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Als Babcock über die vereisten Reifenspuren auf
dem Parkplatz des Krankenhauses stapfte, sah er Dr. Elsworthys
grünen Morris Minor auf einem der für Ärzte reservierten Plätze
stehen. Auf dem Rücksitz erhob sich der Kopf des Hundes wie ein
urzeitliches Monster aus den Tiefen von Loch Ness. Die Bestie
fixierte ihn mit einem starren Blick ihrer unergründlichen Augen
und wandte sich dann ab, als hätte sie ihn taxiert und für zu
leicht befunden, um schließlich wieder abzutauchen. Kein Wunder,
dass die Rechtsmedizinerin solchen Luxus wie ein Auto mit moderner
Alarmanlage nicht nötig hatte, dachte Babcock, während er Hund und
Wagen in großem Bogen umkurvte. Eher würde sie von einem
verhinderten Autodieb verklagt werden, weil er einen Herzinfarkt
erlitten hatte, als dass sie um ihr Auto fürchten müsste.
Auch der Anblick seines Sergeants Kevin Rasansky,
der am Eingang zur Leichenhalle an der Wand lehnte, war kaum dazu
angetan, ihn aufzuheitern.
»Morgen, Chef. Frohe Weihnachten!«, rief Rasansky,
dem offenbar weder die Kälte noch der Feiertagseinsatz ernsthaft
die gute Laune verderben konnten.
Babcock verzog nur das Gesicht. »Seien Sie doch
nicht so ätzend gut drauf. Was machen Sie überhaupt hier? Sie
wollten doch den Weihnachtsmorgen unbedingt mit Ihrer Familie
verbringen.«
»Ich hab mir gedacht, Sie könnten vielleicht ein
bisschen Unterstützung gebrauchen. Außerdem hab ich leider
vergessen,
Batterien für das Spielzeug zu besorgen. Da waren meine Frau und
die Kinder nicht gerade begeistert. Und dann haben wir auch noch
die ganzen Feiertage über meine Schwiegermutter im Haus. Wer hätte
gedacht, dass die Leichenhalle mal das kleinere Übel sein würde?«,
fügte er hinzu, während er Babcock die Tür aufhielt.
Babcock hätte ihm durchaus beipflichten können,
wenn er an seine arktische Junggesellenhöhle dachte, aber das würde
er seinem Sergeant gegenüber nicht eingestehen.
Kevin Rasansky war ein kräftiger junger Mann mit
rundem Bauerngesicht, dem seine Kleider nie so recht zu passen
schienen. Hinter seinem wenig beeindruckenden Äußeren verbargen
sich jedoch ein scharfer Verstand und ein geradezu brutaler
Ehrgeiz. Babcock fand ihn nützlich, traute ihm aber nie so ganz
über den Weg.
Aus Erfahrung wusste er, dass Rasansky es auf
raffinierte Weise immer wieder verstand, bei den Polizei-Oberen die
Meriten für den erfolgreichen Abschluss einer Ermittlung
einzuheimsen. Da waren zum Beispiel die mit reichlich Selbstironie
gewürzten Geschichten, die er am Kaffeeautomaten oder in der
Kantine zum Besten gab und in denen er stets ganz beiläufig
einfließen ließ, wie seine eigenen bescheidenen Ideen und
Vorschläge seinen Vorgesetzten in die Lage versetzt hatten, den
Täter dingfest zu machen. Besagter Vorgesetzter konnte dann
schwerlich Rasanskys Version anfechten, ohne kleinlich zu klingen,
doch Babcock revanchierte sich, indem er darauf achtete, seinen
Sergeant streng in die Schranken zu weisen. Rasansky war sich
normalerweise für keinen Job zu schade, aber heute Morgen wäre
Babcock ausnahmsweise bereit gewesen, dem Sergeant eine Pause zu
gönnen.
»Waren Sie schon am Leichenfundort?«, fragte er,
als sie darauf warteten, dass jemand den Summer für die innere Tür
drückte.
»Gleich als Erstes heute früh.«
»Ist die Presse schon aufgetaucht?«
»Eine freie Reporterin, die für die
Chronicle schreibt, Megan Tully. Aber bis die Zeitung
erscheint, ist die Meldung schon alt, und ich glaube kaum, dass sie
eine der überregionalen Zeitungen dafür interessieren kann, außer
wenn an dem Tag sonst rein gar nichts los ist.« Mit
Chronicle meinte Rasansky das lokale Wochenblatt.
Der Umgang mit den Medien war immer eine
zweischneidige Angelegenheit – die Verbreitung gewisser
Informationen konnte die Suche nach dem Täter voranbringen, aber
wenn Details der Ermittlungen zur Unzeit veröffentlicht wurden,
konnten die Folgen katastrophal sein. Deshalb war Babcock froh, ein
paar Tage Gnadenfrist zu haben, ehe er entscheiden musste, was an
die Öffentlichkeit gelangen durfte. Und falls es ihnen bis zum
Erscheinen der Zeitung nicht gelungen sein sollte, das Opfer zu
identifizieren, könnte er die Gelegenheit zu einem Aufruf an die
Bevölkerung nutzen.
»Wie sieht’s mit der Suche nach den Vorbesitzern
des Grundstücks aus?«
»Schlecht. Die Jungs sind heute früh wieder
ausgeschwärmt, um die Anwohner zu befragen. Anscheinend haben in
letzter Zeit einige der umliegenden Anwesen den Besitzer
gewechselt, und der eine Nachbar, von dem es hieß, er könnte eine
Adresse haben, ist über die Feiertage verreist.«
Babcock nahm die Neuigkeiten schweigend zur
Kenntnis. Das bedeutete, dass sie ihre Nachforschungen ausweiten
mussten, und das wiederum verlangte mehr Personal. »Was ist mit der
Soko-Zentrale?«, fragte er. Am späten Abend des Vortags hatte
Babcock im Gebäude der Polizeidirektion in Crewe eine provisorische
Einsatzzentrale eingerichtet. »Können wir ein paar Leutchen
entbehren, um die Provinz abzuklappern?«
»Ein paar haben wir schon noch auftreiben können,
aber die
sprühen nicht gerade vor Tatendrang. Anscheinend sind sie der
Meinung, dass die Schurken in einen Weihnachtsfrieden einwilligen
sollten, wie damals anno’14.«
Babcock sah seinen Sergeant von der Seite an,
verblüfft über die Anspielung. Im Ersten Weltkrieg hatten die
britischen und deutschen Soldaten während der ersten Schlacht von
Ypern an Weihnachten ihre Schützengräben verlassen, um
Weihnachtsgrüße und Geschenke auszutauschen. Rasansky sah nicht aus
wie jemand, der sich für Geschichte interessierte.
»Na ja«, meinte er stattdessen nur, »aber dann
müssen wir uns immer noch mit den Weihnachts-Selbstmorden
rumschlagen.« Mit dieser aufmunternden Bemerkung betrat er die
Leichenhalle, deren Tür sich just in diesem Moment vor ihnen
aufgetan hatte.
Dr. Elsworthys Assistentin, eine kräftige junge
Frau mit roten Haaren, führte sie mit den Worten »Sie fängt gerade
an« in den Sektionssaal.
Die Rechtsmedizinerin begrüßte sie mit einem
Nicken. In OP-Kittel und Schürze, das flatternde graue Haar mit
einer Haube gebändigt, sah sie um Jahre jünger aus, und Babcock
fielen zum ersten Mal ihre markanten und ebenmäßigen Gesichtszüge
auf. Aber wenn Althea Elsworthy an diesem Morgen ein wenig
menschlicher aussah, galt dies keineswegs für den kleinen Körper
vor ihr auf dem Untersuchungstisch. Von Decke und Kleidung befreit,
erinnerte die Kinderleiche eher an eine zerlumpte Puppe aus Leder
und Haaren oder die Überreste eines kleinen Tiers, das zu lange am
Straßenrand in der Sonne gelegen hatte. Ihm fiel auf, dass der
übliche Gestank fast ganz fehlte – nur einen leichten Modergeruch
konnte er wahrnehmen. Das war immerhin eine Erleichterung. Bei
dieser Obduktion würde er ausnahmsweise einmal nicht das Kunststück
vollbringen müssen, gleichzeitig durch den Mund zu atmen und zu
sprechen.
Als Rasansky den Kopf schüttelte und angewidert die
Zähne bleckte, fiel Babcock wieder ein, dass der Sergeant ein
kleines Kind zu Hause hatte. Falls er je versucht war, andere Leute
um ihren Nachwuchs zu beneiden, war eine Kinderleiche im
Sektionssaal das beste Heilmittel.
Er wandte sich den Röntgenaufnahmen am Leuchtkasten
zu, wo das weiße Geflecht der Knochen wie Frost auf schwarzem Samt
schimmerte.
Elsworthy folgte seinem Blick. »Skelett ist
intakt«, sagte sie in ihrem typischen Telegrammstil. »Keine
Anzeichen von stumpfen Traumata, keine prämortalen
Frakturen.«
»Was bleibt dann noch?«, fragte Babcock.
»Ersticken. Ertrinken. Vergiftung. Natürliche
Todesursachen.« Beim letzten Punkt der Aufzählung bemerkte er ein
amüsiertes Blitzen in ihren Augen.
»Gut.« Babcock reagierte mit einem schiefen Lächeln
auf ihren Sarkasmus. »Was ist mit Stich- oder Schnittwunden?
Schussverletzungen?«
»Möglich, aber in dem erhaltenen Gewebe habe ich
keine Verletzungen feststellen können, auch keine Absplitterungen
an den Knochen. Und ich habe es auch noch so gut wie nie erlebt,
dass ein so kleines Kind erschossen oder erstochen wurde. Es könnte
natürlich geschüttelt worden sein, aber eventuelle Schwellungen
oder Blutergüsse im Gehirn sind verständlicherweise längst nicht
mehr nachweisbar.«
»Sie sagten ›es‹ – können Sie feststellen, ob es
sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt?«
»Nicht mit letzter Sicherheit. Im Beckenbereich ist
kaum organisches Material erhalten, ganz bestimmt nicht genug, um
sagen zu können, ob das Kind einen Penis hatte. Und in diesem Alter
ist es sehr schwierig, die Skelettstrukturen zu unterscheiden. Aber
nach der Kleidung würde ich vermuten, dass es sich um einen
weiblichen Säugling handelt. Der DNA-Test
dürfte das klären, aber da werden Sie sich noch gedulden müssen.«
Elsworthy wusste, dass Geduld nicht gerade seine Stärke war – das
konnte er an ihrem Blick ablesen.
»Na schön. Also ein Mädchen. Alter?«
»Nach den Körpermaßen zu urteilen zwischen sechs
Monaten und einem Jahr, vielleicht auch achtzehn Monate. Je nach
genetischer Veranlagung, Gesundheitszustand und Umwelteinflüssen
können die Unterschiede in der Entwicklung enorm sein. Wenn das
Kind zum Beispiel unterernährt war, könnte es durchaus weit unter
den Normalwerten für Größe und Gewicht liegen.«
Während sie sprach, wandte sie sich wieder dem
Leichnam zu und begann, ihn mit einer Pinzette zu untersuchen. Für
eine so resolute Frau ging sie mit verblüffender Behutsamkeit
vor.
»Keine Anzeichen von Insektenfraß«, fuhr sie fort.
»Wir können also wohl davon ausgehen, dass das Kind während einer
Periode niedriger Temperaturen verstorben ist und bald nach dem Tod
beigesetzt wurde.«
Rasansky meldete sich erstmals zu Wort. »Denken
Sie, dass sie misshandelt wurde?«
»Wie ich eben schon sagte, Sergeant, es gibt keine
spezifischen Hinweise«, entgegnete Elsworthy gereizt. »Bei Babys,
die misshandelt wurden, findet man in der Regel verheilte
Frakturen, aber deren Fehlen bedeutet noch nicht, dass man
Misshandlungen ausschließen könnte. Und Leute, die ihre Kinder gut
behandeln, mauern sie normalerweise auch nicht in alten Viehställen
ein.«
Ihre Bemerkung veranlasste Babcock dazu, die Frage
zu stellen, die er bisher zurückgehalten hatte: »Was glauben Sie,
wie lange sie schon dort gelegen hat?«
Elsworthy runzelte die Stirn und setzte ihre
Untersuchung einige Sekunden lang schweigend fort, ehe sie
antwortete.
»Wahrscheinlich länger als ein Jahr. Das ist natürlich nur eine
Vermutung.«
»Länger als ein Jahr? Also vielleicht fünf oder
zehn oder fünfzehn oder zwanzig? Mehr können Sie mir nicht
sagen?«
Diesmal war Babcock der Adressat des finsteren
Blicks der Rechtsmedizinerin. »Haben Sie Wunder erwartet? Der Grad
der Mumifikation dürfte vom Kalkanteil im Mörtel und im Stein
beeinflusst worden sein. Durch die Laborergebnisse können wir die
Zeitspanne vielleicht ein wenig einengen, aber vorläufig kommen Sie
mit der Kleidung wahrscheinlich weiter.
Sowohl der Strampelanzug als auch die Decke
scheinen synthetische Fasern zu enthalten, und die Druckknöpfe des
Strampelanzugs sind nur teilweise verrostet. Und« – sie hielt inne,
scheinbar um die Brusthöhle des Kindes genauer in Augenschein zu
nehmen, doch Babcock hatte inzwischen den Verdacht, dass es ihr
einfach Spaß machte, ihn zu ärgern – »das Beste ist, dass an dem
Strampelanzug noch ein Etikett hängt.«
»Wa…«
Sie deutete mit einem Nicken auf ihre Assistentin.
»Ich habe die Angaben zur Marke aufgeschrieben. Der Hersteller
sollte Ihnen zumindest einen Produktionszeitraum nennen
können.«
»Na, wunderbar«, entgegnete Babcock missmutig. Zu
wissen, in welchem Zeitraum die Decke oder der Strampelanzug
hergestellt worden waren, würde ihnen den frühestmöglichen
Zeitpunkt liefern, mehr aber auch nicht. Die Sachen hatten
möglicherweise jahrelang in irgendeinem Schrank gelegen, ehe sie
bei der unkonventionellen Beisetzung Verwendung gefunden hatten.
»Bei der Herstellerfirma werden wir frühestens am 27. jemanden
erreichen.« Es würde Rasanskys Job sein, diese Informationen
einzuholen.
Die Pathologin ignorierte sein Gegrummel und sagte
nachdenklich:
»Wie Sie sehen, war das Kind zwar mit einem Strampelanzug
bekleidet und in eine Decke gehüllt, trug aber keine Windel. Das
ist ziemlich seltsam, finden Sie nicht? Es deutet darauf hin, dass
das Kind erst nach seinem Tod angekleidet – oder wieder angekleidet
– wurde. Das wiederum mag ein Hinweis auf die Fürsorge der Person
sein, die es beigesetzt hat, könnte aber andererseits auch Teil
eines Rituals sein, das der Täter zur Steigerung seiner
Befriedigung braucht.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass wir es
mit einem Serien-Babymörder zu tun haben?«
Elsworthy zuckte mit den Achseln. »Angesichts des
Fehlens schwerer Verletzungen eher unwahrscheinlich, aber man
sollte immer für alle Möglichkeiten offen sein, Chief Inspector.
Ich nehme an, Ihre Suche nach den früheren Grundstückseigentümern
war bisher erfolglos?«, fragte sie mit einer leisen Andeutung von
Mitgefühl. »Es ist doch zu vermuten, dass die Mörtelarbeiten von
einem der Eigentümer ausgeführt wurden, oder wenigstens mit dessen
Wissen.«
Babcock schüttelte den Kopf. »Die Smiths, bei denen
es sich angeblich um ein höchst ehrbares älteres Ehepaar handelt,
sind spurlos verschwunden.«
Als Annie das Boot aus dem Hafenbecken von
Nantwich Richtung Norden steuerte, hatte sie das Gefühl, eine Oase
der Ruhe zu verlassen. Nicht, dass auf dem Kanal sehr viel mehr los
gewesen wäre, doch während ihres kurzen Aufenthalts im Canal Centre
war sie mit sich und der Welt im Einklang gewesen wie schon lange
nicht mehr. Sie hatte Roger angerufen und ihm auf den
Anrufbeantworter gesprochen, dass sie sich gerne mit ihm zum
Weihnachtsessen treffen würde. Wie sie Roger kannte, hatte er wohl
gerade Jazz ausgeführt, den Schäferhund, den er sich gekauft hatte,
nachdem sie ausgezogen war – sein Trostpreis, wie er ihr erklärt
hatte. Sie nahm an, dass
der Hund sich als der unkompliziertere Hausgenosse erwiesen
hatte.
Und sie hatte sich entschlossen, den Besuch
tatsächlich zu machen, auch wenn es wahrscheinlich vergebliche
Liebesmüh wäre. Sie konnte nicht damit rechnen, das Boot der Wains
noch dort zu finden, wo sie es gestern gesehen hatte, oder dass
Rowan Wain überhaupt mit ihr reden würde, wenn sie es tatsächlich
fände, aber nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte, ergriff
eine merkwürdige Euphorie von ihr Besitz. Das Stottern des Motors
hatte von selbst wieder aufgehört – vielleicht ein Zeichen, dass
sie den richtigen Kurs eingeschlagen hatte.
In ihre dickste Jacke gehüllt, mit ihrem wärmsten
Schal um den Hals, stand sie an der Ruderpinne und lenkte das Boot
den Weg zurück, den sie erst am Tag zuvor gekommen war. Der Rauch
aus der Kabine wehte ihr ins Gesicht und brannte in ihren Augen,
doch sie liebte den Geruch – er war wie die Quintessenz von Wärme
und Behaglichkeit in der klaren, kalten Luft. Im Lauf der letzten
Jahre hatte sie gelernt, instinktiv zu steuern und durch die
leisesten Verlagerungen ihres Gewichts minimale Kurskorrekturen auf
das Ruder zu übertragen.
Sie musste lächeln, wenn sie an ihre ersten
unbeholfenen Fahrversuche mit dem Boot zurückdachte. Wie ein
Ping-Pong-Ball war sie von einer Ufermauer an die andere geworfen
worden. Am schlimmsten war es in den Tunnels gewesen, wo die
ungewohnte Dunkelheit die Perspektiven verzerrte, sodass sie
ständig überkorrigiert hatte und gegen die feuchten, glitschigen
Wände gekracht war.
Obwohl sie die Tunnels immer noch nicht mochte,
hatte sie gelernt, solche Situationen zu meistern, und inzwischen
war sie mit der Horizon zu einer Einheit verschmolzen. Das
Boot war wie eine Verlängerung ihres Körpers. Es hatte seine eigene
Persönlichkeit, seine Stimmungen, und Annie hatte gelernt,
sie zu erspüren. Heute war ein guter Tag, dachte sie; das Ruder
reagierte auf ihre Bewegungen wie ein lebendiges Wesen, und der
Motor schnurrte wie eine dicke, zufriedene Katze.
Alle ihre Sinne schienen geschärft. Vielleicht war
es nur die alle Geräusche dämpfende Schneedecke, die sie jeden Laut
bewusst wahrnehmen ließ, das gleißende Blau des Himmels, das jede
Szene vor ihren Augen in kristallklarer Schärfe hervortreten ließ.
Der Schnee verwandelte die Landschaft; er verhüllte die vertrauten
Konturen und das auch im Winter allgegenwärtige Grün der englischen
Wiesen und Felder. Und selbst das, was sie sehen konnte –
die Stoppeln auf den Äckern, die verdrehten Äste eines toten Baums,
das feine Gitterwerk der kahlen Sträucher, die den Leinpfad säumten
-, schien strahlender, intensiver als sonst.
Sie passierte Hurleston Junction und die reizvolle
Aussicht des Llangollen-Kanals, der sich hinunter nach Wales wand,
doch ausnahmsweise fand sie den Gedanken an Flucht weniger
verlockend als den Kurs, den sie eingeschlagen hatte. Als sie sich
Barbridge näherte, kamen die Boote in ihr Blickfeld, die entlang
des Leinpfads festgemacht hatten, und ihr Herz schlug schneller,
als sie das eine, das sie suchte, am Ende der Reihe
entdeckte.
Sie drosselte die Geschwindigkeit, ließ die
Horizon auf einen freien Liegeplatz driften und sprang ans
Ufer, um sie zu vertäuen. Nachdem sie die Bug- und die Heckleine an
den Pollern festgemacht hatte, klopfte sie sich den Schnee von den
Knien und studierte die Daphne.
Der Holzrumpf des Boots der Wains war
unverwechselbar, doch es kam Annie vor, als seien die bunten Farben
ein wenig verblasst, das Messing der Schornsteinbänder nicht mehr
ganz so glänzend, wie sie es in Erinnerung hatte. Gabriel hatte ihr
einmal erzählt, dass die Daphne eines des letzten Boote sei,
die in Nursers Werft in Braunston gebaut worden waren.
Damals, als Annie mit den Wains zu tun gehabt
hatte, hatte Rowan das Familieneinkommen aufgebessert, indem sie
Boote mit den traditionellen Diamantmustern und Rosenund
Burgenmotiven bemalt hatte, und die Daphne war eine
schwimmende Reklame für ihre Arbeit gewesen. Rowan hatte auch die
als Canalware bekannten Wasserkannen, Schüsseln und
Schöpflöffel mit ihren fröhlichen Rosenmotiven verziert.
Bei ihrem letzten Treffen hatte Rowan Annie einen
Schöpflöffel geschenkt, den sie eigens für sie bemalt hatte, und so
ihre Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht – etwas, wofür ihr Mann
schlicht zu wütend und zu stolz gewesen war.
Nicht, dass Annie Dank erwartet hätte. Sie hatte
doch nur getan, was sie konnte, um das Unrecht wiedergutzumachen,
das die Wains bereits erlitten hatten: den skrupellosen
Vertrauensbruch durch das System, das sie eigentlich beschützen
sollte.
Zuerst glaubte Annie, die Daphne sei
verlassen. Die Vorhänge waren geschlossen, und nichts rührte sich
auf dem Boot. Doch dann sah sie ein winziges Rauchfähnchen aus dem
Schornstein aufsteigen, und im nächsten Moment erschien Gabriel
Wain auf dem Hinterdeck.
Er setzte zu einem Nicken an, einem beiläufigen
Gruß unter Schiffern, und erstarrte dann. Seine Miene verschloss
sich, jeder Ausdruck wich aus seinen Zügen, bis nur der Argwohn in
seinen Augen verblieb. Sein dichtes dunkles Haar war jetzt mit Grau
gesprenkelt, wie Granit, doch sein Körper war immer noch kräftig.
Als Annie Gabriel Wain zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr
viel zu massig erschienen für jemanden, der auf einem so schmalen
Boot lebte und arbeitete, doch an Bord bewegte er sich so flink und
geschmeidig, dass man glauben konnte, er hätte nie einen Fuß an
Land gesetzt.
Jetzt stand er da, ein wenig breitbeinig, um das
leichte Schaukeln auszugleichen, das seine eigenen Schritte
ausgelöst
hatten, und beobachtete sie. Als er sprach, klang es wie eine
Kampfansage. »Mrs. Constantine. Sie nach so langer Zeit ein
Mal wieder zu sehen, könnte man noch als Zufall durchgehen
lassen. Aber zwei Mal in nur zwei Tagen? Was wollen Sie von
uns?«
Annie wischte sich einen letzten Rest Schnee von
der Hose und richtete sich zu voller Größe auf. »Ich heiße nicht
mehr Constantine, Gabriel. Ich heiße jetzt Lebow. Ich habe wieder
meinen Mädchennamen angenommen. Und ich bin auch nicht mehr beim
Jugendamt. Ich habe gekündigt, nicht lange, nachdem ich mit Ihnen
gearbeitet habe. Und habe das Boot gekauft«, fügte sie hinzu und
deutete auf die Horizon. Als er lediglich eine Augenbraue
hochzog, fuhr sie stockend fort: »Es war eine schöne Überraschung,
Sie gestern zu sehen. Die Kinder sehen gut aus. Das freut mich.
Aber Rowan – ich dachte mir, ob ich vielleicht mal mit Rowan
sprechen könnte. Gestern dachte ich … sie schien mir nicht …«
»Sie muss sich ausruhen. Sie braucht Ihre
Einmischung nicht.«
Annie trat einen Schritt näher ans Boot. »Hören
Sie, Gabriel, ich verstehe ja Ihre Gefühle. Aber wenn sie krank
ist, könnte ich vielleicht helfen. Ich …«
»Sie können überhaupt nicht wissen, was ich fühle«,
fiel er ihr ins Wort. Trotz all der aufgestauten Wut war seine
Stimme ruhig. »Und sie ist nicht krank. Sie ist nur … sie ist nur
müde, sonst nichts.« Da war sie wieder, die Angst, ein Abgrund, der
sich hinter seinen Augen auftat; aber diesmal dachte Annie, dass
sie nicht der Grund war.
»Sie wissen, dass ich Ihnen schon einmal geholfen
habe«, sagte sie etwas bestimmter. »Sie wissen, dass ich auf Ihrer
Seite war. Ich wäre vielleicht in der Lage …«
»Auf unserer Seite? Sie – mit Ihrem aufgedonnerten
Boot«, er warf einen verächtlichen Blick auf die Horizon und
spuckte
in den Kanal, »Sie haben doch keinen blassen Schimmer von unserem
Leben. Und jetzt lassen Sie uns in Frieden.«
»Sie können mich nicht einfach vom Leinpfad stoßen,
Gabriel.« Sie erkannte die Absurdität ihrer Position, kaum dass die
Worte ihr über die Lippen gekommen waren. Was wollte Sie tun? Das
Jugendamt anrufen?
»Nein.« Zum ersten Mal spielte ein Anflug von
bitterem Humor um seine Mundwinkel. »Aber ich kann einen guten
Liegeplatz aufgeben, wenn Sie nicht aufhören, uns auf den Wecker zu
fallen.«
Und sie könnte die Horizon losmachen und
ihnen folgen. Annie hatte das absurde Bild vor Augen, wie sie mit
drei Meilen in der Stunde den Kanal entlangtuckerte und der
Daphne nachsetzte, eine Zeitlupenversion der
Verfolgungsjagden in amerikanischen Filmen. Sie seufzte, und
während die Anspannung allmählich aus ihren Schultern wich, sagte
sie: »Gabriel, ich weiß, dass es falsch war, was mit Ihrer Familie
geschehen ist. Ich will nur … nun ja, ich will es nur irgendwie
wieder gutmachen.«
»Es gibt nichts, was Sie tun könnten.« In seiner
Miene lag eine so trostlose Endgültigkeit, dass sie sich seinen
Zorn zurückgewünscht hätte. »Und jetzt …«
Die Kabinentür hatte sich einen Spalt breit
geöffnet. Das kleine Mädchen schlüpfte heraus, und Gabriel drehte
sich überrascht um, als sie an seinem Hosenbein zupfte. Sie war
hellhäutiger, als Annie sie von gestern in Erinnerung hatte, und im
klaren Licht des Tages waren ihre Augen strahlend blau. »Papi«,
flüsterte sie. »Mami will die Frau sehen.«
Entgegen Gemmas Befürchtungen war es doch noch ein
nahezu perfektes Weihnachtsfest geworden. Sie hatte sich ein wenig
für ihre Erleichterung geschämt, als sie erfahren hatte, dass
Juliet und Caspar mit ihren Kindern bei Caspars Eltern essen
würden. Sie empfand tiefes Mitleid mit Juliet – wie hielt sie das
alles aus, nach Caspars unmöglichem Verhalten gestern Abend? -,
doch sie wollte auch nicht, dass der Ehekrach der beiden ihren
eigenen Kindern den Tag verdarb.
Kit und Toby hatten lange geschlafen. Hugh hatte
schon den Speck in die Pfanne gehauen, während Geordie, der
Cockerspaniel, und Jack, der Border Collie, in der Küche ein wildes
Gerangel veranstalteten, da kamen die beiden erst mit Tess die
Treppe heruntergetappt. Kit hatte sich rasch eine Jeans und ein
Sweatshirt übergezogen, aber Toby war noch in Schlafanzug und
Bademantel und hielt seinen Weihnachtsstrumpf fest umklammert, als
fürchtete er, jemand könne ihm seinen Schatz wegnehmen.
Als Rosemary verkündete, dass es die Geschenke erst
nach dem Frühstück geben würde, hatte nicht einmal Toby
protestiert. Dabei wusste Gemma genau, dass er zu Hause einen
Aufstand gemacht und am Frühstückstisch ununterbrochen gequengelt
hätte.
Eine halbe Stunde später waren sie alle ins
Wohnzimmer gepilgert, die Bäuche voll mit Eiern, Speck und
Würstchen, die Erwachsenen mit ihrer zweiten Tasse Kaffee in der
Hand, die Hunde nass vom Tollen im Schnee. Hugh hatte im Kamin ein
loderndes Feuer entfacht und die Baumbeleuchtung eingeschaltet, und
der Schnee, der vor dem Fenster in der Sonne glitzerte, machte die
märchenhafte Szenerie perfekt.
An Duncans warme Schulter geschmiegt, saß Gemma auf
der Sofalehne und beobachtete die Kinder. Rosemary hatte Kit
gebeten, seinem kleinen Bruder beim Verteilen der Geschenke zu
helfen, doch kaum hatte Toby die ersten Pakete mit seinem Namen
darauf entdeckt, fiel er darüber her und warf mit Papierfetzen um
sich, als wolle er Konfetti für Silvester machen. Kit dagegen
wartete ab, bis alle mit Geschenken versorgt waren, und erst dann
begann er auf Drängen seiner
Großmutter, vorsichtig das Papier von einem seiner eigenen
Päckchen zu entfernen. Zuerst zog er den Tesafilm ab, dann faltete
er das Papier, und schließlich rollte er auch noch das Geschenkband
sorgfältig zusammen.
Wie unterschiedlich die beiden doch waren, dachte
Gemma – Toby, der sich wie ein kleiner Plünderer gleich auf seine
Beute stürzte, und Kit, der seine Geschenke hortete und dabei alle
anderen beobachtete, als wolle er sich das Vergnügen so lange wie
möglich aufsparen. Würde er jemals irgendetwas ganz selbstvergessen
genießen können, ohne Angst zu haben, dass es ihm gleich wieder
weggenommen würde?
Aber bei all seiner gewohnheitsmäßigen
Zurückhaltung und trotz der leichten Schatten, die sie um seine
Augen bemerkte, fand Gemma, dass er so glücklich und entspannt
aussah wie schon seit Wochen nicht mehr. Und er hatte den ganzen
Vormittag über Duncans Nähe gesucht – die Spannungen nach der
gestrigen Auseinandersetzung waren offenbar vergessen.
Jetzt weiteten sich seine Augen vor Begeisterung,
als er das Geschenk seiner Großeltern endlich ausgepackt hatte –
ein Quizspiel, dass er schon seit Monaten in den Schaufenstern
bewundert hatte.
»Woher habt ihr das gewusst?«, fragte Gemma
Rosemary lachend, während Kit auf seine Großmutter zuging, um sie
zu umarmen.
»Einfach nur geraten«, meinte Rosemary leichthin,
doch sie schien geschmeichelt.
»Oohh«, hauchte Toby und vergaß tatsächlich für
einen Moment das Zappeln, als er sein Geschenk von Rosemary und
Hugh vom Papier befreit hatte – einen großen Kasten mit bunten
Pastellstiften samt Malblock. »Was ist denn das?«, fragte er und
fuhr mit dem Zeigefinger über die Stifte. »So was Ähnliches wie
Buntstifte?«
»Ein bisschen«, antwortete Hugh. »Und ein bisschen
wie Kreide. Wir haben gehört, dass du ein richtiger kleiner
Künstler bist. Nachher zeig ich dir, wie man damit malt.«
Duncan stand auf und tätschelte flüchtig Gemmas
Schulter, um dann das Geschenk für seinen Vater unter dem Baum
hervorzukramen. »Ich weiß, es ist ein bisschen wie Eulen nach Athen
tragen«, sagte er, während er Hugh mit betonter Beiläufigkeit das
Päckchen in die Hand drückte, doch Gemma konnte die gespannte
Erwartung aus seiner Stimme heraushören.
Hugh wog das Geschenk in der Hand und grinste.
»Fühlt sich an wie ein Buch.« Doch als er es ausgepackt hatte, saß
er einen Moment lang nur da und starrte das kleine Bändchen an, ehe
er zu seinem Sohn aufblickte. »Wo hast du das gefunden?«, flüsterte
er.
Kincaid war inzwischen zum Sofa zurückgegangen und
hatte den Arm um Gemma gelegt. »An einem Bücherstand auf dem
Portobello Market. Hab mir gedacht, das könnte dir gefallen.« Es
handelte sich, wie er Gemma in aller Ausführlichkeit erklärt hatte,
um eine Ausgabe von Dylan Thomas’ Gespräche über
Weihnachten, eines von nur zweitausend Exemplaren, die 1954 für
Freunde und Bekannte des Verlegers J. Laughlin gedruckt worden und
nie in den Verkauf gelangt waren. Der Text war ein Ausschnitt aus
Thomas’ Weihnachtserzählung, vom Dichter selbst in
Dialogform umgearbeitet.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Hugh
presste die Lippen zusammen, konnte aber ein leichtes Zittern nicht
unterdrücken.
Kincaid räusperte sich und sagte ein wenig zu
forsch: »Na, dann lies es uns halt vor.«
»Jetzt?«, fragte Hugh und sah seine Frau an.
Rosemary nickte. »Warum nicht? Die Pute ist im
Ofen. Wir haben keine Eile.«
Und so stellte Hugh sich mit dem Rücken zum Kamin,
die Lesebrille auf der Nase, und begann mit einem passablen
walisischen Akzent die Verse zu deklamieren, die Gemma
augenblicklich in ihr eigenes Wohnzimmer zurückversetzten, wo sie
im Jahr zuvor Weihnachten gefeiert hatten. Damals hatte Duncan ihr
und den Kindern dieses Gedicht vorgelesen, und sie hatte vor ihrem
geistigen Auge die Weihnachtsfeste der Zukunft vorbeiziehen sehen,
mit den Jungen und dem Kind, das sie erwartete, an ihrer
Seite.
Ein Schauer überlief sie, und Duncan drückte sie
ein wenig fester an sich. »Ist dir kalt?«, murmelte er ihr ins
Ohr.
Sie schüttelte den Kopf und legte einen Finger an
die Lippen. Dann lauschte sie wieder gebannt den Worten des
Dichters, und die Bilder, die sie malten, waren lebhafter als jede
Erinnerung. Sogar Toby saß mucksmäuschenstill da, den Malkasten auf
seinem Schoß fest umklammert.
Duncan hatte sich selbst übertroffen, dachte Gemma.
Dieses Weihnachtsfest im Haus seiner Kindheit schien eine ganz
besondere Bedeutung für ihn zu haben. An diesem Morgen hatte er sie
geweckt, indem er ihr ein Paket neben das Kopfkissen gelegt
hatte.
»Was?«, hatte sie gemurmelt und schläfrig
geblinzelt, um sich dann am Kopfbrett hochzuziehen, während Duncan
sich auf die Bettkante setzte.
»Mach’s auf.« Sie sah, dass er angezogen war, aber
noch unrasiert und mit wirren Haaren, und sie vermutete, dass er
sich auf Zehenspitzen nach unten geschlichen hatte, um das Paket zu
holen.
»Jetzt? Aber was ist mit den Kin…«
»Das ist nicht für die Kinder, sondern für dich. Na
los, mach’s auf.«
Sie war jetzt hellwach, und ihr Herz machte vor
Aufregung einen kleinen Satz. Sie strich sich die Haare aus dem
Gesicht
und hielt ihn noch ein wenig hin. »Es ist größer als ein
Brotkasten.«
»Wenn du das verdammte Ding nicht endlich
aufmachst, kannst du froh sein, wenn du noch einen Kanten Brot
kriegst, geschweige denn einen Brotkasten«, hatte er mit gespielter
Strenge erwidert, worauf sie das Paket ebenso behutsam vom Papier
befreite, wie Kit es mit seinen Geschenken getan hatte. »Und es ist
übrigens kein Toaster«, fügte Duncan hinzu, als sie das Etikett des
Haushaltswarenladens auf dem Karton entdeckte.
Als sie den Karton geöffnet und in dem Nest aus
Seidenpapier gewühlt hatte, war zuerst eine Keramik-Zuckerdose zum
Vorschein gekommen, dann ein Sahnekännchen, beides im gleichen
lebhaften Clarice-Cliff-Design wie die Teekanne, die eine Freundin
ihr nach ihrer Fehlgeburt geschenkt hatte.
»Oh«, hatte sie gehaucht, »das wäre doch nicht … wo
hast du denn die bloß … die sind wunderschön.« Die Stücke waren
selten und verdammt teuer, und sie vermutete, dass er – zusammen
mit ihrem gemeinsamen Freund Alex – monatelang danach gesucht
hatte.
»Gefallen sie dir?« Er schien plötzlich
unsicher.
»Natürlich gefallen sie mir!« Sie zog ihn an sich
und berührte seine stopplige Wange leicht mit den Lippen. Seine
Haut war angenehm warm in dem kühlen Zimmer und roch nach
Schlaf.
Einen klitzekleinen Moment lang hatte sie gehofft,
er hätte ein etwas romantischeres Geschenk ausgesucht, etwas, was
für ihre gemeinsame Zukunft stand …
Und dann hätte sie sich am liebsten in den Hintern
gebissen für ihre Albernheit. Wenn sie so etwas Gewöhnliches wie
einen Ring wollte, musste sie ihn nur fragen, und er würde mit ihr
ins nächste Juweliergeschäft gehen. Stattdessen hatte er viel Zeit
und Geld investiert, um etwas zu finden, das für sie eine ganz
persönliche Bedeutung hatte und zudem ein Symbol für
ihren Neuanfang nach dem Schock des Verlusts war – und was konnte
romantischer sein als das?
Du lieber Gott, glaubte sie vielleicht, ein Ring
wäre eine Versicherung gegen emotionale Katastrophen? Ihre Gedanken
schweiften zu Caspar und Juliet ab, und sie erschauerte und schämte
sich für ihren momentanen Rückfall in derart kleinkarierte,
traditionelle Erwartungen.
Nein, vielen Dank – da war es ihr doch zehnmal
lieber, wenn alles so blieb, wie es war. Zum Beweis hatte sie sich
bei Duncan ausgesprochen leidenschaftlich bedankt, und als sie nun
an die aufregende halbe Stunde zurückdachte, schmiegte sie sich
gleich noch ein wenig fester in seinen Arm.
Nachdem sämtliche Geschenke ausgepackt waren und
Hugh seine Lesung beendet hatte, hatten sie rasch das Wohnzimmer
aufgeräumt und sich an den langen Küchentisch gesetzt, um die Pute
mit allem köstlichen Drum und Dran zu verspeisen. Begleitet vom
Bellen der Hunde hatten sie Knallbonbons aufgezogen und sich – sehr
zu Tobys Vergnügen – ihre albernen Papierhüte aufgesetzt. Gemma
konnte sich denken, dass Rosemary und Hugh sich Sorgen um Juliet
machten, aber sie hatten dennoch ihr Bestes getan, um den Kindern
ein gelungenes Fest zu bieten.
Als sie so viel von der Pute gegessen hatten, wie
nur hineinpasste, schoben sie alle stöhnend ihre Stühle zurück und
beschlossen einstimmig, mit dem Plumpudding bis zum Tee zu warten.
Gemma bestand darauf, Rosemary beim Abwasch zu helfen, während die
männlichen Familienmitglieder das Quiz auspackten. Sie beobachtete
Hugh, Duncan und Kit, wie sie über das Brett gebeugt dasaßen, ihre
schmalen Kincaid-Gesichter voller Konzentration. Und dann war da
Toby, das »Kuckucksei« im Nest. Was für ein Glück für ihn, dachte
Gemma, dass er nie auch nur auf den Gedanken zu kommen schien, er
könnte nicht dazugehören.
Sie war froh, dass sie gekommen waren, dachte sie,
während sie die Teller mit einem Geschirrtuch abtrocknete. Erst
nachdem sie aufgebrochen waren, war ihr so richtig klar geworden,
wie sehr sie den Tapetenwechsel brauchten – wie dringend sie und
Duncan eine Pause von der Arbeit nötig hatten und Kit eine Pause
von der Schule.
Als das Telefon klingelte, hatte Rosemary die Arme
bis zu den Ellbogen im Spülwasser. »Ich geh dran, okay?«, sagte
Gemma, und als Rosemary nickte, griff sie nach dem Hörer.
»Gemma?« Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern,
doch Gemma hatte Lally erkannt. »Du, ich will nicht, dass mein
Vater was mitkriegt«, fuhr das Mädchen hastig fort. »Ich bin hier
bei meiner anderen Oma. Ich bin auf dem Klo und rufe mit dem Handy
an. Hast du meine Mutter gesehen?«
»Hier?«, fragte Gemma überrascht. »Nein. Wieso?«
Rosemary hatte den Kopf gedreht, um mitzuhören. Die Hände noch
immer im Spülwasser, verharrte sie mit sorgenvoller Miene.
»Sie ist vor einer halben Ewigkeit weggegangen,
noch vor dem Essen«, sagte Lally mit einem panischen Kiekser in der
Stimme. »Sie sagte, sie hätte was vergessen und wär in ein paar
Minuten wieder da, aber sie ist immer noch nicht zurück.«
An einem stürmischen Tag im Vorfrühling
schlenderte er nach der Schule müßig durch die Markthallen in der
Stadt, gelangweilt von den viel zu leichten Schulaufgaben, von den
Lehrern, die auf seine Entschuldigungen hereinfielen, von seinen
Klassenkameraden, die sich nur allzu leicht manipulieren
ließen.
Er ging von Stand zu Stand, begutachtete die
Waren unter den argwöhnischen Blicken der Verkäufer und genoss das
Wissen, dass er mit Leichtigkeit etwas mitgehen lassen könnte, wenn
er nur wollte. Aber es war alles wertloser Schrott, der die Mühe
nicht lohnte.
Dann fiel sein Blick auf einen Korb direkt
neben dem Obst- und
Gemüsestand. Hatte sich da etwas bewegt? Als er sich
darüberbeugte, hörte er ein hohes Miauen, und was er anfangs für
einen Ballen Garn gehalten hatte, entpuppte sich als wuselndes
Knäuel winziger Kätzchen.
»Na, hättest du gern ein Kätzchen, Kleiner?«,
fragte die Marktfrau in jenem übertrieben munteren Ton, in den
Erwachsene gerne verfielen, wenn sie mit Kindern redeten – als ob
jeder, der noch nicht im fortpflanzungsfähigen Alter war,
notwendigerweise beschränkt sei. »Kosten aber fünf Pfund das
Stück«, setzte sie mit einem Lächeln hinzu, das ihre unteren
Schneidezähne sehen ließ, schief wie alte Grabsteine. »Will ja bloß
sichergehen, dass sie in gute Hände kommen.«
»Wie alt sind die?«, fragte er und stieß eins
der Fellbündel mit dem Finger an. Eine Zunge kam zum Vorschein und
leckte raspelnd seine nackte Haut. Er sah, dass die Augen des
Kätzchens blau waren und noch ein wenig trüb, als ob es noch nicht
richtig sehen gelernt hätte.
»Sechs Wochen, auf den Tag genau. Sie können
schon Trockenfutter fressen, wenn du’s ihnen unter die Milch
mischst. Erlauben deine Eltern dir denn, eine Katze zu
halten?«
Er lächelte, als er sich die Reaktion seiner
Mutter vorstellte, wenn er mit einem Kätzchen nach Hause käme.
Seine Eltern konnten beide nichts mit Tieren anfangen, und seine
Mutter hatte sogar eine regelrechte Katzenphobie.
»O ja«, antwortete er. Er griff in die
Hosentasche und kramte eine Handvoll Münzen hervor. »Ich glaube,
ich habe fünf Pfund. Ich könnte meine Mama überraschen.« Er zählte
drei der schweren Pfundmünzen ab, verzog das Gesicht und begann in
dem Häufchen Kupfergeld zu kramen.
Die Frau fiel ihm in den Arm und sagte: »Nee,
lass mal, Kleiner. Das passt schon. Dir überlass ich’s für drei.
Musst ja nicht dein ganzes Taschengeld ausgeben. Das Graue hat’s
dir angetan, was?« Sie griff in den Korb und fischte das graue
Flaumbällchen heraus, das er angestupst hatte. »Ist’n hübsches
Kerlchen. Kannst du es so mitnehmen, oder soll deine Mutter es für
dich abholen?«
Er ließ die Frau sein charmantestes Lächeln
sehen, nahm das Kätzchen, steckte es in den Anorak, den er über
seiner Schuluniform trug, und zog den Reißverschluss hoch. »Ich
komme schon zurecht. Ich bin mit dem Rad da und wohne hier ganz in
der Nähe.«
Er stützte den kleinen Körper mit einer Hand,
während er sich durch die Menge schlängelte. Das Kätzchen wand sich
zuerst noch, dann wurde es still; seine Körperwärme schien es zu
beruhigen. »Viel Glück, Kleiner!«, rief die Frau ihm nach, doch er
tat so, als hätte er sie nicht gehört.
Einhändig zu fahren war nicht das Problem,
aber anstatt nach Hause zu radeln, schlug er den Weg zum westlichen
Stadtrand und zum Leinpfad am Kanal ein. Die Tage wurden allmählich
länger, und so hatte er noch ein wenig Zeit, ehe es dunkel wurde.
Der Boden war einigermaßen trocken, sodass er nicht befürchten
musste, seine Schuluniform zu verdrecken. Er fuhr Richtung Norden,
und als er die Stadt hinter sich nicht mehr sehen konnte, hielt er
an und lehnte das Rad an eine knospende Weißdornhecke. Direkt vor
ihm beschrieb der Kanal eine Kurve, und ein Stück der
Uferbefestigung war abgebröckelt, sodass das Schilf an dieser
Stelle fruchtbaren Boden gefunden hatte.
Hierher kam er manchmal, wenn er nachdenken
wollte. Wenn er auf dem kleinen Hügel mitten im Schilf hockte, war
er praktisch unsichtbar, konnte selbst jedoch ein Boot oder einen
Fußgänger schon von weitem kommen hören. Von der Landstraße nach
Chester drang gedämpfter Verkehrslärm an sein Ohr, und der Wind
rauschte in den Schilfspitzen, doch er suchte sich ein geschütztes
Plätzchen und setzte sich im Schneidersitz hin. Drei Schwäne, durch
die Bewegung angelockt, kamen herangeglitten und begannen an den
Grasbüscheln zu rupfen, die an der Wasserkante wuchsen.
Die Bewegungen beim Radfahren hatten das
Kätzchen eingelullt, doch jetzt regte es sich und begann zu
zappeln, und die winzigen Krallen bohrten sich wie Nadeln durch
Jacke und Hemd in seine Haut. Verärgert zog er es heraus und hielt
es am Genick hoch, um es
zu betrachten. Es hing wie gelähmt in seiner Hand, die blauen
Augen weit aufgerissen.
Was sollte er mit dem Ding anfangen? Der
Gedanke an das Entsetzen seiner Mutter hatte schon etwas von seinem
Reiz verloren. Das Vergnügen würde nur von kurzer Dauer sein. Sie
würde vielleicht kreischen, aber dann würde sie sich in ihr Zimmer
zurückziehen, und er würde ein neues Zuhause für die Katze finden
müssen – etwas, wozu er nicht die geringste Lust verspürte.
Das Wasser schlug kleine Wellen, als die
Schwäne davonschwammen. Als die Oberfläche wieder glatt war, hielt
er das Kätzchen über den Kanal und betrachtete das Spiegelbild im
Wasser. Es schien unwirklich, wie ein Produkt seiner
Einbildung.
Ohne bewusst darüber nachzudenken, ließ er
die Hand langsam sinken. Das Kätzchen begann zu zappeln, als es das
Wasser berührte, es wand sich und kratzte ihn am Handgelenk. Dann
schloss sich das kalte Nass über dem kleinen grauen Körper. Er
lockerte seinen Griff nicht.