den halbwüchsigen Sohn, den sie einmal hatte, dem oft dieser Ausdruck im Gesicht stand: spitzbübisch und ein wenig verlegen.
Später, als Laura mit Maximilian im Bett lag, erzählte sie ihm von diesem Gespräch: „Es war seltsam, er klang fast wie du, damals...“
„Ich war sehr jung.“
„Es ist merkwürdig, ich habe niemals daran geglaubt, weder damals noch jetzt. Und doch, es ändert sich etwas, immer ändert sich etwas, ohne dass wir es merken.“
Sie kuschelte sich an ihn. Während seine Hand über ihre kühle Haut strich, sah er zum Fenster, das sich wie ein graues Rechteck in der Schwärze der Wand öffnete. Noch immer sangen die Zikaden. Wie eine unsichtbare Hand bewegte ein Luftzug die Vorhänge.
Als er schon glaubte, sie sei eingeschlafen, sagte sie: „Weißt du, ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass wir dieses Leben führen könnten. Ich meine, dass wir hier zusammen leben würden.“
„Ja, es hat sehr lange gedauert.“
Sie legte sich auf ihn und küsste ihn. „Vielleicht...“ Ihre Zunge tastete über seine Lippen, während ihr Becken sich gegen den seinen drückte. „Vielleicht ist es ein Traum.“ Sie stöhnte leise auf. „Wenn ich also schlafen sollte“ – sie öffnete die Schenkel und suchte den Widerstand zwischen seinen Beinen – "dann lass mich schlafen.“