Epilog
»Du liebe Güte«, sagte Althea Elsworthy. »Wie um alles in der Welt haben die Schiffer denn ihre Pferde über dieses Ding gekriegt? Die armen Tiere müssen ja vor Angst fast gestorben sein.«
»Ich nehme an, sie haben ihnen Scheuklappen aufgesetzt«, antwortete Gabriel. »Die könnten manche Zweibeiner vielleicht auch ganz gut gebrauchen«, fügte er mit einem Anflug von Spott hinzu.
Sie standen im Hinterdeck der Daphne. Gabriel hielt die Ruderpinne, flankiert von Althea auf der einen und den Kindern auf der anderen Seite. Es war ein frischer, klarer Tag Anfang Februar, und sie fuhren auf dem Pontsyllcyte-Aquädukt hoch über den Dee River hinweg. Die riesigen Steinsäulen von Thomas Telfords Wunderwerk der Technik trugen den Kanal in schwindelerregenden vierzig Metern Höhe auf einer Strecke von über dreihundert Metern über das Flusstal.
»Rowan hat diese Gegend geliebt«, fuhr Gabriel fort. »Sie stammte aus der Nähe von Wrexham, und sie hat immer gesagt, dass sie sich nirgendwo auf der Welt so frei gefühlt hat wie hier.«
Die lange Metallrinne war nur wenig breiter als das Boot, und an einer Seite verlief parallel dazu der Leinpfad, der im neunzehnten Jahrhundert für die Zugpferde gebraucht worden war. Jetzt spazierten Menschen hier entlang, die auf einen ganz besonderen Nervenkitzel aus waren, doch Althea dachte nur, dass sie gut daran tat, sich in der relativen Sicherheit des Hinterdecks von Gabriels Boot hinübertragen zu lassen. Aber sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und sie würde sich durch einen leichten Anflug von Höhenangst nicht davon abbringen lassen.
Auf einer kleinen Bank neben ihr standen zwei Urnen, eine große und eine kleine. Sie waren gekommen, um die Asche von Mutter und Tochter über dem Tal des Dee auszustreuen.
Rowan war Mitte Januar in ihrem eigenen Bett an Bord der Daphne gestorben, mit Gabriel und den Kindern an ihrer Seite, während Althea bereitgestanden hatte, um ihr die letzten Stunden so leicht wie möglich zu machen. Sie war in Frieden gegangen, dachte Althea, in der Gewissheit, dass ihre Kinder in Sicherheit waren, und befreit von der Last ihres heimlichen Kummers. Als sie noch nicht zu schwach zum Sprechen gewesen war, hatte sie Althea das Versprechen abgenommen, sich um die Ausbildung der Kinder zu kümmern.
»Die Welt verändert sich«, sagte sie. »Wir waren die Letzten unserer Generation, und unsere Zeit liegt hinter uns. Die Kinder werden das Bootsleben aufgeben und einen anderen Weg gehen müssen, und dafür brauchen sie eine ordentliche Schulbildung.«
»Ich könnte Gabriel helfen, hier eine feste Arbeit zu finden, damit die Kinder auf die Schule gehen können«, hatte Althea ihr beigepflichtet. Ihr gefiel der Gedanke, den Kontakt mit den Kindern aufrechtzuerhalten – und mit Gabriel, den sie längst auch mochte und respektierte.
»Es sei denn, Sie wollen sie selber unterrichten. Ihr Freund, von dem die Kinder mir erzählt haben, könnte Ihnen helfen …«
»Wenn Sie Paul meinen – das ist nur ein guter Bekannter«, hatte Althea protestiert, und Rowan hatte zufrieden gelächelt. Bald darauf war sie in einen Dämmerzustand verfallen und irgendwann friedlich eingeschlafen.
Althea war für Rowans Einäscherung aufgekommen. Nach einem Besuch bei Ronnie Babcock noch vor Rowans Tod hatte sie auch für die Verbrennung der sterblichen Überreste von Rowans Töchterchen bezahlt. Keiner ihrer Kollegen wusste, was sie für Rowan getan hatte, und falls der eine oder andere sich darüber gewundert hatte, dass sie die Verantwortung für den Leichnam des unidentifizierten Säuglings übernehmen wollte, hatten sie es sich nicht anmerken lassen.
Rowan hatte nicht gefragt, woher Althea von der Identität des Kindes wusste, und es schien ihr ein Trost zu sein, zu wissen, dass ihrem Baby am Ende doch noch die würdevolle Behandlung zuteil werden würde, die es verdiente.
Gabriel jedoch hatte eine Erklärung gefordert.
»Es liegt also jetzt in seiner Hand«, hatte er mit stoischer Resignation gesagt, als Althea ihm von Babcock erzählt hatte.
»Ja. Aber Ronnie Babcock ist ein guter Mann, und er war ein Freund von Annie Constantine. Er würde nie etwas tun, was Ihnen oder Ihren Kindern schadet.« Danach hatte sie das Gefühl gehabt, dass es Gabriel leichter ums Herz war, bei aller Trauer um Rowan.
»Sind wir schon in der Mitte?«, fragte Joseph, der ihren Weg über den Aquädukt aufmerksam verfolgt hatte. Nachdem Gabriel sich vergewissert hatte, dass keine Boote hinter ihnen waren, drosselte er den Motor der Daphne. Das Boot wurde langsamer und blieb schließlich stehen, als schwebte es hoch über dem Tal in der Luft. Anfangs schien die Stille vollkommen, doch dann drang allmählich das Seufzen des Windes an Altheas Ohr, das Zwitschern der Vögel unter ihnen, und dazu vermeinte sie ein leises Ächzen der Konstruktion zu hören, die sie trug, als ob die Brücke atmete.
»Seid ihr bereit?«, fragte Gabriel, und die Kinder nickten mit ernsten Gesichtern. Gabriel reichte ihnen die Urne ihrer Mutter und nahm selbst die von Marie. Zusammen entfernten sie die Deckel, und auf ein Nicken von Gabriel hin ließen sie die Asche vom Wind davontragen.
Schweigend sahen sie ihr nach, bis auch der letzte Rest verschwunden war. Dann nahm Althea eine kleine Schatulle aus ihrer Manteltasche. Sie hatte sich mit ihrer Bitte an Roger Constantine gewandt, und er hatte sich zwar gewundert, aber dennoch bereitwillig zugestimmt. Nun nahm Althea den Deckel der Schatulle ab, holte mit dem Arm aus und verstreute den Inhalt weit über den Brückenrand, wie Gabriel und die Kinder es zuvor getan hatten.
»Mach’s gut, Annie, wo immer du bist«, sagte sie.