SCHWELENDER KONFLIKT
1
Landungsschiff Korpsbruder, in tiefer Umlaufbahn um
Kathil
Mark Capella, Vereinigtes Commonwealth
David McCarthy schob die Fußspitzen unter den niedrigen Sims, der sich um das Beobachtungsdeck des Landungsschiffes zog, um zu verhindern, dass er in der Schwerelosigkeit davonschwebte. Genau das war gerade einem Infanteriesergeant passiert, der zehn Zentimeter über dem Boden und knapp außer Reichweite der Schottwand hängen geblieben war. Dann hatte er sich in der Luft überschlagen, während er mit wedelnden Armen verzweifelt nach einem Halt suchte. Dabei hatte er eine Schimpfkanonade abgelassen, bei der frische Rekruten vermutlich das große Zittern bekommen hätten. Die Schiffsbesatzung hatte er damit nur amüsiert, bis sich schließlich ein Crewmitglied erbarmte und ihn auf den Boden zog. Seitdem blieb der Sergeant ständig in der Nähe der Haltestangen und Fußbügel, und die Knöchel unter der ledrigen Haut standen weiß hervor. So klammerte er sich fest. Anscheinend genügte eine Uniformbrust voller Feldzugsbänder nicht, die Füße auf dem Deck zu halten.
David hatte sich schneller als der raumunerfahrene Sergeant an die Schwerelosigkeit gewöhnt, aber Dank der Beteiligung an Einsatzgruppe Schlange besaß er auch weit mehr Raumerfahrung als die meisten MechKrieger. Die Einsatzgruppe hatte zehn lange Monate auf dem heimlichen Flug in den ClanRaum verbracht, und noch weitere acht beim Rückflug, nachdem es ihr gelungen war, einen Clan auszulöschen und die Invasion endgültig zu beenden. Nach einer derartigen Odyssee waren die letzten drei Monate Raumreise von Tukayyid zurück zu seiner Heimatwelt Kathil in der Mark Capella des Vereinigten Commonwealth nicht weiter bemerkenswert. Der Gedanke an Diana weckte Erinnerungen an die letzte Verzweiflungsschlacht in den Dhuansümpfen, die er aber schnell wieder verdrängte. Es war leichter, sich auf die physischen Begleiterscheinungen der Schwerelosigkeit zu konzentrieren, so unangenehm diese auch waren. Übelkeit war ein ständiger Begleiter, und Magensäure brannte ihm in der Kehle.
Der Flug war weit angenehmer gewesen, solange die Korpsbruder eine gleichmäßige Beschleunigung aufrecht erhalten hatte, erst fort von dem Sprungschiff, das sie ins Kathil-System gebracht hatte, dann auf der zweiten Hälfte der Reise beim Abbremsen, als das Landungsschiff der LeopardKlasse sich dem Planeten näherte. Auf den meisten Systemflügen arbeiteten die Triebwerke bis zum Aufsetzen, und außer während der Kurskorrektur auf halber Strecke, bei der die Schubtriebwerke für den Bremsflug in Richtung Zielplanet gedreht wurden, konnten die Passagiere sich einreden, festen Boden unter den Füßen zu haben.
Auf dieser Reise aber musste die Korpsbruder an die McKenna-Raumwerften in der Umlaufbahn um Kathil andocken, um Personal an Bord zu nehmen, das routinemäßig zurück in die Bodenanlagen rotiert wurde. Die McKenna-Werften waren möglicherweise die wichtigste Industrie der ganzen Mark Capella, eine der wenigen Raumwerften in der ganzen Inneren Sphäre, die noch über die Möglichkeit verfügten, die kaum verstandene Technologie des Kearny-FuchidaAntriebs zu reproduzieren. Diese Interstellartriebwerke waren das Herz aller Sprungschiffe und an Bord der Kriegsschiffe noch kostbarer. Nur mit ihrer Hilfe war die nahezu augenblickliche Transition in entfernte Sonnensysteme und damit die Verbindung zwischen den verschiedenen Sternenreichen möglich.
David wünschte sich nur, die Leute hätten sich etwas mehr beeilt, denn das Landungsschiff hing jetzt schon seit Stunden am Ladedock der Werft, und nur der gelegentliche Korrekturschub einer Manöverdüse lieferte die Andeutung künstlicher Schwerkraft. Die Bewegung in der Schwerelosigkeit war unbeholfen und unkontrolliert. Er hätte sich auf der Koje in seiner Kabine anschnallen können und sich möglicherweise sicherer gefühlt, aber nach ein paar schrecklichen Minuten hatte er nicht mehr ausgehalten. Die Sicherheitsgurte hatten ihn zu sehr an den Gurtharnisch eines BattleMechcockpits erinnert, und genau um das zu vergessen, war er zurück nach Kathil gekommen.
Außerdem wollte er das neueste Kriegsschiff des Vereinigten Commonwealth sehen. Der beeindrukkende neue Kreuzer der AvalonKlasse war mit hochmodernen Automatik- und Fernleitkontrollen ausgestattet. Die gesamte Kriegsflotte des Vereinigten Commonwealth bestand aus nicht einmal fünfzehn Schiffen, und eine solche Gelegenheit verpasste man nicht.
Außerdem bot es eine gute Ausrede, die Kabine
zu verlassen.
Die Robert Davion hing vor einem
Sternenhimmel aus tiefem Schwarz, besprenkelt mit brillanten,
scharf gezeichneten Lichtpunkten im Raumdock. Ungefiltert von einer
planetaren Lufthülle empfand David den Weltraum immer als weit
härter, weit grausamer. Speziell platzierte Spiegel fingen das
Sonnenlicht auf und badeten selbst die abgewandte Rumpfseite des
Schiffes in seinem harten Glanz. Das breite Kriegsschiff war 770
000 Tonnen schwer, und es hieß, in sechs Monaten stünde seine
Jungfernfahrt an. Und trotzdem wirkte der Kreuzer aus zwei
Kilometern - in Raumfahrtbegriffen allernächste Nähe - trotz des
Netzwerks aus Stahlgerüsten, das die achthundert Meter Rumpf
bedeckte, klein und zerbrechlich. Nachdem er andere Kriegsschiffe
aus noch weit größerer Nähe gesehen hatte, entschied David, dass
sie ihm aus der Distanz weit lieber waren. So wirkten sie
beruhigend...
»Unbeeindruckend«, murmelte er bei sich. Ja, das war das
Wort.
»Das ist ja wohl ein Witz.«
Er drehte sich um, als er die raue Stimme hörte. Das Kriegsschiff
hatte ihn so in seinen Bann geschlagen, dass er gar nicht bemerkt
hatte, wie jemand neben ihn getreten war. Der Mann starrte
fasziniert durch die dicke Ferritglasplatte, die das
Beobachtungsdeck vom Vakuum abschirmte, auf das ferne Schiff. Er
war klein und stämmig gebaut und trug die Uniform eines
Flottenoffiziers der Lyranischen Allianz. Das feurig rote Haar und
das spitz vorstehende Kinn ließen auf ein hitziges Gemüt
schließen.
»Ein unglaubliches Teil«, stellte der Mann fest. »Eine echte
Jagdhündin, das.«
Auch ohne den schwarzen ›Raumfahrerstreifen‹ am Außensaum der
Uniformhose hätte David ihn als Raumflottenmann erkannt. Es war
unübersehbar, so locker, wie er sich hielt, darin, wie er sich nur
mit den Fingerspitzen an der Haltestange festhielt, und wie nahe er
das Gesicht an das Glas drückte. Die zehn Zentimeter Panzerglas
waren stabiler als die gepanzerten Schottwände des
Landungsschiffes, aber nur jemand, für den die Raumfahrt etwas
Alltägliches war, konnte sich in solcher Nähe zum lebensfeindlichen
Vakuum so wohl fühlen.
»Aus der Entfernung, meinte ich«, stellte David gleichmütig fest,
und hoffte, eine Auseinandersetzung mit einem vorgesetzten Offizier
vermeiden zu können. Die T-förmig angeordneten Metallrauten am
Kragen des Raumfahrers wiesen ihn als Kommodoreleutnant aus, das
Flottenäquivalent eines Generalleutnants.
»Aus der Entfernung ist sie am gefährlichsten, Hauptmann.« Der Raumfahrer betonte den
Rangunterschied zwischen ihnen, als ob ihm das den Sieg garantieren
würde. »Aus nur zwei Klicks Entfernung könnte die Robert Davion uns mit ihren Lasern in Atome
zerblasen. Aus zweihundert Kilometern könnten die
SR10-Raketenlafetten der Korpsbruder
das Genick brechen, bevor wir wüssten, was uns getroffen
hat.«
Mit kaum mehr als einer leichten Bewegung der Hand, mit der er sich
am Geländer festhielt, drehte der Mann sich jetzt schließlich zu
David um. Er musterte seine Uniform mit geübtem Blick und erkannte
ohne Zweifel die Unterschiede, die ihn als MechKrieger und Soldat
des Vereinigten Commonwealth kennzeichneten. Er lächelte dünn. »Aus
der Umlaufbahn könnte sie ein Mechregiment auslöschen, ohne warm zu
werden. Beeindruckend.«
Unpersönlich, übersetzte David. Ein
Kriegsschiff konnte weder Boden erobern, noch eine Stadt
verteidigen, nur alles um sie herum in Schutt und Asche legen.
Trotz all ihres technologischen Fortschritts und der gewaltigen
Feuerkraft konnte die Robert Davion
nicht auf einem Planeten aufsetzen, den Feind stellen und die
zivilen Sektoren mit minimaler Verwüstung befreien. BattleMechs
konnten das. David selbst hatte es schon getan.
Aber der Kommodoreleutnant war nicht wirklich an einer Diskussion
interessiert. David hatte keine Ahnung, womit er sich seinen Zorn
zugezogen hatte. Der Mann legte es offensichtlich auf Streit an.
David zog einen FUI aus der Halterung und packte mit der Rechten
das Geländer, um sich zu ihm umdrehen zu können. Seine Ohren
brannten unter der Zurechtweisung. »Sie haben Recht,
Sir.«
Die Augen des Kommodoreleutnants hielten Davids Blick. Sie starrten
zu ihm hoch, fahlgrün, umgeben vom leuchtendsten Gleiß, dass er je
gesehen hatte, blinzelten kaum. Das waren Augen, die es gewohnt
waren, hinaus in die Werten des Alk zu blikken, und David fühlte
sich wie ein winziger Lichtpunkt zwischen Tausenden von anderen...
bis der Blick des Lyraners auf Davids Feldzugsbänder fiel. Sie
fokussierten wie ein Laser und fixierten das schwarz-grau-schwarze
Band am Ende einer sehr kurzen Zeile. Der Flottenoffizier trug
selbst einen ›Salat‹ an bunten Bändern auf der Uniformbrust, aber
dieses Band konnte er nie erwerben.
»Schlange?« Die Stimme des Kommodoreleutnants war
rasiermesserscharf, zu gleichen Teilen neidisch und anklagend. »Sie
haben auf Diana gekämpft?«
»Ja, Sir. Hauptmann David McCarthy, ehemals 1.
Kathilulanen.«
Misstrauen durchzuckte die fahlgrünen Augen des Raumfahrers. »Ich
dachte, die überlebenden Ulanen stellen ein neues Regiment in den
SternenbundVerteidigungsstreitkräften.«
David nickte. Die Ulanen waren ein berühmtes Regiment... gewesen
eine der Eliteeinheiten des Vereinigten Commonwealth. Es
überraschte ihn nicht, dass der Flottenoffizier die Nachricht
gehört hatte und sich auch noch daran erinnerte. »Ich habe mich
gegen einen Beitritt in die Nachfolgereinheit entschieden«,
erklärte er. »Ich kehre nach Kathil zu einem Posten bei der
Mark-Capella-Miliz zurück.«
»Hmmm.« Das klang nach einem bevorstehenden Urteil.
Allmählich verstand David, was ihm solche Feindseligkeit
eingetragen hatte. Er stammte von Kathil und damit aus den alten
Vereinigten Sonnen, während der Raumfahrer offensichtlich Lyraner
war. Bis vor kurzem waren beide Staaten im Vereinigten Commonwealth
verbunden gewesen und gemeinsam von Archon-Prinz Victor
Steiner-Davion regiert worden. Vor fünf Jahren aber hatte dessen
Schwester Katherine die lyranische Hälfte des Reiches unter ihrer
Herrschaft abgetrennt, als Lyranische Allianz für unabhängig
erklärt und sich zum Archon ausgerufen. Dann hatte Katherine auch
Victors Thron in der crucischen Hälfte des Vereinigten Commonwealth
gestohlen, während er mit den ihm loyalen Streitkräften auf Diana
und Strana Metschty gegen die Clans gekämpft hatte. Diese
Ungerechtigkeit hatte im ganzen Commonwealth für Unruhe gesorgt und
selbst in der Lyranischen Allianz Probleme bereitet. Es war noch
keine zwei Monate her, dass es auf Solaris VII zu blutigen
Aufständen gekommen war, als sich die Kämpfe in den Arenen der
Spielwelt auf die Straßen verlagert hatten. Derzeit hielt nur
lyranische Militärmacht die Rebellion im Zaum.
Momentan war das Vereinigte Commonwealth eine tiefer gespaltene
Nation denn je. Die Hälfte seiner Einwohner hatten der
Archon-Prinzessin die Treue geschworen, die andere Hälfte hoffte
noch immer auf die Rückkehr Victors, der kürzlich zum neuen
Präzentor Martialum ComStars und Oberkommandierenden der
Sternenbund-Verteidigungsstreitkräfte ernannt worden war, um seinen
rechtmäßigen Thron zu beanspruchen.
Katherines Verhalten hätte fast ausgereicht, David mit Victor ins
Exil zu treiben und ihn eine Position im neuen SBVS-Regiment der
überlebenden Ulanen annehmen zu lassen. Aber Prinz Victor selbst
hatte seine Krieger gebeten, heimzukehren - hoffentlich in einen
friedlichen Dienst, und Davids Erinnerungen an Kathil setzten ihm
sehr zu. Achtzig Prozent Verluste in den Regimentern der
Einsatzgruppe Schlange. Davids Einheit zerschlagen, er selbst einer
der wenigen Überlebenden. Die Kathil-Ulanen aufgelöst. Angesichts
der zunehmenden Unruhe auf vielen Welten des Commonwealths war es
ihm vernünftiger erschienen, zur Miliz seiner Heimatwelt zu
gehen.
»Kommodoreleutnant Jonathan Kerr«, stellte sein Gegenüber sich
endlich vor, und hatte offenbar beschlossen, dass ein
Einsatzgruppe-SchlangeAbzeichen zumindest minimale Anerkennung
erforderte. Kerr reichte ihm jedoch nicht die Hand, und in der
informellen Umgebung des Beobachtungsdecks war David nicht
gezwungen zu salutieren. Der Flottenoffizier drehte das Kinn zum
Ferritglas und dem Kriegsschiff dahinter. »Sie gehört
mir.«
Und du kannst sie geschenkt haben,
entschied David und drehte sich ebenfalls wieder zu der
transparenten Schottwand um. Er hatte kein Interesse an einem
Streit mit dem lyranischen Offizier, ganz gleich, wie sehr der
ältere Mann es darauf anlegte. Die Feindseligkeit Kerrs hatte ihn
überrascht. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie dicht unter der
Oberfläche des VerCom die Spannungen zwischen Victor und Katherine
brodelten. Er starrte hinaus in die Dunkelheit, und seine Gedanken
waren nicht weniger düster. Ein Oktopus-Schlepper war an die Vorderseite des
Raumdocks geflogen und hatte sich an eine der beweglichen Fabriken
gehängt, die im Gerüstnetz steckten. Die von der Robert Davion weit überragte Kugelhülle des
Landungsschiffes rückte die Größenverhältnisse zurecht, und David
staunte über die Gewaltigkeit der Konstruktion.
»Erzählen Sie mir, wie es war«, unterbrach Kerr die minutenlange
Stille, und David zuckte unwillkürlich zusammen. »Die Kämpfe auf
Diana.« Die Aufforderung hatte das Gewicht eines direkten Befehls.
Ohne Zweifel war das Absicht.
Und plötzlich war David zurück im harten, glitzernden Licht, die
dunkle Ebene erhellt von den Feuern jenes letzten Gefechts, bevor
die Ulanen sich in die Dhuan-sümpfe zurückzogen... bevor er seine
Leute den wilden ClanKriegern geopfert hatte, um die anderen zu
retten. Die zertrümmerten Wracks der BattleMechs, die den Boden wie
gigantische Leichen bedeckten, verdammt, zu verrotten, wo sie
gefallen waren. Der trügerische Boden, als der Destruktor über abgetrennte Mechgliedmaßen
stampfte... das heftige Beben der Kanzel... Raketenwarnungen,
Stilllegungswarnungen, und die ganze Zeit über der unaufhaltsame,
gnadenlose Vormarsch der Nebelparder-OmniMechs...
Er presste die Augen zusammen und vertrieb die Geister, zumindest
für eine Weile. »Hart«, antwortete er. Er würde nie erklären
können, wie es wirklich gewesen war, schon gar nicht einem
Flottenoffizier. »Teuer. Aber wir haben gewonnen.«
Für die meisten Einwohner der Inneren Sphäre war das genug. Sie
wollten nicht wirklich wissen, was der Sieg an Menschen und
Material gekostet hatte. Das Einzige, was zählte, war der Sieg der
Freien Inneren Sphäre. Sie hatten das Nebelparder-Militär auf Diana
zerschlagen und waren weiter nach Strana Metschty gezogen, wo Prinz
Victor der Clan-Invasion ein Ende bereitet hatte. Und jetzt lebte
Victor Steiner-Davion im Exil, von seiner verräterischen Schwester
entmachtet, und die Ulanen gab es nicht mehr.
Kerr schien mit dieser einfachen Antwort nicht zufrieden.
Anscheinend verdächtigte er den Crucier, ihm etwas zu
verheimlichen. Was auch immer dieser Mann dem Vereinigten
Commonwealth vorwarf, es war tief empfunden. David entschied, das
Thema zu wechseln. »Sie werden...«
Drei schnarrende Warntöne hallten aus den Lautsprechern der
Korpsbruder, unterbrachen David und
lenkten Kerr ab: Die Ankündigung der zurückkehrenden Schwerkraft,
sobald das Landungsschiff die Triebwerke wieder aktivierte. Das
Deck vibrierte unter der freiwerdenden Energie, und alle Anwesenden
sanken unter halber Terranormschwerkraft zurück auf den Boden.
Genug, um Davids Übelkeit zu vertreiben und ihm endlich zu
erlauben, den beißenden Geschmack in der Kehle hinunterzuschlucken.
Das Landungsschiff schob sich über die Raumwerft. Das Kriegsschiff
und die Metallgerüste des Raumdocks sanken unter den Rand der
Glaswand davon. Jenseits des gigantischen Gerüsts sah David jetzt
einige der Sturmschiffe, die das fast fertig gestellte Kriegsschiff
bewachten.
»Sie werden Kapitän der Robert Davion
sein?«, fragte er Kerr, nachdem der Alarm dem leisen Wummern der
Fusionstriebwerke gewichen war. Er verstand genug von den
Gebräuchen der Raumflotte, um zu wissen, dass der Titel ›Kapitän‹
für jeden Offizier eine Ehrung war.
Kerr starrte ihn weiter hasserfüllt an. »Nein. Erster Offizier.« Er
beugte sich vor, um einen letzten Blick auf den Kreuzer zu werfen,
bevor er völlig außer Sicht war. »Aber ich kenne jeden Zentimeter,
jedes System an Bord. Eines Tages wird sie mir gehören.« Er
grinste, doch es lag kein Humor darin. »Eines Tages, wenn Sie sich
freuen können, ein paar hundert Tonnen Kampfmaschinen zu
befehligen, werde ich die Robert Davion
haben.«
Der Mann seufzte, ein Moment unerwarteter Frustration, dessen er
sich vermutlich nicht bewusst war. Ganz sicher hätte er sich nicht
wissentlich eine solche Blöße vor jemandem gegeben, den er auf der
anderen Seite eines sich ausweitenden Konflikts sah. »Zwei Monate.
Zwei Monate noch bis zum Stapellauf und meinem Dienstantritt.« Er
trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Geländer und starrte
ins All, als wollte er die Position der Sterne lesen. »In Ordnung,
wir sind am Dock vorbei. Jetzt können wir nach Kathil
wenden.«
David versuchte, sich in Gedanken die Positionen der Korpsbruder, der Robert
Davion und des Planeten vorzustellen und das
dreidimensionale Modell aufzubauen, das Kerr instinktiv erfasste.
Irgendetwas entging ihm. »Kathil liegt hinter dem Landungsschiff,
oder?« Er bemerkte Kerrs verärgerten Blick, ließ sich davon aber
nicht abschrecken. »Ich versuche nur, mir darüber klar zu werden,
warum wir über das Kriegsschiffsdock fliegen müssen.«
Das Lächeln des Raumoffiziers hatte etwas Verächtliches. »Versuchen
Sie mal, zwischen irgendeinem Dock oder Orbitalmodul der
McKenna-Werften und Kathil hindurchzufliegen, und lange genug zu
überleben, um es zu bedauern.«
Nach acht Jahren Militär galt Davids erster Gedanke Patrouillen.
Die Robert Davion wurde mit Sicherheit
von einigen Sturmschiffen und einem Kontingent Luft/ Raumjägern
bewacht. Immerhin stellte jedes einzelne der kostbaren
Kriegsschiffe einen beachtlichen Teil des Militärhaushalts dar.
Aber Fabriken? Warum sollte das Militär die Korpsbruder abschießen, nur weil sie zwischen einer
Fabrik und der Planetenoberfläche...
Eine Geschichtslektion schob sich in sein Bewusstsein. »Die
Mikrowellenverbindungen.«
Kerr nickte knapp. »Kathil hat eine der engsten Anflugschneisen
aller Welten der Inneren Sphäre. Soweit ich weiß, wird nur der
Anflug auf Outreach noch restriktiver gehandhabt.«
David hätte sich an die Mikrowellengeneratoren auf der
Planetenoberfläche erinnern müssen. Immerhin spielten sie eine
wichtige Rolle in der Einheitsgeschichte der Ulanen. Mehrere über
die Oberfläche verteilte Thermalgeneratorenwerke versorgten die
Fabriken und Werftanlagen über eng gebündelte
Mikrowellenverbindungen mit Strom. Die meisten Orbitalanlagen
befanden sich auf stationären Umlaufbahnen und erhielten ihre
Energie von einer bestimmten Station. Andere, wie die Werft, die am
LaGrange-Punkt zwischen Kathil und seinem kleinen Mond hing,
mussten regelmäßig von einer Verbindung zur anderen
wechseln.
»Die Stromwerke hatte ich vergessen«, gab er zu und fühlte sich
noch dümmer bei dem Gedanken, von einem lyranischen Flottenoffizier
über seine eigene Heimatwelt informiert zu werden.
Kerr nutzte den Vorteil und schlug einen belehrenden, beinahe
gönnerhaften Ton an. »3029 hat die Konföderation Capella versucht,
einen Teil von ihnen zu zerstören. Liao schickte gegen Ende des 4.
Nachfolgekriegs die Todeskommandos und TauCeti-Ranger los. Einer
der Mikrowellenstrahler wurde umgelenkt. Brannte eine komplette
Kompanie aus der Luft. Keine Überlebenden.«
David nickte und antwortete ohne nachzudenken. »Das war Morgan
Hasek-Davion. Er gründete die Ulanen aus Redburns Kompanie Delta,
Veteranen der 5. Füsiliere und der örtlichen Miliz. Wir haben die
aufgehalten, die es bis zum Boden geschafft haben.«
Er hatte das wir auf die Ulanen
bezogen, das Regiment, in dem er acht Jahre gedient hatte. Aber
wieder klang es, als wollte er den Lyraner übertrumpfen. Und die
Erwähnung Morgan Hasek-Davions war auch nicht gerade hilfreich.
Hasek-Davion war auf dem Flug der Einsatzgruppe Schlange in den
ClanRaum ermordet worden, was ihn über seine Position als Held des
4. Nachfolgekrieges und Marshal of the Armies des Vereinigten
Commonwealth hinaus zum Märtyrer gemacht hatte. Es war kein
Geheimnis, dass seine Familie auf Victors Seite stand.
Als Erbherzöge der Mark hatten die Haseks einiges Gewicht. George
Hasek, Morgans Sohn und der derzeitige Feldmarschall der Mark
Capella, war ein lautstarker Gegner Katherine Steiner-Davions.
David hätte Kerr kaum deutlicher an ihre Differenzen erinnern
können.
Es war kaum ein Zweifel möglich, dass die Gedanken des
Kommodoreleutnants sich in genau diesen Bahnen bewegten. Sein Blick
bohrte sich wie mit Lasern in Davids Augen, und einige Pulsschläge
lang sagte er kein Wort. Wie er als Nächstes hätte reagieren
können, war schwer vorherzusagen. David sollte es nie herausfinden,
denn jetzt schwenkte die Korpsbruder
ein, und Kathil tauchte an Steuerbord auf. Das bot dem
Flottenoffizier die Gelegenheit, den jüngeren MechKrieger zu
ignorieren.
David drehte sich ebenfalls wieder der Ferritglaswand und dem
ersten Blick auf den Planeten zu. Er war ebenso froh über die
Ablenkung. Blaue Meere umrahmten gelbgrüne Kontinente. Deren
verwaschene Farbe war das Ergebnis cholorophylarmer Vegetation, die
an das helle Licht der F-Klasse-Sonne des Systems angepasst war.
Murans von Gebirgen überzogene Landschaft breitete sich unter ihnen
aus, und am östlichen Horizont war der Inselkontinent Thespia
gerade auszumachen. Wie üblich stapelten sich die Wolken an Murans
Westküste und überschütteten sie mit Regen, während die trockene
Einöde des Landesinnern sich dürr und trostlos bis an die gemäßigte
Ostküste erstreckte.
Ja, diese Welt kannte David. Kathil. Seine Heimat.
Und wenn man vor der Vergangenheit davonläuft, gibt es kein
besseres Ziel als die Heimat.