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Stützpunkt der MCM Kathil, Radcliffe, Kathil Kathil-PDZ, Mark Capella, Vereinigtes Commonwealth22. November 3062
David studierte die grobe Skizze der Ostküste Murans, die Tara Michaels auf die Wandtafel gezeichnet hatte. Mechförmige Magneten waren über die bunte Zeichnung verteilt und markierten die geschätzten Positionen der 8. RKG und die entsprechende Verteilung der Miliztruppen. Ein Spinne-Magnet markierte leichte Lanzen, ein Vollstrecker mittelschwere, ein Caesar schwere und ein Victor überschwere. Die meisten Katzbalger-Mechs waren um District City geballt oder drangen von dort aus abwärts. Sie beschützten die Hauptstadt, als besäße sie noch einen strategischen Wert über die politische Legitimierung hinaus. Die Miliz besetzte weiterhin Radcliffe und einige der näheren Städte, auch wenn ihr mehrere davon allmählich entglitten.
»Was ist mit Kelso?«, fragte er, kreiste mit einer Handbewegung eine der Städte auf der Karte ein und verschmierte sich dabei die Finger mit roter Farbe.
Michaels blätterte durch einen an diesem Morgen frisch ausgedruckten Stapel Karten mit genaueren Angaben als auf der Tafel. Als sie Kelso gefunden hatte, schüttelte sie nach kurzem Lesen den Kopf. »Da könnten wir ziemlich leicht durchwalzen. Die 8. hat nur zwei Lanzen unerfahrene MechKrieger auf Posten, unterstützt von einer Panzerkompanie. Keine Luft/Raum-Unterstützung.« Sie suchte die Karte weiter ab. »Aber es bringt keinen Vorteil, das Gebiet zu kontrollieren. Kelso ist ein Kaff.«
David schlug sich enttäuscht mit den Händen an die Oberschenkel. »Und warum ist die 8. dann da?« Michaels zog die Karte aus dem Stapel und hielt sie
Javid hin. »Die Stadt liegt auf der gegenüberliegenden Seite des Howell von Woodland«, stellte sie fest, als erkläre das alles.
Ein kurzer Blick auf die Karte frischte Davids Gedächtnis auf. »Klar. Der 2. NAIW-Kader.« In den letzten Tagen hatte der Akademiekader einzelne Elemente an den Rand der sich ausweitenden Auseinandersetzung zwischen der 8. RKG und den Milizkräften bewegt. Bis jetzt hatte er sich noch nicht für die eine oder die andere Seite erklärt, und seine Nähe machte alle ein wenig nervös.
Besonders Major General Sampreis, der sich nach Kräften bemühte, den 2. Kader für die Miliz zu gewinnen. Die Einheit war zwar nur ein Ausbildungskader, aber einer der Besten des New-Avalon-Instituts der Wissenschaften, und keine der beiden Seiten konnte es sich leisten, die Kadetten zu ignorieren. Mit jedem Tag wuchs die Sorge, der Kader könnte sich für die Katzbalger entscheiden. Sollte das geschehen, hätte die MCM kaum noch eine Chance, bis zum Eintreffen der Capella-Dragoner durchzuhalten.
Aber das war ein Problem für den Alten, und er schob es beiseite. Seine Aufgabe bestand im Augenblick darin, die Materialschlacht zu beenden, die Generalhauptmann Weintraubs Einheit gegen die Miliz führte. Er atmete laut aus, um Druck abzulassen. Der größte Teil der Miliz zählte die Stunden bis zur Ankunft der Capella-Dragoner in zwei Wochen, aber falls ihm kein Plan einfiel, die Offensivkapazitäten der RKG zu neutralisieren, würde niemand mehr übrig sein, um die Dragoner zu begrüßen. In dreißig Minuten musste er zu Major General Sampreis hinein und seine Vorschläge unterbreiten, und bis jetzt hatte er nichts anzubieten. Die Zeit lief ihm davon.
»Und was bedeutet das für uns?«, fragte er.Michaels ließ die Karten auf den Tisch fallen und streckte die müden Schultern. »Der Miliz bleiben keine guten Ziele südlich von D. C. Jedenfalls keine, die ich finden könnte. Es bedeutet rote Augen vom Starren auf Karten den ganzen Morgen und jedenfalls für mich ein ausgefallenes Mittagessen. Lassen Sie uns einen Happen essen, David. Eine Pause machen. Wir machen danach hier weiter.«
David schaute von der Karte in seiner Hand auf und war sich nicht sicher, ob er in Taras Tonfall zu viel hineininterpretierte. Er hatte etwas in ihrer Stimme gehört, ein Zögern, eine Intimität. Es war nicht nur, dass sie ihn mit Vornamen angesprochen hatte. Als Mitglied seines Planungsstabes hatte sie sich dazu das Recht erworben. Aber als er jetzt in ihre schokoladenbraunen Augen schaute, bemerkte er dieselbe zögerliche Frage, die in ihrer Stimme gelegen hatte... ein Hauch möglichen Interesses.
»Danach?«, fragte er.»Nach einer Pause«, erwiderte sie. »Erfrischt
zurück ans Werk?«
Diesmal war der Sinn deutlich, aber zugleich gab es da auch immer
noch dieses Zögern, so, als wäre sich Tara selbst nicht sicher, auf
welche Antwort sie hoffen sollte.
Sie war wirklich gut aussehend, und David erinnerte sich noch gut
daran, wie ihre tiefe, rauchige Stimme ihm bei der ersten Begegnung
unter die Haut gegangen war. Und er hatte auch den Eindruck gehabt,
dass sie an ihm interessiert war. Aber es war nie ein Funken
zwischen ihnen übergesprungen. Im Gegenteil. Nach jener ersten
Begegnung hatte David gespürt, wie sie abgedriftet war, als er sich
mit anderen Sorgen und anderen Menschen beschäftigte. Mit Amanda
Black zum Beispiel.
Währenddessen hatte Tara an Statur gewonnen. Sie entwickelte sich
zu einem seiner besten Lanzenführer und konnte mit einem
Kompaniebefehl rechnen, sobald eine Position frei wurde. Sie
arbeiteten gut zusammen und genossen die Gesellschaft des anderen.
David betrachtete sie einen Augenblick lang und ließ sich die
Möglichkeiten durch den Kopf gehen.
Dann sagte er: »Nein.« Erst zögernd, darauf entschiedener. »Nein,
lieber nicht.« Er antwortete auf die unausgesprochenen Fragen
ebenso wie auf die ausgesprochenen. »Ich habe in dreißig Minuten
einen Termin bei Major General Sampreis. Aber gehen Sie
ruhig.«
Tara nickte und ging zur Tür. Am Ausgang hielt sie einen Moment
inne. »Es ist doch in Ordnung?«
David verstand, was sie in Wahrheit fragte. Mit uns ist doch alles in Ordnung? Allmählich
konnte er die Gedanken der meisten seiner Leute lesen, besonders
die seiner ursprünglichen Kompanie. Ein Zeichen wachsender
Vertrautheit. »Alles bestens«, lächelte er.
Das wachsende Verständnis zu seinen Soldaten hob das Gewicht der
Verantwortung nicht von seinen Schultern, machte es aber tragbarer.
Jetzt musste er nur noch einen Weg finden, dass diese Soldaten
überlebten.
Plötzlich stockte er und starrte auf die oberste Karte des Stapels,
den Tara Michaels auf den Tisch geworfen hatte. Sie zeigte District
City, umgeben von den schweren Befestigungen der 8. RKG, die
stellenweise bis in die Vororte reichten. Möglicherweise. Nur
möglicherweise. In seinem Geist nahmen die Umrisse eines Plans
Gestalt an...
David konnte die Verzweiflung spüren, die in Major General Sampreis' Büro hing - wie die Wolke Zigarrenqualm, die unter den langsamen Drehungen des Dezkenventilators wogte. Hier täuschte niemand ungebrochene Zuversicht vor, nicht unter den TopOffizieren. Sampreis versuchte, seine Besorgnis nicht allzu deutlich zu zeigen, aber er war immerhin der General. Er musste selbst vor seinem inneren Stab eine gewisse Nonchalance bewahren.
»Sie wollen District City angreifen?«, fragte Sampreis ungläubig und winkte David trotzdem zu einem freien Platz zwischen den Kommandeuren des 1. und 3. Mechbataillons. »Haben Sie nicht selbst gegen einen Versuch argumentiert, Weintraub D. C. abzujagen, weil es keinerlei strategischen Wert besitzt?« Der Major General warf einen Blick auf das Holobild auf dem Schreibtisch, das ihn mit Morgan Hasek-Davion zeigte. »Ich persönlich finde ja, wir hätten die Stadt stürmen und Duke VanLees mit seiner Familie befreien sollen. Kathils Herrscher in den Händen dieses arroganten Amarissohns zu lassen, gefällt mir gar nicht.«
Das war klar für jemanden, der ebenso viele
politische wie militärische Ambitionen hatte. Die 8. hatte District
City zwar schon früh besetzt, doch der General hatte weiter auf
Zeit gespielt und nach einem diplomatischen Sieg gesucht. Erst als
VanLees in Gefangenschaft geraten war, hatte Sampreis nur noch den
Verlust seines Patrons gesehen. Dass George Hasek selbst Duke
Petyrs Aktionen der Bevölkerung gegenüber entschuldigt und die
Autorität der Miliz auf Kathil bestätigt hatte, blieb zweitrangig.
Der General konnte nicht anders, als der Befreiung des Dukes
Priorität einzuräumen.
Abgesehen von einer gewissen Öffentlichtkeitswir-kung wäre ein
solches Unternehmen jedoch eine nutzlose Geste geblieben. Adlige
führten keine Kriege. Sie begannen sie, und gelegentlich beendeten
sie sie, aber in diesem Fall bot George Hasek die beste Chance
dazu. Wenn der Kampf einmal begonnen hatte, war David davon
überzeugt, dass man den Adel am besten ignorierte.
»Ich will eigentlich nicht District City angreifen«, erklärte er. »Aber nahe genug an D. C, dass es keinen echten Unterschied macht. Ein Mitglied meines Planungsstabes, Tara Michaels, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es momentan südlich der Hauptstadt keine brauchbaren Ziele mehr gibt. Und weil die 8. ihre Kräfte ständig verlagert, lässt sich nicht vorhersagen, wo sich eine Öffnung für einen Gegenschlag zeigen könnte. Das hat mich nachdenken lassen. Unseren Informationen nach ist die Garnison in und um District City recht stabil, so stabil, dass ihre Bewegungen sich berechnen lassen. Wenn wir im richtigen Augenblick zuschlagen, halte ich es für möglich, ein Operationsfenster von dreißig, vielleicht sogar sechzig Minuten zu öffnen, bevor sie reagieren können.«
»Sechzig Minuten?« Lieutenant Colonel Marsha Yori, die neue ranghöchste Bataillonsführerin, runzelte die Stirn und blies Zigarrenrauch an die Decke. Ihre Stimme ließ keinen Zweifel an ihrer Meinung. Diese Offiziere suchten nach einem Plan, der die Rettung versprach. David hatte einen Plan... anscheinend als Einziger hier im Raum. Aber auf den ersten Blick schien er wertlos. »Was können wir in sechzig Minuten schon erreichen?«
David rollte die Karte, die er mitgebracht hatte, auf Sampreis' Schreibtisch aus. »Wir können die Kay-Burne-Munitionswerke außer Gefecht setzen«, antwortete er. »Sie liegen hier in Stihl, einem Vorort im Südosten von District City. Hauptsächlich Industrie- und Gewerbegebiet. Abgesehen von einer gelegentlichen Streife stehen als Verteidiger zunächst nur die Truppen hier am Raumhafen zur Verfügung.« Er stieß mit dem Finger auf die graue Fläche am Ostrand der Hauptstadt, nördlich von Stihl.
»Was ist mit der Stadtgarnison?«, fragte Major Karl Tarsk. »Ein volles Bataillon Mechs und Panzer ist über die Stadt verteilt im Einsatz. Die könnten weit schneller reagieren.«
»Eher zwei Bataillone«, bestätigte David. »Aber sie werden sich zunächst darauf konzentrieren, die Distriktbasis und die Hall of Nobles zu sichern.«
»Eine Munitionsfabrik?« Tarsk blieb skeptisch. »Bestenfalls ein minimaler taktischer Vorteil. Die 8. hat mit Sicherheit Vorräte, die minimal einem Wochenausstoß von Kay Burne entsprechen. Was soll das bringen?«
»Raketen«, antwortete Yori, die erkannte, worauf David hinauswollte. Sie schaute zu Sampreis. »Diese Fabrik ist die Einzige unter RKG-Kontrolle, die Raketen produziert. Die drei anderen auf Kathil werden entweder von uns oder dem 2. NAIW kontrolliert.«
Sie drehte sich wieder zu David um und bemerkte dessen Überraschung darüber, wie schnell sie geschaltet hatte. Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Acht Jahre Logistikcorps, Fabriken und Versorgungswege bewacht. Ich halte auch Ausschau nach Mustern. Aber das ist mir entgangen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich lese dieselben Berichte wie Major McCarthy. Die 8. verfeuert Raketen wie Konfetti. Eine Menge ihrer stärksten Mechs, Salamander, Rakshasas, Orions, sind, was die Offensivkapazitäten betrifft, auf LSR angewiesen. Wenn wir ihnen die Möglichkeit nehmen, die Raketenlager aufzufüllen, zwingen wir sie zu einer drastischen Reduzierung der Offensivmanöver.«
Sampreis nickte nachdenklich. »Und ein Angriff so dicht an ihrer Basis könnte sie zudem überzeugen, sich zurückzuziehen und uns eine Atempause verschaffen, bis die Capella-Dragoner eintreffen.« Er schaute zu David, legte die Zigarre auf den Aschenbecher und ließ sie da liegen. »Wie wollen Sie sich der Stadt nähern? Man wird Sie von weitem kommen sehen und mit RKG-Hilfstruppen überschütten.«
»Wir lassen uns von einem Landungsschiff unmittelbar vor Stihl absetzen, das anschließend wartet, um uns nach erfolgter Mission wieder mitzunehmen. Auf dem Heimweg werden wir eine mächtige Jägereskorte brauchen.«
Sampreis lehnte sich im Sessel zurück. Plötzlich wirkte er enttäuscht. »Die werden Sie auf dem Hinweg, auf dem Rückweg und während der Mission brauchen. Nicht vergessen, dass die Landungsschiffsaktion die 8. vorwarnen wird. Landungsschiffe sind nicht gerade für ihre - Unauffälligkeit bekannt, Major.«
»Darauf baue ich, General. Das Landungsschiff wird direkten Kurs zur Küste setzen, nach Ostin. Unter Umständen wird die 8. sogar ihre Jägerbereitschaft starten und nach Ostin schicken, was uns nur recht sein kann. Dann biegen wir hier ab nach Stihl.« David beugte sich vor und zog eine Linie über die Karte, durch ein gelb markiertes Gebiet an den Südostrand der Hauptstadt.
Yori tippte auf das gelbe Gebiet. »Das ist eine Flugverbotszone, Major. Da steht die AstonMcKinney-Thermalfabrik, und die Luft wird von Mikrowellenverbindungen zur Raumwerft und anderen Kollektorsatelliten durchschnitten. Ihr Team würde zu Asche verbrannt werden.«
»Nur ist Aston-McKinney keine
SynchronorbitVersorgungsstation.«
Yori runzelte die Stirn. »Soll heißen?«
Jetzt war David in seinem Element. Als gebürtiger Kathile und
ehemaliger Ulan kannte er sich mit der planetaren Geschichte besser
aus als irgendeiner der anderen Offiziere. »Ein Teil der
Thermalstationen strahlt Energie zu Raumdockanlagen in synchroner
Umlaufbahn hoch, Werftanlagen, die sich mit dem Planeten bewegen
und immer über demselben Punkt der Oberfläche stehen«, erklärte er.
»Dadurch werden sie konstant von einer bestimmten Station aus mit
Strom versorgt. Manche Fabriken schalten zwischen verschiedenen
Relaissatelliten und Orbitalstationen in unterschiedlichen
Umlaufbahnen hin und her und sind in der Lage, ihre
Mikrowellenstrahler über ein weites Areal zu bewegen.
Aston-McKinney ist eine ziemlich alte Thermalfabrik und hat von
beiden Typen etwas. Das Werk versorgt eine begrenzte Zahl von
Anlagen in einem engen Orbitalbereich, wenn diese von keiner
anderen Station erreicht werden können. Etwa einmal in der Woche
kommt es vor, dass ihre Dienste nicht benötigt werden, und die
Fabrik wird einen Tag lang für Wartungsarbeiten abgeschaltet. Die
nächste Auszeit steht übermorgen an und liefert uns zeitweise eine
Flugroute für unsere Operation.«
Damit hatte David sie am Haken. Der Plan war noch ziemlich grob,
aber für gerade dreißig Minuten Vorbereitung nicht schlecht. In den
nächsten zwei Tagen würden all seine Offiziere sich bemühen, ihn zu
torpedieren oder ihn, falls das nicht gelang, auf alle
Eventualitäten vorzubereiten. Doch hier und jetzt war es der
einzige Vorschlag, und gerade waghalsig genug, angenommen zu
werden. Sampreis schaute von einem Offizier zum Nächsten und setzte
sein Kopfnicken hinter das Trasks.
Lieutenant Colonel Yori hatte das letzte Wort. »Viel Glück, Major.
Ich hoffe, Sie werden es nicht brauchen.« Sie beugte sich vor und
studierte die Karte. »Riskant, aber wir stehen mit dem Rücken zur
Wand.« Sie wedelte mit der Zigarre über der Flugverbotszone. »Falls
auch nur ein Einziger da unten schaltet und die Mikrowellensender
wieder hochfährt...« Sie verstummte und klopfte etwas Asche von der
Zigarre, die auf den markierten Bereich hinabrieselte.
»Dann wird von Ihnen nicht mehr viel übrig bleiben.«