22
Babcock kam gegen halb neun am nächsten Morgen im
Stadtzentrum von Nantwich an. Da er die Büroräume von Newcombe
& Dutton noch verschlossen fand und die Jalousien an den
Fenstern heruntergelassen, schlenderte er über die Straße zum
Friedhof und setzte sich auf eine Bank, von der aus er den Eingang
unauffällig im Auge behalten konnte. Es war ein grauer Morgen;
Reste des Nebels der vergangenen Nacht waberten noch um die Dächer
und den mächtigen viereckigen Glockenturm der Kirche, und es
dauerte nicht lange, bis die Kälte der Holzbank durch den Stoff von
Babcocks Mantel gedrungen war. Er hatte schon darüber nachzudenken
begonnen, ob es nicht ratsam wäre, sich noch ein, zwei Pfund
Polster in der Region seines verlängerten Rückens anzufuttern, als
ein funkelnagelneuer Landrover – das Adjektiv schien so gar nicht
zu einem Landrover zu passen, fand Babcock – auf den
Firmenparkplatz fuhr und Piers Dutton gemächlich vom Fahrersitz
kletterte.
Babcock fand es interessant, dass es Dutton war,
der als Erster eintraf und das Büro aufschloss, wo doch Caspar
Newcombe nur einen Katzensprung entfernt wohnte. Aber vielleicht
konnten Vermögensberater es ja in den Weihnachtsferien ein bisschen
ruhiger angehen lassen – im Gegensatz zu Polizeibeamten. Es passte
ihm jedenfalls ganz gut in den Kram, da er Dutton ohnehin zuerst
unter vier Augen befragen wollte.
Er ließ Dutton ein paar Minuten Zeit, um nicht den
Eindruck zu erwecken, er habe ihm aufgelauert. Schließlich wollte
er, dass der Mann entspannt war – jedenfalls zu Beginn des
Gesprächs.
Während er wartete, ließ er seine steifgefrorenen
Fingergelenke knacken und ging im Geist noch mal sein Gespräch mit
Duncan Kincaid am gestrigen Abend durch. Es war eine heikle
Situation. Nicht nur, dass Kincaid ihm gegen den Willen seiner
Schwester von deren Verdacht erzählt hatte – Babcock kannte Juliet
Newcombe auch nicht gut genug, um ihre Glaubwürdigkeit beurteilen
zu können. Er konnte nicht ausschließen, dass sie die ganze
Geschichte nur erfunden hatte, um eine persönliche Rechnung mit
Dutton zu begleichen.
Die Jalousien an den Bürofenstern wurden
hochgezogen. Das war für Babcock das Signal, sich von der Bank
aufzuraffen und über die Churchyardside zu dem Bürogebäude am Ende
der Monk’s Lane zu gehen. Ein dezentes Läuten ertönte, als Babcock
die Tür aufstieß und den Empfangsbereich betrat. Piers Dutton kam
sofort aus seinem Büro hervor. Er schien überrascht, Babcock zu
sehen, aber nicht beunruhigt.
»Sie sind ja heute früh dran, Chief Inspector«,
sagte er freundlich. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte Sie nur kurz sprechen, Mr. Dutton,
falls Sie nichts dagegen haben.«
»Sind Sie mit Ihrer Suche nach den verschwundenen
Smiths noch nicht weitergekommen?«, fragte Dutton, während er
Babcock in das Zimmer bat, aus dem er gekommen war. »Darf ich Ihnen
eine Tasse Kaffee anbieten?«
»Ja, danke.« Babcock, der selbst ein ziemlicher
Morgenmuffel war, wunderte sich ein wenig über Duttons herzlichen
Empfang. Aber einen Kaffee – und es war wahrscheinlich sehr guter
Kaffee – würde er nicht ablehnen, zumal er halb erfroren war.
Er folgte Dutton und sah sich interessiert in
dessen Privatbüro um. Was den Kaffee betraf, hatte er richtig
vermutet. Ein
chromblitzender Automat aus deutscher Produktion, der aussah, als
würde er mit Raketentreibstoff laufen, prangte auf dem Sideboard an
der hinteren Wand, und der Duft, der ihm entströmte, war so
köstlich, dass Babcock das Wasser im Mund zusammenlief.
Die restliche Einrichtung war im gleichen Stil
gehalten wie das Sideboard – einem Stil, der Babcock persönlich
überhaupt nicht zusagte. Doch das edle Holz und der Teppich, in dem
er bis zu den Knöcheln versank, rochen nach Geld, und das war wohl
auch ihr hauptsächlicher Zweck. An der maisfarbenen Wand hinter
Duttons Schreibtisch hing ein einzelnes Gemälde, eine kunstvoll
gerahmte Studie eines kastanienbraunen Pferdes und eines Spaniels
im Stil von George Stubbs. Doch je länger Babcock die
juwelengleiche Tiefe der Farben und den exquisiten Pinselstrich
studierte, desto mehr stieg in ihm der Verdacht auf, dass es sich
tatsächlich um einen echten Stubbs handelte. Er pfiff leise durch
die Zähne.
»Bitte sehr, Chief Inspector.« Dutton reichte ihm
seinen Kaffee – in einer Tasse mit Untertasse aus feinstem
Porzellan – und sah ihn fragend an.
»Ich habe nur Ihr Gemälde bewundert«, sagte
Babcock, der sich einen Spaß daraus machte, den unbeleckten
Provinzler zu spielen. »Erinnert mich an ein Bild, das ich mal in
London gesehen habe, in der Tate. Von George Stubbs, wenn ich mich
recht entsinne.«
Dutton wandte sich ab, um das Gemälde anzuschauen,
doch es gelang ihm nicht ganz, den Ausdruck der Befriedigung zu
verbergen, der über sein Gesicht huschte. »Scharf beobachtet, Chief
Inspector. Es ist in der Tat ein Stubbs. Ein Familienerbstück
übrigens, aber ich habe es hier aufgehängt, damit ich mehr davon
habe.«
Das wagte Babcock nun wieder zu bezweifeln, da
Dutton dem Bild den Rücken zuwandte, wenn er an seinem Schreibtisch
saß, und ebenso wenig glaubte er, dass es sich um ein Erbstück
handelte, doch er gab sich gehörig beeindruckt. »Haben Sie denn
keine Angst vor Dieben, Sir?«, fragte er mit einem Blick zum
Fenster, das direkt auf den Marktplatz hinausging.
»Unsere Räume sind sehr gut gesichert«, antwortete
Dutton. »Und ich erzähle ja nicht überall herum, dass es ein
Original ist. Die wenigsten Leute haben eine Vorstellung von seinem
Wert.« Er musterte Babcock neugierig. Es war vielleicht ein Fehler
gewesen, Interesse an dem Bild zu zeigen, dachte Babcock, doch er
fand es interessant, dass Dutton der Versuchung nicht hatte
widerstehen können, mit seinem Besitz zu protzen.
Dutton schenkte sich selbst Kaffee ein, um dann auf
einem der zwei Besucherstühle Platz zu nehmen, während er Babcock
den anderen anbot. Es war eine Geste, die eine behagliche
Atmosphäre schaffen sollte und die Dutton vermutlich auch
einsetzte, wenn er einen Kunden zu einem Abschluss bewegen wollte.
Babcock fragte sich, wieso der Mann plötzlich seine Taktik geändert
hatte, nach der subtilen Herablassung, die er bei ihrem ersten
Gespräch an den Tag gelegt hatte. Vielleicht lag es daran, dass
Dutton nach Babcocks Bemerkung über das Gemälde zu dem Schluss
gelangt war, der Mann verdiene es, als gesellschaftlich ebenbürtig
behandelt zu werden – ein Gedanke, bei dem Babcock unwillkürlich
mit den Zähnen knirschte. Oder aber irgendetwas hatte Dutton nervös
gemacht. Babcocks Neugier wuchs zusehends.
Ȇbrigens, ich bin gar nicht wegen der Smiths
hier«, sagte er. Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee, fand,
dass er ebenso gut schmeckte, wie er duftete, und setzte die
zerbrechliche Tasse vorsichtig auf seinem Knie ab. »Ich muss wohl
davon ausgehen, dass Sie von dem Mord, der sich gestern ereignet
hat, noch gar nichts wissen?«
»Mord?« Dutton starrte ihn verständnislos an.
»Eine Frau namens Annie Lebow wurde am Kanalufer
neben ihrem Boot tot aufgefunden, übrigens nicht sehr weit von
Ihrem Haus.« Als Dutton immer noch nicht zu begreifen schien, fügte
er hinzu: »Sie dürften sie wahrscheinlich als Annie Constantine
gekannt haben. Sie war eine Ihrer Kundinnen.«
»Was?« Duttons Augen weiteten sich, und Babcock
hätte schwören können, dass es echtes Entsetzen war, das sich in
dem plötzlichen Erschlaffen der Gesichtsmuskeln seines Gegenübers
ausdrückte, ehe es eilig überspielt wurde. »Natürlich kenne ich
Annie Constantine«, sagte Dutton gedehnt. »Keine Ahnung, wieso sie
sich plötzlich Lebow genannt hat, wo doch sie und ihr Mann noch gar
nicht geschieden sind.« Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht
recht begreifen, was er gerade gehört hatte. »Tot, sagen
Sie?«
»Können Sie mir sagen, wo Sie vorgestern Abend
waren und was Sie gemacht haben, Mr. Dutton?«, fragte Babcock, der
keine Lust hatte, sich weiter den ahnungslosen Gutsbesitzer
vorspielen zu lassen, obwohl er sicher war, dass hinter diesen
blauen Augen gerade blitzschnelle Berechnungen angestellt
wurden.
»Wo ich war? Wieso um alles in der Welt müssen Sie
das unbedingt wissen?« Dutton klang empört, doch das Porzellan in
seiner Hand klirrte verräterisch. Er beugte sich vor, um die Tasse
auf der Kante seines Schreibtischs abzustellen, wobei ein wenig
Kaffee in die Untertasse schwappte.
»Routineermittlungen«, erwiderte Babcock leichthin
– er wusste genau, dass er Dutton damit ärgern konnte. »Ich bin mir
aber sicher, dass Sie uns dabei nach Kräften unterstützen
werden.«
»Selbstverständlich«, bestätigte Dutton im Brustton
der Überzeugung. »Aber ich habe Annie Constantine seit mindestens
einem Jahr nicht mehr gesehen, deswegen verstehe ich nicht ganz
…«
»Waren Sie vorgestern Abend zu Hause, Mr.
Dutton?«
»Ich … nein, ich habe mich mit Freunden im Swan in
Tarporley zum Essen getroffen. Gegen halb elf sind wir
auseinandergegangen, und ich bin gleich heimgefahren. Der Nebel
wurde zusehends dichter, und ich dachte mir, ich sollte besser
zusehen, dass ich nach Hause komme, ehe die Sicht noch schlechter
wird.« Jetzt steuerte Dutton schon von sich aus Informationen bei,
ein klares Zeichen dafür, dass Babcock ihn auf dem falschen Fuß
erwischt hatte. »Zumal, da ich ein oder zwei Glas Wein zu viel
intus hatte«, fügte er hinzu und begleitete sein Geständnis mit
einem leichten Zwinkern – Männer von Welt unter sich.
Babcock erwiderte das Lächeln nicht. »Und kann
irgendjemand bezeugen, dass Sie zu Hause angekommen und auch dort
geblieben sind? Ihr Sohn vielleicht?«
Duttons sorgfältig einstudierte Leutseligkeit
verflog. Er wurde blass und erwiderte wütend: »Ich werde nicht
zulassen, dass Sie meinen Sohn in die Mangel nehmen, Chief
Inspector. Ich begreife nicht, wieso Sie es überhaupt für nötig
halten …«
»Das Opfer hatte über Ihre Firma beträchtliche
Summen investiert, nicht wahr?«
Dutton griff wieder nach seinem Kaffee,
offensichtlich bemüht, etwas von seiner Selbstsicherheit
zurückzugewinnen, doch Babcock stieg plötzlich ein Hauch von teurem
Aftershave in die Nase, vermischt mit Schweiß. »Seit wann ist das
ein Verbrechen«, sagte Dutton mit bemühter Lässigkeit, »und seit
wann geht das irgendjemanden etwas an?«
»Seit wir Informationen erhalten haben, die darauf
hindeuten, dass Sie mehrere Ihrer Kunden betrogen haben könnten,
Mr. Dutton. Wenn Sie Ms. Constantine bestohlen hätten und
sie dahintergekommen wäre, hätten Sie auf jeden Fall ein Motiv
gehabt. An der Gelegenheit dürfte es ebenfalls nicht gefehlt haben,
und das Mittel zur Tat war ohnehin zur Hand.«
Dutton lachte plötzlich schallend auf. »Das ist
also Ihre Theorie, Chief Inspector? Und Ihre Quelle ist wohl Juliet
Newcombe, habe ich recht?« Er schüttelte den Kopf, wie ein gütiger
Onkel, der seine Enttäuschung zum Ausdruck bringt. »Ich hatte
wirklich mehr von Ihnen erwartet. Jetzt hören Sie mir mal zu: Ich
habe versucht, die Sache aus Rücksicht auf Caspar diskret zu
handhaben, aber Sie müssen wissen, dass diese Frau ernsthaft
gestört ist. Sie hat eine Art … krankhafte Fixierung auf meine
Person entwickelt.« Er wandte sich ab, als sei ihm das Geständnis
peinlich. »Als ich nicht auf ihre Avancen einging, sann sie
offenbar auf Rache. Sie … bildete sich alles Mögliche ein. Deswegen
habe ich ihr nahegelegt, die Firma zu verlassen und sich
selbstständig zu machen. Ich habe ihr Kunden vermittelt. Ich habe
versucht, meinen Partner so lange wie möglich damit zu verschonen,
aber irgendwann musste ich ihm einfach sagen, was Sache war.«
Es war raffiniert, es klang plausibel, es war
überzeugend in einem widerstrebenden Ton vorgetragen – und Babcock
glaubte kein Wort davon. Zum ersten Mal war er sich sicher, dass
Juliet Newcombe die Wahrheit gesagt hatte und dass Dutton sich die
Sache mit ihrer Vernarrtheit in ihn zurechtgelegt hatte, um sich
abzusichern. Hatte ihr Mann ihm tatsächlich geglaubt?
Aber wenn Juliet Newcombe über derart gefährliches
Wissen verfügt hatte, wieso war dann nicht sie tot, sondern Annie
Constantine? Etwa, weil Dutton sich nicht sicher gewesen war, wie
viel Juliet wusste? Oder weil er sich denken konnte, dass sie aus
Loyalität zu ihrem Ehemann schweigen würde?
Wenn das der Fall war, wäre es dann möglich, dass
Annie Constantine etwas von Juliet erfahren hatte, was ihren
Verdacht
geweckt hatte? Gab es eine Verbindung zwischen den beiden Frauen,
die Juliet bisher verschwiegen hatte? Und hatte das alles
irgendetwas mit dem Kind zu tun, das in dem Viehstall eingemauert
worden war, so nahe bei Piers Duttons Grundstück?
Dutton beobachtete ihn, wie um seine Reaktion
einzuschätzen, und so erwiderte Babcock mitfühlend: »Schwierige
Situation für Sie. Aber Sie werden dennoch Verständnis dafür haben,
dass wir die Transaktionen, die Sie in Ms. Constantines Auftrag
vorgenommen haben, überprüfen müssen.«
»Dafür habe ich nicht das geringste Verständnis.«
Duttons Lächeln, das nie bis zu seinen Augen gereicht hatte, war
nun ganz verschwunden, und sein Ton hätte einen brodelnden Geysir
einfrieren können. »Sie haben kein Recht, die vertraulichen
Unterlagen meiner Kunden einzusehen, Chief Inspector, und wenn Sie
weiter darauf beharren, werde ich meinen Anwalt einschalten
müssen.«
Babcock trank seinen Kaffee bewusst langsam und
genüsslich bis zum letzten Tropfen aus, um dann in die Jackentasche
zu greifen und einen gefalteten Zettel hervorzuholen. »Dann können
Sie ihm gleich das hier zeigen. Es ist ein Gerichtsbeschluss, der
unser Betrugsdezernat autorisiert, Ihre Papiere zu durchsuchen. Die
Kollegen dürften« – er sah auf seine Uhr – »jeden Moment hier sein.
Wenn Sie nichts dagegen haben, warte ich einfach hier auf sie. Und
in der Zwischenzeit«, fügte er hinzu, indem er ein Notizbuch aus
der Tasche zog, »können Sie mir schon mal die Namen Ihrer Freunde
nennen, mit denen Sie in Tarporley gegessen haben.«
Gabriel Wain wartete schon auf Althea. Finster
brütend stand er auf dem Parkplatz am Kanalufer gegenüber von
seinem Boot, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Er blickte
von der Daphne zur Straße und wieder zurück. Obwohl er
wartete, bis sie am Ende der Parkbucht einen Platz für ihren Wagen
gefunden hatte, verriet die Art, wie er von einem Fuß auf den
anderen trat, seine mühsam unterdrückte Ungeduld. Ihr Herz krampfte
sich zusammen, als sie auf ihn zutrat. Hatte Rowans Zustand sich
plötzlich verschlechtert?
Doch ehe sie ihn fragen konnte, sprudelten die
Worte aus ihm hervor, als habe er es nicht erwarten können, sie
loszuwerden. »Die Polizei war da. Ich hab der Frau gesagt, was Sie
mir geraten haben – dass diese Constantine mir in die Daphne
reingefahren ist und den Bug zerkratzt hat. Wie’s scheint, haben
sie es geschluckt.« Er rieb sich das Kinn, und sie sah, dass er
sich schon länger nicht mehr rasiert hatte.
»Na, dann ist ja alles …«
»Nein, nein«, fiel er ihr ungehalten ins Wort.
»Später ist dann noch mal eine Frau gekommen, als ich gerade
Brennholz holen war. Polizei oder noch so’ne komische
Sozialarbeiterin, eins von den beiden. Ich hab sie nur von weitem
gesehen, aber die Typen erkenne ich meilenweit gegen den Wind –
diese selbst ernannten Weltverbesserer, die in alles ihre Nase
stecken müssen. Sie hat mit Marie geredet, diese Frau, hat ihr
Fragen gestellt. Und als sie mich kommen sah, hat sie sich gleich
aus dem Staub gemacht.«
»Was hat sie gefragt? Hat Marie Ihnen das
erzählt?«
»Nur, dass es eine ›liebe Frau‹ gewesen wäre.«
Gabriel fuhr sich frustriert mit der Hand durch das dunkle Haar,
sodass die Spitzen wild abstanden. »Ein ums andere Mal hab ich’s
dem Mädchen eingebläut, dass es nicht mit Fremden reden soll
…«
»Lassen Sie sie, Gabriel«, sagte Althea, während
sie fieberhaft nachdachte. »Sie ist doch noch ein Kind, und um sie
geht es ja hier auch gar nicht.« Wenn die Polizei Gabriel im
Verdacht hatte, hätte Babcock dann nicht etwas gesagt, als sie
gestern Nachmittag mit ihm gesprochen hatte? War es denkbar, dass
Babcock Wind von ihrer Verwicklung in die Geschichte
bekommen und ihr seinen Verdacht bewusst vorenthalten hatte?
Schließlich hatte er auch über ihren Kopf hinweg mit dem
Forensischen Anthropologen über die mumifizierte Kinderleiche
gesprochen.
Was, wenn Babcock auf Annie Lebows Verbindung mit
Gabriel und seiner Familie gestoßen war? Und wenn die Polizei von
den früheren Anschuldigungen gegen Rowan und Gabriel erführe, würde
das Jugendamt doch sicher nicht lange auf sich warten lassen?
Sie blickte Gabriel in die Augen und sah die nackte
Angst darin, und da wusste sie, dass ihre Entscheidung schon
gefallen war. Nur einen Augenblick lang fragte sie sich, wie aus
der Frau, die ihr Leben lang sämtliche Verpflichtungen über die
Pflege ihrer Schwester hinaus abgelehnt hatte, diese leichtsinnige
Person geworden war, die bereit war, Karriere und Ruf zu opfern, um
Menschen zu helfen, die sie kaum kannte. Aber dann hörte sie sich
schon sagen: »Gabriel?«, und die Stimme der Vernunft erlosch wie
ein Irrlicht.
»Gabriel!«, wiederholte sie mit mehr Nachdruck.
»Hören Sie zu. Was die Kinder betrifft – ich denke, Sie sollten sie
für eine Weile bei mir wohnen lassen.« Sie kam dem Protest zuvor,
der sich schon auf seinen Lippen formte, während sie sich zugleich
fragte, wie das alles mit ihrer Arbeit im Krankenhaus zu
vereinbaren wäre und wie sie die Dinge zu Hause regeln sollte.
Sollte sie sich einfach krankmelden? Könnte sie es riskieren, die
Kinder mit Beatrice allein zu lassen? Könnte sie Paul um Hilfe
bitten?
»Wenn die Polizei wiederkommt, hat sie vielleicht
jemanden vom Jugendamt dabei«, fuhr sie fort. »Wenn die Kinder dann
nicht mehr hier wären, hätten wir zumindest eine Chance, das
Schlimmste abzuwenden. Ich habe Beziehungen …«
»Aber Rowan, sie würde es nicht ertragen, sie gehen
zu lassen.
Jede Minute, die ihr noch bleibt …« Er brach ab und blickte mit
geröteten Augen zum Boot hinüber. »Wie könnte ich auch nur
…?«
»Ich weiß«, sagte Althea sanft. »Aber was wäre,
wenn sie Ihnen die Kinder wegnähmen? Ich kann mir nicht vorstellen,
was für Rowan schlimmer sein könnte als das. Und wenn sie kommen …
falls die Polizei Sie zur Vernehmung aufs Revier mitnehmen sollte,
würden die Kinder mitbekommen …«
»Sie haben noch nie eine Nacht woanders als auf
diesem Boot verbracht«, protestierte Gabriel heftig. »Sie kennen
nichts anderes.«
Eine Woge der Traurigkeit überkam Althea. Sie legte
ihm die Hand auf den Arm – eine Berührung, die weder er noch sie
bis vor wenigen Augenblicken akzeptiert hätte. »Gabriel, es wird
sich vieles ändern. Was immer geschieht, es wird nicht mehr so sein
wie früher.«
»Du hättest sowieso nicht mit ihm fahren können«,
sagte Gemma leise zu Kincaid. »Du bist zu nahe dran an der
Geschichte, das weißt du. Wir können froh sein, wenn DCI Babcock
uns nicht ganz vor die Tür setzt, weil Juliet in den Fall
verwickelt ist.«
Sie hatten sich an einen freien Schreibtisch in der
Ecke der Einsatzzentrale zurückgezogen, und sie wusste, dass es für
Kincaid genauso frustrierend sein musste wie für sie, zu sehen, wie
die Ermittlungen um sie herum weiterliefen, ohne dass sie daran
beteiligt waren. Er hatte sich auf einen Drehstuhl gesetzt, dessen
rissiges Kunstlederpolster mit Klebeband geflickt war. Er starrte
finster vor sich hin und trommelte mit den Fingern auf der
klebrigen Schreibtischplatte herum. Sie wusste, dass er wusste, wie
recht sie hatte, aber ihr war auch klar, dass es seine Laune noch
weiter verschlechtern würde, wenn er gezwungen wäre, es zuzugeben,
und so ließ sie es gut sein.
Der leicht aufbrausende Sergeant Rasansky war auch
nicht da, und es war DC Larkin gewesen, von der sie erfahren
hatten, dass Babcock mit der richterlichen Anordnung in der Tasche
nach Nantwich gefahren war, um Piers Dutton zu vernehmen, und dass
ein Team vom Betrugsdezernat zu einer vereinbarten Zeit dazustoßen
würde. Beeindruckt von seiner effektiven Arbeitsweise hatte Gemma
bemerkt: »Ihr Chef ist ja wirklich von der schnellen Truppe.«
Larkin hatte nur den Kopf geschüttelt. »Seien Sie
froh, dass Sie ihm heute Morgen nicht in die Quere gekommen sind.
Er hat sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, um den
Durchsuchungsbeschluss zu kriegen, und jetzt schuldet er allen
möglichen Leuten einen Gefallen. Piers Dutton hat in dieser Stadt
eine Menge Einfluss.« Sie warf Kincaid einen durchdringenden Blick
zu. »Ich hoffe, Sie liegen richtig mit Ihrem Verdacht. Die Jungs
vom Betrug wären auch nicht gerade begeistert, wenn sich
rausstellen würde, dass sie auf eine falsche Spur gehetzt
wurden.«
Mit dieser missbilligenden Bemerkung war sie zu
ihrem Schreibtisch und ihren Berichten zurückgekehrt, und obwohl
sie ab und zu einen neugierigen Blick in ihre Richtung warf, erhob
sie keine Einwände gegen Gemmas und Kincaids Anwesenheit. Doch
wenig später nahm ein Anruf ihre ganze Aufmerksamkeit in
Anspruch.
Gemma beobachtete sie. Die forsche Art der jungen
Polizistin gefiel ihr, und nachdem Larkin den Hörer aufgelegt
hatte, bahnte sie sich einen Weg vorbei an den Stolperfallen am
Boden zu ihrem Schreibtisch und setzte sich auf die Kante.
»Interessante Neuigkeiten?«, fragte sie.
Larkin zögerte und zuckte dann leicht mit den
Schultern. »Das war die Western Division. Der Constable, der
in Tilston meistens Streifendienst macht, kennt Roger Constantine.
Er sagt, der Mann lebt ziemlich zurückgezogen, aber die Nachbarn
erzählen, dass er sich gelegentlich mit einer jungen Frau im Pub
zum Essen trifft.«
»Das liefert ihm ja ein fettes Motiv«, sagte
Kincaid. Er sah schon wieder wesentlich munterer aus. »Aber wir
wissen, dass Annie ihn an diesem Abend zu Hause angerufen hat.
Hätte er danach noch von Tilston nach Barbridge fahren können, in
dem Nebel? Und wenn ja, hätte er auch das Boot finden
können?«
»Sie hatte ihm vielleicht eine genaue
Wegbeschreibung gegeben«, warf Gemma ein, doch Kincaid runzelte
bereits die Stirn.
»Wenn er diesen Abschnitt des Shroppie nicht
zufällig sehr gut kannte, wäre er vermutlich eher im als
am Kanal gelandet. Du hast doch gesehen, wie er sich auf
dieser Strecke windet und schlängelt. Es sei denn …«
Er brach ab, da Larkins Blick zur Tür abschweifte.
Als Gemma sich umdrehte, war es nicht Babcock, den sie eintreten
sah, sondern Sergeant Rasansky, und er sah zufriedener aus, als sie
es für möglich gehalten hätte.
»Was gibt’s, Sarge?«, fragte Larkin, die ebenso
überrascht schien. »Sie grinsen ja wie ein Honigkuchenpferd.«
»Ich hab diese verdammten Smiths endlich
aufgetrieben.« Er nickte Kincaid und Gemma zu und pflanzte sich
ohne Rücksicht auf Larkins sorgfältig geordnete Papierstapel auf
die Kante ihres Schreibtischs. »Haben sich eine Wohnung in einer
Seniorenresidenz in Shrewsbury gekauft – gar nicht so übel, wenn
einem so was gef…«
»Sarge«, unterbrach ihn Larkin, und Gemma
vermutete, dass Rasansky zur Weitschweifigkeit neigte, wenn er ein
Publikum hatte. »Was haben sie über das Baby gesagt?«
Er schnalzte mit der Zunge. »Schockiert waren sie,
total schockiert. Hab schon Angst gehabt, dass die gute Mrs. Smith
mir mit’nem Herzinfarkt vor die Füße kippt, die Ärmste. Der
Herr Gatte musste sie in den Sessel setzen und ihr ein Glas Wasser
holen. Sie sagten, sie hätten nicht die geringste Ahnung, wie so
etwas in ihrem Viehstall passieren konnte, und ganz bestimmt sind
ihnen in letzter Zeit keine kleinen Kinder abhanden gekommen. Ihre
Enkel waren zehn und zwölf, als sie ausgezogen sind, womit sie wohl
als potenzielle Eltern ausscheiden.« Er ignorierte Larkins
enttäuschten Blick und sah sich suchend im Zimmer um. »Wo ist denn
der Chef?«
»Der vernimmt noch immer Piers Dutton. Also, wieso
das ganze Trara?«
Rasansky zögerte, als überlegte er noch, ob er
freiwillig auf die Ehre verzichten wollte, Babcock als Erster die
frohe Botschaft zu überbringen, doch nachdem er seine Zuhörer
derart auf die Folter gespannt hatte, war die Versuchung zu groß.
»Na ja, ich dachte schon, das war ein Schuss in den Ofen, aber dann
haben die beiden darauf bestanden, mich zu Tee und Kuchen
einzuladen, weil ich mir doch extra die Mühe gemacht hatte, zu
ihnen rauszufahren.«
Larkin, die so saß, dass der Sergeant ihr Gesicht
nicht sehen konnte, verdrehte die Augen, und Gemma unterdrückte ein
Lächeln. Nach dem Bäuchlein zu schließen, das sich unter seiner mit
Krümeln übersäten Krawatte wölbte, kam es wohl öfter vor, dass er
eine solche Einladung nicht ausschlagen konnte.
»Und das war auch gut so«, fuhr Rasansky fort,
»denn erst nachdem der alte Herr sich beruhigt und ein bisschen
Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, fiel ihm ein, dass er damals,
kurz bevor sie den Entschluss zum Verkauf fassten, in dem alten
Viehstall einige Maurerarbeiten hatte ausführen lassen. Er hatte
dazu einen Kanalschiffer angeheuert, einen gewissen Wain.« Er nahm
sein Notizbuch aus der Jackentasche und blätterte wichtigtuerisch
darin herum. »Gabriel Wain. Jetzt müssen wir den Kerl bloß noch
finden...«
»O Mann.« Sheila Larkins normalerweise rosige
Wangen wurden plötzlich bleich. »Gabriel Wain. Wir hatten ihn die
ganze Zeit praktisch auf dem Präsentierteller, und ich hab’s
einfach nicht geschnallt.«
»Wovon reden Sie?«, schaltete Kincaid sich
ein.
»Seine Frau heißt Rowan – das muss er sein.« Sie
schüttelte ungehalten den Kopf, da die anderen noch immer nicht
begriffen. »Ich habe ihn vernommen. Sein Boot liegt in Barbridge,
und eine Frau, die am Kanal wohnt, hat ausgesagt, er hätte sich an
Heiligabend mit Annie Lebow gestritten. Er sagte, sie hätte sein
Boot gerammt, er hat mir sogar die Schramme gezeigt, und es klang
alles ganz plausibel. Ich habe ja nicht …«
»Sheila, ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen
nicht immer so leichtgläubig …«, setzte Rasansky an, doch Kincaid
schnitt ihm das Wort ab.
»Sie sagen also, dass derselbe Mann, der
möglicherweise in die Sache mit dem toten Kind verwickelt war,
einen Streit mit Annie Lebow hatte?«
Larkin nickte zerknirscht. »Und das ist noch nicht
alles. Vorhin habe ich die Fallakten des Opfers gelesen – von Annie
Constantine, wie sie damals noch hieß. Die hatte ich mir vom
Sozialamt schicken lassen. Ich habe sie erst mal nur überflogen,
deshalb …« Ihre Wangen hatten wieder Farbe bekommen, aber diesmal
war es die Röte der Verlegenheit. »Ich habe einfach die Verbindung
nicht hergestellt.
Es gab da einen Fall, nicht lange vor Constantines
Ausscheiden aus dem Beruf – eine Mutter, die angeblich am
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt. Sie hat den Ärzten immer
wieder erzählt, ihr kleiner Junge habe Anfälle und Atemstillstände,
aber sie konnten nichts finden, also hat der behandelnde Arzt die
Sache an das Jugendamt weitergegeben. Annie Constantine sorgte
dafür, dass die Anschuldigungen fallen gelassen
wurden, also habe ich mich auch nicht weiter darum gekümmert. Aber
die Sache ist die: Diese Frau hatte damals, während die
Ermittlungen liefen, ein Mädchen namens Marie zur Welt gebracht.
Und die Mutter … der Name der Mutter war Rowan Wain.«
Man konnte geradezu die Rädchen in Rasanskys Hirn
schnurren hören, als er sagte: »Die Smiths haben ihr Anwesen vor
fünf Jahren verkauft, also muss das mit den Maurerarbeiten im
Viehstall noch ein bisschen länger her sein. Mr. Smith sagte, es
sei im tiefsten Winter gewesen – er habe sich damals Sorgen
gemacht, dass der Mörtel bei der Kälte nicht richtig hart
würde.«
»Das würde zu dem passen, was die Rechtsmedizinerin
herausgefunden hat«, warf Kincaid ein. »Keine Anzeichen von
Insektenfraß an der Leiche.«
Sheila Larkin wühlte schon in den Papieren auf
ihrem Schreibtisch. Als sie die Akte gefunden hatte, blätterte sie
eine Weile darin und fuhr mit dem Zeigefinger über die Zeilen.
Gemma fiel auf, dass ihr Fingernagel bis aufs Fleisch abgekaut
war.
Larkin hielt inne und las eine Weile konzentriert,
wobei ihre Lippen stumm die Worte formten. Schließlich blickte sie
auf. »Der Zeitrahmen könnte passen. Constantine hat den Fall ein
Jahr vor ihrem Ausscheiden aus dem Job bearbeitet.«
»Also, dieser Wain oder seine Frau haben das ältere
Kind misshandelt.« Rasansky breitete das Szenario geradezu lustvoll
aus. »Dann fangen sie bei dem Baby auch damit an, aber diesmal
stirbt das Kind. Wain arbeitet zufällig gerade an dem Viehstall, wo
er ein paar Mauern ausbessern soll, und er denkt sich, das passt ja
wunderbar – eine ideale Gelegenheit, die Leiche loszuwerden, ohne
dass irgendjemand was mitkriegt. Und diese Bootsleute, das sind ja
alles Zigeuner. Die haben so viele Kinder, dass man beim Zählen gar
nicht mehr mitkommt, und
als sie dann weiterziehen, fällt keinem Menschen auf, dass sie ein
Balg weniger haben.«
»Bis auf Annie Constantine«, sagte Larkin leise.
»Als sie nämlich die Wains an Heiligabend traf. Wenn sie es war,
die mit Gabriel Wain gestritten hat, wenn sie vielleicht gedroht
hat, sie den Behörden zu melden …«
»Motiv.« Rasansky legte einen fleischigen
Zeigefinger an den anderen. »Und die Gelegenheit hatte er ganz
sicher auch – wenn irgendjemand ihr Boot in der Dunkelheit finden
konnte, dann war es dieser Wain. Er muss den Kanal kennen wie seine
Westentasche.«
Larkin warf einen Blick auf die Wanduhr. »Wo bleibt
denn nur der Chef? Ich weiß zwar nicht, ob er uns den Kopf abreißen
oder die Hand küssen wird, aber wir müssen uns diesen Wain kaufen
…«
»Es gibt nur ein Problem bei der ganzen Sache«,
mischte Gemma sich ein. Alle drehten sich zu ihr um und starrten
sie an.
Sie hatte aufmerksam zugehört, zunächst mit
Erleichterung, als es so aussah, als hätte die ganze Sache doch
nichts mit Juliet zu tun, dann mit wachsender Bestürzung, als sie
die Fakten kombinierte.
»Sogar mehr als eines. Erstens: Annie Constantine
hatte den Fall zu den Akten gelegt, und aus dem, was Sie berichtet
haben, geht nicht hervor, dass die Ärzte je Beweise dafür gefunden
hätten, dass das Kind misshandelt wurde. Im Grunde haben sie die
Mutter ja nur beschuldigt, seine Krankheit erfunden zu haben, um
die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«
Während Larkin bedächtig nickte, zog Kincaid
fragend eine Augenbraue hoch. »Und?«
»Und«, sagte Gemma, »Marie Wain ist gesund und
munter. Eine normal entwickelte, aufgeweckte Siebenjährige. Ich
habe sie kennengelernt.«