10
Juliets Hand hatte den Zündschlüssel scheinbar von selbst umgedreht, ihr Fuß hatte das Kupplungspedal gefunden, und dann war sie auch schon losgefahren. Instinktiv hatte sie den Weg eingeschlagen, den sie am besten kannte – die A529 Richtung Nantwich.
Die sanft gewellte Wiesenlandschaft der Cheshire Plain war an ihr vorbeigezogen. Dunkle Stoppeln kamen jetzt unter der Schneedecke zum Vorschein. An jedem Kreisverkehr hatte sie gezögert, hatte sich gesagt, dass sie umkehren müsse, doch ihr Körper schien nicht gewillt, den Anweisungen ihres Gehirns Folge zu leisten.
Plötzlich merkte sie, dass sie schon den südlichen Stadtrand von Nantwich erreicht hatte. Rasch lenkte sie den Wagen in eine Seitenstraße, hielt am Bordstein an und nahm die zitternden Hände vom Lenkrad.
Was war nur in sie gefahren, dass sie sich aus dem Haus von Caspars Eltern davongestohlen hatte? Sie musste zurückfahren, musste sich irgendeine Ausrede zurechtlegen, aber was könnte sie sagen? Keine Entschuldigung würde Caspars kalte Wut besänftigen können: Sie hatte ihn vor seinen Eltern blamiert, und das war unverzeihlich. Und was würde sie den Kindern sagen? Etwa, dass es der Tonfall gewesen war, in dem ihre Schwiegermutter gesagt hatte: »Juliet, Liebes, könntest du noch eben rasch die Sauciere spülen!«?
Rita Newcombe hatte sich von ihrem hypermodernen Herd abgewandt, um Juliet ein sprödes Lächeln zu schenken und mit dem Kopf auf die Soßenschüssel zu deuten, die auf der Arbeitsplatte stand. Als ob Juliet zu beschränkt wäre, um zu wissen, was eine Sauciere war. Juliet wusste aus Erfahrung, wie sehr Rita es hasste, ihre manikürten Nägel dem Spülwasser auszusetzen, und sie würde zweifellos auch eine gute Ausrede finden, um ihre Schwiegertochter nach dem Essen mit dem Spülbecken voll schmutzigem Geschirr allein lassen zu können.
Juliet hatte sich mit zusammengekniffenen Lippen gefügt, doch falls Rita den Unwillen in ihrer Miene bemerkt hatte, war sie elegant darüber hinweggegangen. Es gab gefüllten Gänsebraten, hatte Rita sie wissen lassen – ein Rezept, das sie in einer Gourmetzeitschrift entdeckt hatte. Juliet konnte sich nicht vorstellen, dass die Kinder mehr als ein paar Bissen davon hinunterbringen würden. Rita wäre nie auf die Idee gekommen, dass den Kindern vielleicht eine schlichte gebratene Pute lieber gewesen wäre. Und wenn man sie darauf hingewiesen hätte, wäre die Antwort wohl gewesen, dass die Kinder ruhig ein wenig feinere Lebensart kennenlernen könnten – was heißen sollte, dass Juliet als Hausfrau und Mutter versagt hatte.
Und jetzt schämte Juliet sich in Grund und Boden, wenn sie daran dachte, wie sie nach ihrer Hochzeit mit Caspar ihre Eltern mit seinen verglichen und sich gewünscht hatte, Hugh und Rosemary hätten ein bisschen mehr Schliff, ein bisschen mehr Sinn für die edleren Dinge im Leben und ein bisschen weniger Interesse an Büchern.
Wie hatte sie nur so dumm sein können? Und wie hatte sie all die Jahre über ignorieren können, wie tief sie ihre Schwiegereltern im Grunde verachtete? Rita mit ihren gefärbten Haaren und perfekten Frisuren, mit ihren schicken Joggingklamotten – wobei Juliet sich noch nie hatte vorstellen können, dass sie tatsächlich joggte oder sonst irgendetwas machte, was sie ins Schwitzen bringen könnte. Und Ralph – der darauf bestand, dass man ihn Rafe nannte – mit seinem Schmerbauch und seinem schütteren Haar, der von seiner unwiderstehlichen Wirkung auf das weibliche Geschlecht überzeugt war und hemmungslos flirtete, sobald Rita ihm den Rücken kehrte.
Die Newcombes waren von Anfang an entschlossen gewesen, ihren Ruhestand zu genießen. Sie hatten gleich ihr Haus in einem Vorort von Crewe verkauft und sich in Audlem niedergelassen, einem hübschen kleinen Städtchen nahe der Grenze zu Shropshire. Das Apartment war offen angelegt und zu klein, als dass die Kinder dort hätten übernachten können. Juliet war davon überzeugt, dass genau dies beabsichtigt war.
Die Wahrheit war, dass ihre Schwiegereltern sich nicht von tobenden und lärmenden Enkeln stören lassen wollten – ja, sie hätten am liebsten gar nicht zugegeben, dass sie Enkel hatten, so hartnäckig weigerten sie sich, zu ihrem Alter zu stehen.
Juliet hatte die Sauciere abgetrocknet und sie neben die Stapel von Tellern gestellt, die darauf warteten, zu der makellos gedeckten Tafel getragen zu werden. Als sie sich vom Spülbecken weggedreht hatte, war ihr Blick auf den kombinierten Wohn- und Essbereich gefallen. Caspar und sein Vater hatten es sich mit ihren Whiskys in der Sitzecke gemütlich gemacht, und aus dem monotonen Klang der Stimme ihres Schwiegervaters schloss Juliet, dass er wohl wieder eine seiner endlosen Golf-Anekdoten zum Besten gab. Sam hockte auf dem Boden vor dem ultrarealistischen künstlichen Kaminfeuer und zupfte stumm an seinen Schnürsenkeln herum. Und Lally … Lally saß mit untergeschlagenen Beinen zu Füßen ihres Vaters und hatte den Kopf auf sein Knie gelegt, damit er ihre Haare streicheln konnte.
Und dann hatte Caspar aufgeschaut und war ihrem Blick begegnet. Der Hass in seinen Augen hatte Juliet getroffen wie ein Faustschlag ins Gesicht. Plötzlich wurde ihr schwindlig, ihr Herz hämmerte wie wild, sie glaubte keine Luft mehr zu bekommen, kalter Schweiß bedeckte ihr Gesicht und ihre Arme und rann zwischen ihren Schulterblättern herab.
Herzinfarkt, war ihr erster Gedanke. Sie hatte einen Herzinfarkt. Sei nicht albern, schalt sie sich sogleich – es war nur die überheizte Wohnung und ihre Wut auf Caspar. Aber dann überkam sie eine Welle der Übelkeit, und sie wusste, wenn sie nicht auf der Stelle die Wohnung verließ, würde sie sich tödlich blamieren.
»Entschuldigung«, hatte sie in ihrer Verzweiflung gemurmelt. »Ich hab was vergessen. Im Auto. Bin gleich wieder da.« Sie hatte in die weißen, erstaunten Gesichter geblickt, die sich ihr zuwandten wie Seeanemonen in einer Meeresströmung, und dann war sie hinausgestürzt, die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus, hatte gierig die kalte Luft eingesogen und war in die Dunkelheit hinausgerannt.
An ihrem Auto angekommen, hatte sie sich dagegen gelehnt und nach Luft ringend die Fäuste an die Brust gepresst. Da spürte sie etwas Scharfes in ihrer Handfläche, und als sie hinsah, entdeckte sie, dass sie irgendwie – es schien ihr wie ein kleines Wunder – ihren Schlüsselbund geschnappt haben musste, als sie zur Tür hinausgestürmt war. Sie waren mit ihrem eigenen altersschwachen Vauxhall Vectra gekommen – Gott sei Dank, da in Caspars kleinem Sportflitzer kein Platz für die Kinder war. Und als sie dann die Tür aufschloss und auf den Fahrersitz glitt, da hatte sie das Gefühl, in einem sicheren Hafen angekommen zu sein.
Im Wagen war es warm von der Sonne, und zuerst hatte sie nur eine Weile dort sitzen wollen, bis ihr Puls sich beruhigt hatte und ihr Kopf wieder klar war. Dann aber war ihr der Gedanke gekommen, dass jemand ihr nachgegangen sein könnte, und sie hatte gewusst, dass sie keinen Menschen in ihrer Nähe ertragen könnte, nicht einmal ihre Kinder – nicht, ehe sie sich wieder gefangen hatte.
Und so war sie losgefahren, aber sie hatte sich noch immer nicht wieder gefangen, auch jetzt nicht, in einer fremden Straße im Auto, vor einem Haus, in dem irgendeine andere Familie wohl gerade beim Weihnachtsessen saß. Sie schluckte krampfhaft, als die Übelkeit in ihrer Kehle aufstieg. Das Bild von Lally, wie sie am Knie ihres Vaters gelehnt und sie unwillig angestarrt hatte wie eine störende Fremde, war tief in ihr Gehirn eingebrannt.
Verzweiflung packte sie. Sie würde ihre Kinder verlieren, wenn sie nicht aus dieser Ehe ausbrach; schon jetzt drohte Lally ihr zu entgleiten. Caspar stachelte ihre Kinder gegen sie auf, wie Piers ihn selbst aufgestachelt hatte, und sie musste ohnmächtig zusehen. Caspar war schwach, leicht zu beeinflussen, aber Piers … sie wusste jetzt, was Piers für ein Mensch war; sie hatte gesehen, was sich hinter seiner charmanten Fassade verbarg, und das war ihr Ruin gewesen. Der Hass strömte durch ihre Adern, scharf und ätzend wie Säure, mit einer Intensität, die ihren ganzen Körper durchschüttelte. Einen kurzen Moment lang krampfte sich ihr Herz derart zusammen, dass sie glaubte, es müsse stehen bleiben.
Aber dann sank sie langsam in den Sitz zurück. Ein Gefühl der Ruhe durchfloss sie, und alles schien plötzlich verblüffend klar. Die Finger, mit denen sie den Schlüsselbund im Zündschloss berührte, schienen empfindsam wie die eines Neugeborenen.
Caspar saß in Audlem fest, bis er sich demütigte, indem er seine Eltern bat, ihn nach Hause zu fahren. Piers, das hatte Caspar ihr mehr als einmal gesagt, verbrachte den Tag in Chester bei seinem Vater, einem Rechtsanwalt im Ruhestand. Sie hatte die Schlüssel zum Büro und die Freiheit zu tun, was immer sie wollte, ohne dass jemand sie beobachtete. Es war an der Zeit, dass sie Piers Dutton zur Rechenschaft zog.
Das Stadtzentrum war wie ausgestorben, die Läden und Cafés verriegelt und verrammelt. Es war eine Bilderbuchszenerie, vergoldet vom Schein der Nachmittagssonne. Wie Puderzucker auf einem Lebkuchenhaus lag eine feine Schneeschicht auf den Dächern, und alles war noch unberührt von der chaotischen Unberechenbarkeit menschlicher Aktivität.
Juliet überquerte den freien Platz direkt vor dem Büro von Newcombe & Dutton und parkte vorsichtshalber ein paar Straßen weiter. Sie nahm keinen Mantel mit, und als sie zu Fuß zum Monk’s Way zurückging, musste sie bald feststellen, wie trügerisch das klare goldene Licht des Nachmittags war. Die Kälte drang beißend durch ihre dünne Bluse, und als sie das Büro erreichte, klapperte sie mit den Zähnen. Sie rieb sich die steif gefrorenen Finger, bis sie wieder genug spüren konnte, um den Schlüssel ins Schloss stecken zu können.
Drinnen blieb sie erst einmal stehen. Sie zitterte am ganzen Leib, aber es war nicht nur die Kälte. Sie konnte das Blut in ihren Ohren pulsieren hören, und ihr Herz schlug gegen die Rippen, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.
Die halb offenen Jalousien filterten das einfallende Licht, und die Lampe auf dem Sideboard an der Rückwand des Empfangsbereichs war eingeschaltet. Es herrschte eine unheimliche Stille, und der Raum roch leicht nach Aftershave und Ledermöbeln. Wie merkwürdig, dass ihr der Geruch zuvor nie aufgefallen war – lag es daran, dass Piers’ Einfluss seit ihrem Weggang stärker geworden war?
Sogleich verwarf sie den albernen Gedanken wieder. Sie war schon unzählige Male allein im Büro gewesen, und es war alles genau wie sonst. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und schloss die Tür ab. Schließlich wollte sie nicht riskieren, dass irgendjemand unverhofft hereinspaziert kam.
Da fiel ihr plötzlich ein, dass sie mit ihrem Tun gegen das Gesetz verstieß. Was ihr Bruder wohl davon halten würde? Die Vorstellung entlockte ihr ein Lächeln, und sie fühlte sich mit einem Mal viel besser.
Nach kurzer Überlegung steuerte sie ihren Schreibtisch – ihren ehemaligen Schreibtisch – an und kramte in der Schublade nach einer Büroklammer. Seit ihrem Weggang waren Piers und Caspar ohne Sekretärin ausgekommen – sie nahm an, dass Piers die Gefahr, ertappt zu werden, nicht ein zweites Mal heraufbeschwören wollte -, und das Fehlen einer ordnenden Hand war dem Inhalt der Schublade deutlich anzusehen. Schließlich fand sie jedoch, was sie gesucht hatte, und bog den Silberdraht sorgfältig gerade.
Eine ungeahnte Erregung hatte sie erfasst, ein berauschendes Pulsieren in den Adern, das sie entfernt an ihre Kindheit erinnerte, wenn sie mit Duncan irgendwelche Streiche ausgeheckt hatte.
Caspars Büro war rechts, das von Piers links. Ohne eine Sekunde zu zögern, wandte Juliet sich nach links.
 
»Ist wirklich ein Prachtstück, Ihr Boot!«, rief Kincaid der blonden Frau zu und deutete mit dem Kopf auf die Lost Horizon mit ihren langen, elegant geschwungenen Linien. »Sie müssen James Hilton gelesen haben«, meinte er in Anspielung auf den Namen des Boots.
Im ersten Augenblick zeigte ihre Miene noch die argwöhnische Wachsamkeit, die ihm am Abend zuvor aufgefallen war. Doch während sie ihn und Kit studierte, entspannten sich ihre Züge sichtlich, und sie antwortete: »Ja. Das ist allerdings schon Jahre her. Aber die Idee von Shangri-La hat mir immer gefallen.«
»Waren Sie nicht gestern Abend in der Kirche?«, fragte Kit und überraschte damit Kincaid, der nicht geglaubt hatte, dass diese etwas sonderbare, aber auf ihre Weise attraktive Frau noch jemandem außer ihm aufgefallen war. Und es sah Kit gar nicht ähnlich, sich so schnell ins Gespräch mit Fremden einzuschalten.
»In St. Mary’s? Ja, stimmt.« Die Frau sah Kincaid an und nickte fast unmerklich, als wollte sie ihm zu verstehen geben, dass sie den flüchtigen Blickkontakt nicht vergessen hatte. »Es war eine sehr schöne Messe. Aber für Sie ist das wohl nichts Besonderes, nehme ich an.« Kincaid war sich nicht ganz sicher, wie er den Unterton ihrer Stimme einordnen sollte – war es Neid?
»Wir sind nur über die Feiertage hier«, erklärte er. »Aber ich bin in der Gegend aufgewachsen. Hat sich nicht viel verändert.«
Sie hatte die Doppeltür der Kabine halb offen gelassen, und Kincaid merkte, wie Kit sich zur Seite lehnte, um einen Blick ins Innere des Boots zu erhaschen. Als er dem Jungen die Hand auf die Schulter legte und ihn schon halb zum Weitergehen drängen wollte, ehe sie die Privatsphäre der Frau noch weiter verletzten, fragte Kit plötzlich: »Wohnen Sie eigentlich auf dem Boot?« Sein Gesicht strahlte vor Wissbegier.
»Kit, das geht uns wirklich nichts an«, warf Kincaid hastig ein. Er packte die Schulter des Jungen und drehte ihn zum Leinpfad um. Unter dem gefütterten Anorak spürte er kräftige Muskeln und starke Knochen. An die Frau gewandt, fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie. Wir sollten wohl besser …«
»Nein, das ist schon in Ordnung.« Sie lächelte, wobei ein paar der Sorgenfalten aus ihrem Gesicht verschwanden, und es schien, als hätte sie einen Entschluss gefasst. »Ja, ich lebe an Bord. Möchtest du dir das Boot anschauen? Ich heiße übrigens Annie. Annie Lebow.«
Kincaid stellte sich und Kit vor und fügte hinzu: »Sind Sie sicher? Wir möchten Ihnen keine Umstände …«
»Nein, wirklich, es ist kein Problem. Nett von Ihnen, dass Sie fragen. Manchmal kommt man sich schon vor wie in einem Goldfischglas. Die Leute glotzen einem vom Ufer aus in die Fenster und denken sich gar nichts dabei.« Sie wandte sich an Kit und fragte: »Warst du schon mal auf einem Kanalboot?«
»Nein, aber ich habe schon viele gesehen. Der Grand Union Canal verläuft direkt hinter dem Supermarkt, wo wir zu Hause immer einkaufen. In London«, fügte er hinzu und errötete ein wenig, als er merkte, wie interessiert sie ihm zuhörte. »In Notting Hill. Der Supermarkt ist gegenüber vom Kensal Green Cemetery, gleich am anderen Kanalufer.«
»Ah, ja«. Annie Lebow nickte. »Der Paddington-Arm. Kein schlechter Liegeplatz. Ich habe mal ein paar Wochen dort verbracht.«
»Mit diesem Boot? Sie sind mit diesem Boot bis nach London gefahren?«
»Ja, wir haben schon einiges von England gesehen, die Horizon und ich. Ich kann dir eine Karte der Wasserwege zeigen, wenn es dich interessiert. Kommen Sie doch beide an Bord, und wenn du dich ein bisschen umgesehen hast, mache ich uns eine Tasse Tee.«
Kincaid ließ Kit zuerst an Bord steigen. Als der Junge vom Leinpfad ans Ufer trat und behände auf das Vorderdeck sprang, fiel Kincaid auf, wie lang seine Beine waren. Wann war er nur so in die Höhe geschossen?
»Der Rumpf ist natürlich aus Stahl«, erklärte Annie gerade. »Reine Holzboote wurden zuletzt kurz nach dem Krieg gebaut. Die Horizon ist achtundfünfzig Fuß lang, nicht siebzig wie die meisten anderen, aber auch nur sieben Fuß breit. Die traditionellen Boote hatten meistens siebzig Fuß, aber es gibt Schleusen, die für so ein langes Boot zu eng sind, sodass man mit einem Siebzig-Fuß-Boot in seiner Bewegungsfreiheit ein bisschen eingeschränkt ist.«
Während sie sprach, führte sie die beiden durch die Doppeltür und über zwei Stufen hinunter in die Hauptkabine. Kincaid duckte sich instinktiv – die niedrige Decke war nur wenige Zentimeter über seinem Kopf -, und dann staunte er nur noch. Kit schien ebenso fasziniert wie er selbst.
Das Innere des Boots war komplett mit glänzenden Holzpaneelen von der Farbe hellen Honigs verkleidet. Das Licht kam von in der Decke versenkten Lampen. In einer Ecke stand auf einem gekachelten Podest ein Holzofen, und der Wohnbereich war mit einem kleinen cremefarbenen Ledersofa und einem dazu passenden Sessel möbliert, die auf einem farbenfrohen handgewebten Teppich standen. Jeder freie Winkel war mit eingebauten Bücherregalen und Schränken belegt, und die verbleibenden Wandflächen waren mit verzierten Porzellantellern geschmückt. In den Regalen verteilt standen Schöpfkellen und Wasserkannen, im traditionellen Canalware-Stil mit Rosenmotiven bemalt, die erstaunlich gut mit der modernen Einrichtung harmonierten.
Hinter dem Wohnbereich war ein Esstisch mit der Schmalseite an eine Wand gerückt, flankiert von zwei Polsterbänken. Die Rückenlehne der hinteren bildete den Abschluss zur Kombüse hin. Und was für eine Kombüse! Es war in der Tat eine hochmoderne Luxusküche, mit geschwungenen Granitarbeitsflächen und einem ovalen Edelstahlspülbecken. Kincaid stieß einen bewundernden Pfiff aus, als er daran dachte, was eine solche Einrichtung wohl gekostet haben musste, während Kit nur halblaut »Wow!« murmelte. »Ist größer, als man von außen meint«, fügte er hörbar beeindruckt hinzu.
»Ein bisschen wie in Alice im Wunderland, was?« Annie wies mit dem Kopf in Richtung Bug. »Die Horizon hat nur einen Fuß Tiefgang, aber auf diesen Platz unterhalb der Wasserlinie kommt es an. Schauen Sie sich ruhig den Rest auch noch an, ich setze schon mal Teewasser auf.«
Als sie sich hinter ihr in die Kombüse zwängten, bemerkte Kincaid ein Buch, das auf der Arbeitsfläche lag. Es war ein altes, aber gut erhaltenes Exemplar von Tom Rolts Narrow Boat, ein Titel, den er im Antiquariat seines Vaters schon einmal gesehen hatte.
Das Bad war nicht minder elegant als der Salon und die Kombüse und sogar mit einer kleinen Wanne ausgestattet, und im Schlafzimmer stand ein ganz normales Doppelbett mit einer Tagesdecke aus Knittersamt in gedämpftem Mauve. Diese überraschend feminine Note, die zu der Frau, wie er sie kennengelernt hatte, so gar nicht zu passen schien, weckte Kincaids Interesse. Auf ihrem Nachttisch lagen ein paar aktuelle Romane und ein sehr zerlesenes Exemplar eines anderen Klassikers der Kanal-Literatur, The Water Road von dem bekannten Reiseschriftsteller Paul Gogarty. Kincaid musste gegen die Versuchung ankämpfen, es zu nehmen und ein wenig darin zu blättern.
Hinter der Schlafkabine entdeckten sie einen kleinen Maschinen- und Arbeitsraum, in dem jeder Quadratzentimeter optimal ausgenutzt war, und von dort führte eine Luke aufs Hinterdeck. Alles an Bord war höchst zweckmäßig angeordnet und gut in Schuss. Es erinnerte Kincaid an Gemmas alte Wohnung in der Garage ihrer Freundin Hazel Cavendish, und er konnte den Reiz des Lebens auf einem solchen Boot gut nachvollziehen. Natürlich nur, wenn man es sich streng verkniff, zu viel Krempel anzuhäufen, und eine Neigung zum Einsiedlertum hatte. Das Boot schien kaum für Gäste eingerichtet, wenngleich er sich vorstellen konnte, dass sich die Polsterbänke des Esstischs zu einem Bett zusammenschieben ließen.
Als sie in die Kombüse zurückkehrten, hatte Annie ihre Jacke ausgezogen und goss gerade heißes Wasser in Teebecher. »Legen Sie doch ab«, sagte sie. »Einfach alles aufs Sofa werfen. Mit einer Garderobe kann ich leider nicht dienen.« Durch den Heizkörper und den Holzofen war es tatsächlich recht warm in der Kabine, und Kincaid war froh, sich von Jacke und Schal befreien zu können.
»Sie haben ja sogar eine Dusche und ein Klo«, platzte Kit heraus, nachdem er seinen Anorak auf Kincaids Jacke gelegt hatte. »Wie funktioniert …? Ich meine, Sie spülen es doch nicht einfach in den …«
Annie Lebow rettete ihn aus seiner Verlegenheit, als sei es ganz normal, im Smalltalk mit Fremden das Thema Fäkalienentsorgung abzuhandeln. »Das Boot hat einen Auffangtank. In den meisten Bootshäfen gibt es Pumpstationen, wo man seinen Tank ausleeren kann. Ziemlich unangenehmer Job, aber das gehört nun mal dazu.« Sie stellte die Becher auf den Esstisch, dazu eine Zuckerdose und ein Milchkännchen aus Steingut. Dann nahm sie eine Karte aus dem Bücherregal hinter sich.
Wie das Gogarty-Buch wies auch die Karte deutliche Gebrauchsspuren auf: Die Ränder waren zerfleddert, die Falze ausgeleiert. Annie bedeutete ihnen, an einer Seite des Tisches Platz zu nehmen, setzte sich aber nicht zu ihnen, sondern beugte sich über den Tisch, um die Karte auszubreiten und so zu drehen, dass Kincaid und Kit sie lesen konnten. Sie sahen ein Netz aus breiten, verschiedenfarbigen Linien, das sich über ganz Mittelengland zog. Kincaid fand gleich den burgunderfarbenen Strang, der den Shropshire Union Canal darstellte.
Annie folgte seinem Blick und legte den Finger auf den zentralen Abschnitt des »Shroppie«. Von dort zog sie eine Linie nach Norden über Manchester und Leeds, dann wieder nach Süden, entlang der Flüsse Trent und Mersey nach Birmingham und weiter bis London. »Diese Strecke habe ich in den letzten Jahren einige Male zurückgelegt«, sagte sie. »Und den Llangollen bin ich natürlich auch gefahren, nach Wales hinein. Aber irgendwie scheine ich immer wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Ist wohl eine Art Instinkt, wie bei einer Brieftaube.«
»Sie kommen ursprünglich aus dieser Gegend?« Kincaid hatte sich Milch in den Tee gegossen und vorsichtig daran genippt, und allmählich begann die willkommene Wärme ihn von innen her aufzutauen. »Ich dachte mir schon, dass ich da einen leichten Cheshire-Akzent heraushöre.« Als er Annie Lebow im warmen Licht der Kabine betrachtete, stellte er fest, dass sie jünger war, als er sie anfangs geschätzt hatte – vielleicht gerade mal Anfang fünfzig. Gewiss zu jung, um schon in Rente zu sein. Er fragte sich, wie sie sich das Leben, das sie führte, eigentlich leisten konnte – ganz zu schweigen von einem Boot dieser Klasse.
»South Cheshire, in der Nähe von Malpas.« Sie beantwortete seine Frage prompt, sprach dann aber rasch weiter, als ob sie das Thema nicht weiter vertiefen wollte. Während sie mit einem gepflegten Fingernagel auf die Karte tippte, fuhr sie fort: »Es gibt inzwischen so viele Meilen schiffbarer Wasserwege, viel mehr, als man sich vor dreißig oder vierzig Jahren hätte vorstellen können. Damals waren die Kanäle wirklich in einem schlimmen Zustand. Heute sind natürlich in erster Linie Hobbyschiffer unterwegs. Die traditionelle Güterschifffahrt gehört der Vergangenheit an.«
»Ist das denn so schlimm?«, fragte Kincaid, der den bedauernden Ton aus ihren Worten herausgehört hatte. »Es war doch sicher ein entbehrungsreiches Leben, und die Schiffer waren nicht nur arm, sondern auch ungebildet, zum Teil Analphabeten.«
»Ein entbehrungsreiches Leben, aber trotzdem ein gutes Leben«, erwiderte Annie mit plötzlicher Heftigkeit. »Sie hatten ihre Freiheit, und sie hatten den Kanal. Die allerwenigsten hätten das freiwillig aufgegeben.« Dann schüttelte sie den Kopf und lachte, als ob sie ihren Gefühlsausbruch schon wieder bereute. »Aber Sie haben recht. Und aus meinem Mund muss das auch seltsam klingen, wenn man sieht, wie ich hier lebe.« Sie machte eine Handbewegung, die das ganze Boot mit seiner modernen Einrichtung einschloss. »Man muss sich einmal vorstellen, dass die Wohnfläche für eine ganze Familie gerade mal vier bis fünf Quadratmeter betrug – ein gutes Stück kleiner als mein Salon. Der ganze Rest war für die Fracht reserviert. Und dann stellen Sie sich vor, dass es keinen Strom gab, kein heißes Wasser bis auf das, was man auf dem Herd kochen konnte, keine sanitären Einrichtungen« – hier schenkte sie Kit ein kleines Lächeln – »und keine Kühlschränke; und die Frauen mussten sich nicht nur um die Kinder kümmern, sondern auch ihren Männern an den Schleusen und beim Verladen der Fracht helfen.«
»Kein Bad? Keine Schule? Klingt doch gar nicht so übel«, witzelte Kit.
»Man kann sich sicher an alles gewöhnen. Die Idle Women haben es jedenfalls gekonnt, und die meisten von ihnen kamen aus gutbürgerlichen Familien.«
»›Idle Women‹?«
»Während des Krieges verpflichtete die Regierung Frauen zur Arbeit auf den Kanalbooten. Sie waren natürlich alles andere als träge oder faul – der Spitzname kam von dem Kürzel I. W. auf dem Abzeichen, das sie zum Abschluss ihrer Ausbildung bekamen. Es stand für Inland Waterways. Anfangs wurden sie überall bestaunt, aber es dauerte nicht lange, bis sie sich den Respekt der traditionellen Schiffer erworben hatten. Für viele von ihnen war es eine einmalige Erfahrung.« Wieder hörte er einen Hauch von Nostalgie aus ihrer Rede heraus, doch als sie fortfuhr, wandte sie sich erneut mit einem warmen Lächeln an Kit. »Eine der besten Ausbilderinnen hieß Kit, genau wie du. Kit Gayford. Du solltest mal etwas über sie lesen.«
»Bleiben Sie länger hier?«, fragte Kincaid, und er sah ihr kurzes Zögern, bevor sie antwortete.
»Ein paar Tage, denke ich. Ich habe keinen festen Zeitplan. Das ist einer der Vorteile des Kanallebens. Und Sie?«
»Nur bis Neujahr. Mein Job bietet keine solchen Vorteile.«
»Was machen Sie denn?«
»Ich bin Beamter im Öffentlichen Dienst«, antwortete Kincaid rasch und bemerkte Kits überraschten Blick. »Ziemlich langweilig eigentlich.«
Er versuchte herauszufinden, was es genau war, das ihn veranlasst hatte, mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten. Es war nicht etwa so, als ob er Annie Lebow irgendwelcher krimineller Machenschaften verdächtigte – was das betraf, hatte er ein sehr feines Gespür -, doch er nahm immer noch eine gewisse Scheu bei ihr wahr, eine ängstliche Wachsamkeit, und er wollte die fragile Verbindung, die sie zu ihr aufgebaut hatten, nicht gef ährden.
Aber selbst seine unverfängliche Antwort schien sie zu erschrecken. Sie starrte ihn einen Moment lang an, und die Pupillen in ihren grünen Augen weiteten sich. Dann trat sie einen Schritt zurück und begann die Karte zusammenzufalten, ohne Kincaid und Kit noch einmal anzusehen. Kincaid hatte das deutliche Gefühl, dass um sie herum Schutzgitter herunterrasselten und Alarmglocken zu läuten begannen, und die freundschaftliche Stimmung, die noch vor wenigen Augenblicken geherrscht hatte, verflog wie Rauch im Wind.
Nachdem Annie die Karte an ihren Platz im Regal zurückgesteckt hatte, nahm sie ihren Tee, den sie kaum angerührt hatte, und stellte den Becher ins Spülbecken in der Kombüse. Die Botschaft hätte nicht klarer sein können.
»Äh, ich denke, wir müssen dann mal los«, sagte Kincaid in das ungemütliche Schweigen hinein. Als er aufstand, fiel sein Blick auf das Fenster, und es lieferte ihm einen akzeptablen Vorwand. »Die Sonne geht bald unter. Wenn wir nicht aufpassen, müssen wir im Dunkeln nach Hause tappen. Danke für den Tee und Ihre Gastfreundschaft.«
Kit schien enttäuscht, stellte aber dennoch klaglos seinen Tee in der Kombüse ab.
»Ich hasse diese Winternachmittage, sie sind so verdammt kurz«, murmelte Annie, fast so, als spreche sie mit sich selbst. Sie stand an der Spüle und ließ Wasser über die Becher laufen, während Kincaid und Kit ihre Jacken anzogen, doch nachdem sie sich fertig eingepackt hatten, trocknete sie sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und begleitete sie aufs Vorderdeck.
Die blassblaue Himmelskuppel hatte einen rosigen Schimmer angenommen, und die leichte Brise hatte sich gelegt. In der vollkommen reglosen Luft schien das Spiegelbild des Boots im Wasser des Kanals zum Greifen nah und zugleich verlockend fern. Kincaid hatte sich gerade umgedreht, um ihrer Gastgeberin noch einmal zu danken, als Kit ihm zuvorkam.
»Kann ich noch sehen, wo man das Boot steuert, bevor wir gehen?«
»Kit, ich glaube nicht …«
»Nein, es ist schon in Ordnung«, sagte Annie, deren Stimmung wieder umzuschlagen schien. »Du kannst außen herumgehen. Das nennt man das Dollbord – aber pass auf, dass du nicht ausrutschst. Der Kanal ist nicht besonders tief, aber das Wasser ist sehr kalt. Da bist du schneller erfroren, als du denkst.«
»Ich fall schon nicht rein.« Kit grinste Annie und Kincaid zu und wandte sich ab, um mit seinen Turnschuhen leichtfüßig und sicheren Schritts über den schmalen Grat des Dollbords zum Heck zu gehen. Dabei hielt er einen Arm ausgestreckt und fuhr mit den Fingerspitzen an der Kante des Bootsdachs entlang.
Kincaid blieb fast die Luft weg, doch da hörte er Annie an seiner Seite leise kichern. »Er ist ein Naturtalent. Und es hilft natürlich, wenn man jung ist.«
Als Kit das Heck erreicht hatte und ins Hinterdeck sprang, sagte Kincaid: »Trotzdem, es kann immer mal was passieren. Meine Schwester hat mir erzählt, dass irgendwo in diesem Abschnitt des Kanals vor kurzem ein Junge ertrunken sei. Er muss in Kits Alter gewesen sein.«
»Ist das krumme Ding hier das Steuer?«, rief Kit, die Hand schon auf dem schwanenhalsförmigen Holz.
»Ja, aber wir sagen Ruderpinne dazu«, antwortete Annie, während Kit schon munter im Heck herumstöberte und die Leinen und Fender begutachtete.
Und dann sagte sie leise: »Ich habe ihn möglicherweise gesehen, diesen Jungen, der ertrunken ist. Ich hatte nicht weit von hier angelegt, in der Nähe des Hurleston-Reservoirs. Es wurde gerade dunkel, da kam ein Junge über den Leinpfad auf mich zugelaufen. Seine Kleider waren nass. Er hätte mich beinahe umgerannt, und er sah irgendwie … wild aus. Gehetzt. Aber ich hätte nie gedacht … Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich um irgendetwas Ernsteres als einen Streich unter Jugendlichen handeln könnte. Ich bin noch an diesem Abend bis Barbridge weitergefahren und am nächsten Morgen früh aufgebrochen, um den Llangollen hinunterzuschippern, und so habe ich erst einige Wochen später gehört, was passiert ist. Wenn ich das gewusst hätte …« Sie schüttelte sich und verschränkte die Arme vor der Brust, und nun merkte auch Kincaid, dass die Temperatur mit der untergehenden Sonne spürbar zu sinken begann. Er konnte die Feuchtigkeit geradezu riechen, die in Schwaden vom Wasser aufstieg.
»Sie hätten unmöglich wissen können, was passieren würde«, versicherte er der Frau. Er schüttelte den Kopf. »Schlimme Sache, wirklich. Meine Nichte hat den Jungen wohl gekannt. Er war auf ihrer Schule.«
»Ist sicher nicht leicht für sie«, meinte Annie. »Hat sie …«
»Das ist genial!«, rief Kit, der gerade über die andere Seite zurückkam, und hinderte Annie so daran, ihre Frage zu stellen. Er bewegte sich jetzt beinahe im Laufschritt, so sicher und elegant wie ein Seiltänzer.
»Ich meine Ihr Boot – das ist echt genial«, wiederholte er, als er die beiden erreicht hatte. »Ist es leicht zu steuern? Und wie schaffen Sie das mit den Schleusen, so ganz ohne Hilfe?«
Annie antwortete mit nachsichtiger Geduld. »Die meisten Leute neigen dazu, zu stark zu korrigieren, wenn sie das erste Mal steuern, aber nach und nach bekommt man ein Gefühl dafür. Und was die Schleusen betrifft – wenn man allein ist, dauert’s ein bisschen länger, aber auch daran gewöhnt man sich. Und oft helfen einem andere Bootsleute oder Passanten.«
Dann schien sie kurz zu zögern, wie sie es getan hatte, bevor sie sie an Bord gebeten hatte, doch als sie in Kits vor Begeisterung glühendes Gesicht blickte, zuckte sie kaum merklich mit den Achseln und fuhr rasch fort: »Also, du kannst gerne noch mal vorbeischauen, wenn du magst. Wir könnten bis Hurleston Junction fahren, durch die Schleusen. Und du könntest sogar ein bisschen steuern.« Mit einem Blick auf Kincaid fügte sie hinzu: »Mit deinem Papa natürlich – und mit deiner Mutter, wenn sie Lust hat.«
Ohne sich anmerken zu lassen, dass er die Erwähnung seiner Mutter registriert hatte, sah Kit fragend zu seinem Vater auf. Sein Blick war so erwartungsvoll. »Geht das?«, fragte er. »Können wir noch mal herkommen? Wie wär’s mit morgen?«
Kincaid erinnerte sich, dass seine Mutter ihm gesagt hatte, sie hätten für den zweiten Weihnachtstag für die ganze Familie einen Tisch im Barbridge Inn reserviert, einem Pub am Kanal ganz in der Nähe von Annies Liegeplatz. »Ich denke, das könnten wir deichseln«, sagte er. Um Kit nicht zu enttäuschen, wäre er auch bereit gewesen, die Pläne für den Tag zu ändern. Dennoch fand er es ein wenig bedenklich, dass Kit sich in Gesellschaft von Erwachsenen wohler zu fühlen schien als zum Beispiel mit seiner Cousine und seinem Cousin. »Das ist sehr nett von Ihnen«, setzte er an Annie gewandt hinzu. »Wenn Sie ganz sicher sind …«
»Ich tu’s ja nicht aus Freundlichkeit, sondern aus purem Egoismus«, meinte Annie mit einem Grinsen in Kits Richtung. »Ich bekomme nicht oft eine Gelegenheit, zukünftige Bootsleute zu indoktrinieren. Aber Sie sollten sich in Acht nehmen – ehe Sie sich’s versehen, müssen Sie für Ihre ganze Familie Ferien auf einem Kanalboot buchen.«
»Ferien? Echt?«, rief Kit. »Wo kann man …?«
»Genug jetzt.« Kincaid schob seinen Sohn leicht in Richtung Ufer. »Wir müssen jetzt wirklich los. Gemma und deine Oma schicken sicher schon die Hunde nach uns aus.«
Er dachte nicht nur an das schwindende Tageslicht – der Gedanke an die Pläne für den nächsten Tag hatte ihm auch seine Schwester wieder in Erinnerung gerufen. Die Sorgen, die in seinem Unterbewusstsein geschwelt hatten, kamen jetzt wieder hoch und plagten ihn.
Hatte er Juliets Verschwinden aus dem Haus ihrer Schwiegereltern zu leichtfertig abgetan? Er hatte Gemma gebeten, ihn anzurufen, sollten sie von Jules hören, doch er wusste, dass das Handynetz so weit weg von der Stadt lückenhaft war, und es war möglich, dass ihm ein Anruf entgangen war. Er konnte es plötzlich kaum erwarten, zum Haus zurückzukehren.
Kit sah zu ihm auf, und da er die Ungeduld seines Vaters zu spüren schien, dankte er Annie Lebow mit vorbildlicher Höflichkeit.
»Also dann, bis morgen«, rief sie freundlich, als die beiden auf den Leinpfad sprangen.
Doch als sie schon losgegangen waren, blickte Kincaid sich aus einem plötzlichen Impuls heraus noch einmal um. Annie stand am Bug der Horizon und sah ihnen nach. Dabei hielt sie sich so still, dass man hätte meinen können, sie sei in einem Eisblock eingefroren. In ihrer reglosen Haltung lag eine geradezu unheimliche Intensität.
Dann aber löste sie sich aus ihrer Starre und hob die Hand zu einem Abschiedsgruß. Er winkte zurück und schalt sich selbst für seine überbordende Fantasie. Doch als er weiterging, sah er immer noch ihr Bild vor sich, als hätte es sich in seine Netzhaut eingebrannt.
Annie Lebow strahlte eine Menge Selbstvertrauen und Sicherheit aus, wenn sie sich an Bord ihres Boots bewegte, und die Begeisterung, mit der sie über das Leben auf dem Kanal sprach, war unüberhörbar. All das vermittelte das Bild einer Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hatte. Aber darunter nahm er eine tiefe Melancholie wahr, die dunklen Schatten einer unerfüllten Sehnsucht. Was war es, das ihr verweigert worden war – oder was hatte sie sich selbst verweigert?
 
Die Schlösser von Piers’ Schubladen zu knacken war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Seine Unterlagen zu sichten erwies sich als umso schwieriger. Nicht etwa, weil keine Ordnung geherrscht hätte – im Gegenteil, alles war fein säuberlich sortiert und abgeheftet und scheinbar vollkommen korrekt.
Nachdem sie sich einen schnellen Überblick verschafft hatte, nahm sie sich die erste Kundenakte vor. Sorgfältig ging sie sämtliche Belege über Aktienkäufe und Investmentfonds einschließlich der dazugehörigen Korrespondenz durch, ehe sie sich dem nächsten dicken Ordner zuwandte.
Bald war sie so in ihre Nachforschungen versunken, dass sie nicht merkte, wie die Zeit verging, und erst als sie einmal abwesend zum Fenster schaute, fiel ihr auf, dass das Licht zu schwinden begann. Sie atmete einmal tief durch, um die aufsteigende Panik zu unterdrücken, und griff nach der nächsten Akte. Sie konnte jetzt nicht einfach aufhören – noch nicht. Unruhe erfasste sie. Sie würde vielleicht nie wieder eine solche Chance bekommen.
Auf der Straße schlug eine Autotür zu, und Juliet zuckte derart zusammen, dass die Papiere quer über den Schreibtisch flatterten. Juliet lauschte, aber es waren keine Schritte zu hören, die sich dem Büro näherten. Sie schloss die Augen und wartete einen Moment, bis ihr rasender Puls sich beruhigt hatte. Noch ein paar Minuten, dann würde sie von hier verschwinden.
Und dann, als ihr Blick über die verstreuten Blätter auf der grünen Schreibunterlage glitt, sprang ihr plötzlich etwas ins Auge. Der Name des Emittenten kam ihr bekannt vor – es war ein deutsches Hightechunternehmen, das Caspar seinen Kunden empfahl -, aber irgendetwas schien nicht ganz zu stimmen. Sie überprüfte noch einmal den entsprechenden Zahlungsbeleg und runzelte die Stirn. Rasch schaltete sie Piers’ Taschenrechner ein, gab die Summe in Euro ein und rechnete sie dann in Pfund Sterling um. »Ich werd verrückt«, flüsterte sie. Die an den Kunden gezahlte Summe war um gut zehn Prozent zu niedrig.
Sie fischte einen anderen Beleg aus dem losen Stapel und überprüfte auch hier die Zahlen – mit dem gleichen Ergebnis. Sorgfältig, die Lippen vor Konzentration fest zusammengepresst, raffte sie die losen Blätter zusammen und legte den Kundenordner in die Schublade zurück. Dann griff sie wahllos einen anderen heraus, mit ähnlichen Investitionen, und stellte dieselben Berechnungen an.
»Du verdammtes Schwein«, sagte sie, und diesmal gab sie sich keine Mühe, leise zu sein. Es war so genial einfach. Die meisten von Piers’ Kunden waren sehr wohlhabend und hatten ihr Geld in eine ganze Reihe von Aktien und Fonds investiert. Würde irgendeiner von ihnen sich die Mühe machen, bei jeder einzelnen Überweisung den Wechselkurs zu überprüfen? Piers hatte satte zehn Prozent von den Gewinnen seiner Kunden eingestrichen, und sie hatte gerade den Beweis gefunden.