8
Als Babcock über die vereisten Reifenspuren auf dem Parkplatz des Krankenhauses stapfte, sah er Dr. Elsworthys grünen Morris Minor auf einem der für Ärzte reservierten Plätze stehen. Auf dem Rücksitz erhob sich der Kopf des Hundes wie ein urzeitliches Monster aus den Tiefen von Loch Ness. Die Bestie fixierte ihn mit einem starren Blick ihrer unergründlichen Augen und wandte sich dann ab, als hätte sie ihn taxiert und für zu leicht befunden, um schließlich wieder abzutauchen. Kein Wunder, dass die Rechtsmedizinerin solchen Luxus wie ein Auto mit moderner Alarmanlage nicht nötig hatte, dachte Babcock, während er Hund und Wagen in großem Bogen umkurvte. Eher würde sie von einem verhinderten Autodieb verklagt werden, weil er einen Herzinfarkt erlitten hatte, als dass sie um ihr Auto fürchten müsste.
Auch der Anblick seines Sergeants Kevin Rasansky, der am Eingang zur Leichenhalle an der Wand lehnte, war kaum dazu angetan, ihn aufzuheitern.
»Morgen, Chef. Frohe Weihnachten!«, rief Rasansky, dem offenbar weder die Kälte noch der Feiertagseinsatz ernsthaft die gute Laune verderben konnten.
Babcock verzog nur das Gesicht. »Seien Sie doch nicht so ätzend gut drauf. Was machen Sie überhaupt hier? Sie wollten doch den Weihnachtsmorgen unbedingt mit Ihrer Familie verbringen.«
»Ich hab mir gedacht, Sie könnten vielleicht ein bisschen Unterstützung gebrauchen. Außerdem hab ich leider vergessen, Batterien für das Spielzeug zu besorgen. Da waren meine Frau und die Kinder nicht gerade begeistert. Und dann haben wir auch noch die ganzen Feiertage über meine Schwiegermutter im Haus. Wer hätte gedacht, dass die Leichenhalle mal das kleinere Übel sein würde?«, fügte er hinzu, während er Babcock die Tür aufhielt.
Babcock hätte ihm durchaus beipflichten können, wenn er an seine arktische Junggesellenhöhle dachte, aber das würde er seinem Sergeant gegenüber nicht eingestehen.
Kevin Rasansky war ein kräftiger junger Mann mit rundem Bauerngesicht, dem seine Kleider nie so recht zu passen schienen. Hinter seinem wenig beeindruckenden Äußeren verbargen sich jedoch ein scharfer Verstand und ein geradezu brutaler Ehrgeiz. Babcock fand ihn nützlich, traute ihm aber nie so ganz über den Weg.
Aus Erfahrung wusste er, dass Rasansky es auf raffinierte Weise immer wieder verstand, bei den Polizei-Oberen die Meriten für den erfolgreichen Abschluss einer Ermittlung einzuheimsen. Da waren zum Beispiel die mit reichlich Selbstironie gewürzten Geschichten, die er am Kaffeeautomaten oder in der Kantine zum Besten gab und in denen er stets ganz beiläufig einfließen ließ, wie seine eigenen bescheidenen Ideen und Vorschläge seinen Vorgesetzten in die Lage versetzt hatten, den Täter dingfest zu machen. Besagter Vorgesetzter konnte dann schwerlich Rasanskys Version anfechten, ohne kleinlich zu klingen, doch Babcock revanchierte sich, indem er darauf achtete, seinen Sergeant streng in die Schranken zu weisen. Rasansky war sich normalerweise für keinen Job zu schade, aber heute Morgen wäre Babcock ausnahmsweise bereit gewesen, dem Sergeant eine Pause zu gönnen.
»Waren Sie schon am Leichenfundort?«, fragte er, als sie darauf warteten, dass jemand den Summer für die innere Tür drückte.
»Gleich als Erstes heute früh.«
»Ist die Presse schon aufgetaucht?«
»Eine freie Reporterin, die für die Chronicle schreibt, Megan Tully. Aber bis die Zeitung erscheint, ist die Meldung schon alt, und ich glaube kaum, dass sie eine der überregionalen Zeitungen dafür interessieren kann, außer wenn an dem Tag sonst rein gar nichts los ist.« Mit Chronicle meinte Rasansky das lokale Wochenblatt.
Der Umgang mit den Medien war immer eine zweischneidige Angelegenheit – die Verbreitung gewisser Informationen konnte die Suche nach dem Täter voranbringen, aber wenn Details der Ermittlungen zur Unzeit veröffentlicht wurden, konnten die Folgen katastrophal sein. Deshalb war Babcock froh, ein paar Tage Gnadenfrist zu haben, ehe er entscheiden musste, was an die Öffentlichkeit gelangen durfte. Und falls es ihnen bis zum Erscheinen der Zeitung nicht gelungen sein sollte, das Opfer zu identifizieren, könnte er die Gelegenheit zu einem Aufruf an die Bevölkerung nutzen.
»Wie sieht’s mit der Suche nach den Vorbesitzern des Grundstücks aus?«
»Schlecht. Die Jungs sind heute früh wieder ausgeschwärmt, um die Anwohner zu befragen. Anscheinend haben in letzter Zeit einige der umliegenden Anwesen den Besitzer gewechselt, und der eine Nachbar, von dem es hieß, er könnte eine Adresse haben, ist über die Feiertage verreist.«
Babcock nahm die Neuigkeiten schweigend zur Kenntnis. Das bedeutete, dass sie ihre Nachforschungen ausweiten mussten, und das wiederum verlangte mehr Personal. »Was ist mit der Soko-Zentrale?«, fragte er. Am späten Abend des Vortags hatte Babcock im Gebäude der Polizeidirektion in Crewe eine provisorische Einsatzzentrale eingerichtet. »Können wir ein paar Leutchen entbehren, um die Provinz abzuklappern?«
»Ein paar haben wir schon noch auftreiben können, aber die sprühen nicht gerade vor Tatendrang. Anscheinend sind sie der Meinung, dass die Schurken in einen Weihnachtsfrieden einwilligen sollten, wie damals anno’14.«
Babcock sah seinen Sergeant von der Seite an, verblüfft über die Anspielung. Im Ersten Weltkrieg hatten die britischen und deutschen Soldaten während der ersten Schlacht von Ypern an Weihnachten ihre Schützengräben verlassen, um Weihnachtsgrüße und Geschenke auszutauschen. Rasansky sah nicht aus wie jemand, der sich für Geschichte interessierte.
»Na ja«, meinte er stattdessen nur, »aber dann müssen wir uns immer noch mit den Weihnachts-Selbstmorden rumschlagen.« Mit dieser aufmunternden Bemerkung betrat er die Leichenhalle, deren Tür sich just in diesem Moment vor ihnen aufgetan hatte.
Dr. Elsworthys Assistentin, eine kräftige junge Frau mit roten Haaren, führte sie mit den Worten »Sie fängt gerade an« in den Sektionssaal.
Die Rechtsmedizinerin begrüßte sie mit einem Nicken. In OP-Kittel und Schürze, das flatternde graue Haar mit einer Haube gebändigt, sah sie um Jahre jünger aus, und Babcock fielen zum ersten Mal ihre markanten und ebenmäßigen Gesichtszüge auf. Aber wenn Althea Elsworthy an diesem Morgen ein wenig menschlicher aussah, galt dies keineswegs für den kleinen Körper vor ihr auf dem Untersuchungstisch. Von Decke und Kleidung befreit, erinnerte die Kinderleiche eher an eine zerlumpte Puppe aus Leder und Haaren oder die Überreste eines kleinen Tiers, das zu lange am Straßenrand in der Sonne gelegen hatte. Ihm fiel auf, dass der übliche Gestank fast ganz fehlte – nur einen leichten Modergeruch konnte er wahrnehmen. Das war immerhin eine Erleichterung. Bei dieser Obduktion würde er ausnahmsweise einmal nicht das Kunststück vollbringen müssen, gleichzeitig durch den Mund zu atmen und zu sprechen.
Als Rasansky den Kopf schüttelte und angewidert die Zähne bleckte, fiel Babcock wieder ein, dass der Sergeant ein kleines Kind zu Hause hatte. Falls er je versucht war, andere Leute um ihren Nachwuchs zu beneiden, war eine Kinderleiche im Sektionssaal das beste Heilmittel.
Er wandte sich den Röntgenaufnahmen am Leuchtkasten zu, wo das weiße Geflecht der Knochen wie Frost auf schwarzem Samt schimmerte.
Elsworthy folgte seinem Blick. »Skelett ist intakt«, sagte sie in ihrem typischen Telegrammstil. »Keine Anzeichen von stumpfen Traumata, keine prämortalen Frakturen.«
»Was bleibt dann noch?«, fragte Babcock.
»Ersticken. Ertrinken. Vergiftung. Natürliche Todesursachen.« Beim letzten Punkt der Aufzählung bemerkte er ein amüsiertes Blitzen in ihren Augen.
»Gut.« Babcock reagierte mit einem schiefen Lächeln auf ihren Sarkasmus. »Was ist mit Stich- oder Schnittwunden? Schussverletzungen?«
»Möglich, aber in dem erhaltenen Gewebe habe ich keine Verletzungen feststellen können, auch keine Absplitterungen an den Knochen. Und ich habe es auch noch so gut wie nie erlebt, dass ein so kleines Kind erschossen oder erstochen wurde. Es könnte natürlich geschüttelt worden sein, aber eventuelle Schwellungen oder Blutergüsse im Gehirn sind verständlicherweise längst nicht mehr nachweisbar.«
»Sie sagten ›es‹ – können Sie feststellen, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt?«
»Nicht mit letzter Sicherheit. Im Beckenbereich ist kaum organisches Material erhalten, ganz bestimmt nicht genug, um sagen zu können, ob das Kind einen Penis hatte. Und in diesem Alter ist es sehr schwierig, die Skelettstrukturen zu unterscheiden. Aber nach der Kleidung würde ich vermuten, dass es sich um einen weiblichen Säugling handelt. Der DNA-Test dürfte das klären, aber da werden Sie sich noch gedulden müssen.« Elsworthy wusste, dass Geduld nicht gerade seine Stärke war – das konnte er an ihrem Blick ablesen.
»Na schön. Also ein Mädchen. Alter?«
»Nach den Körpermaßen zu urteilen zwischen sechs Monaten und einem Jahr, vielleicht auch achtzehn Monate. Je nach genetischer Veranlagung, Gesundheitszustand und Umwelteinflüssen können die Unterschiede in der Entwicklung enorm sein. Wenn das Kind zum Beispiel unterernährt war, könnte es durchaus weit unter den Normalwerten für Größe und Gewicht liegen.«
Während sie sprach, wandte sie sich wieder dem Leichnam zu und begann, ihn mit einer Pinzette zu untersuchen. Für eine so resolute Frau ging sie mit verblüffender Behutsamkeit vor.
»Keine Anzeichen von Insektenfraß«, fuhr sie fort. »Wir können also wohl davon ausgehen, dass das Kind während einer Periode niedriger Temperaturen verstorben ist und bald nach dem Tod beigesetzt wurde.«
Rasansky meldete sich erstmals zu Wort. »Denken Sie, dass sie misshandelt wurde?«
»Wie ich eben schon sagte, Sergeant, es gibt keine spezifischen Hinweise«, entgegnete Elsworthy gereizt. »Bei Babys, die misshandelt wurden, findet man in der Regel verheilte Frakturen, aber deren Fehlen bedeutet noch nicht, dass man Misshandlungen ausschließen könnte. Und Leute, die ihre Kinder gut behandeln, mauern sie normalerweise auch nicht in alten Viehställen ein.«
Ihre Bemerkung veranlasste Babcock dazu, die Frage zu stellen, die er bisher zurückgehalten hatte: »Was glauben Sie, wie lange sie schon dort gelegen hat?«
Elsworthy runzelte die Stirn und setzte ihre Untersuchung einige Sekunden lang schweigend fort, ehe sie antwortete. »Wahrscheinlich länger als ein Jahr. Das ist natürlich nur eine Vermutung.«
»Länger als ein Jahr? Also vielleicht fünf oder zehn oder fünfzehn oder zwanzig? Mehr können Sie mir nicht sagen?«
Diesmal war Babcock der Adressat des finsteren Blicks der Rechtsmedizinerin. »Haben Sie Wunder erwartet? Der Grad der Mumifikation dürfte vom Kalkanteil im Mörtel und im Stein beeinflusst worden sein. Durch die Laborergebnisse können wir die Zeitspanne vielleicht ein wenig einengen, aber vorläufig kommen Sie mit der Kleidung wahrscheinlich weiter.
Sowohl der Strampelanzug als auch die Decke scheinen synthetische Fasern zu enthalten, und die Druckknöpfe des Strampelanzugs sind nur teilweise verrostet. Und« – sie hielt inne, scheinbar um die Brusthöhle des Kindes genauer in Augenschein zu nehmen, doch Babcock hatte inzwischen den Verdacht, dass es ihr einfach Spaß machte, ihn zu ärgern – »das Beste ist, dass an dem Strampelanzug noch ein Etikett hängt.«
»Wa…«
Sie deutete mit einem Nicken auf ihre Assistentin. »Ich habe die Angaben zur Marke aufgeschrieben. Der Hersteller sollte Ihnen zumindest einen Produktionszeitraum nennen können.«
»Na, wunderbar«, entgegnete Babcock missmutig. Zu wissen, in welchem Zeitraum die Decke oder der Strampelanzug hergestellt worden waren, würde ihnen den frühestmöglichen Zeitpunkt liefern, mehr aber auch nicht. Die Sachen hatten möglicherweise jahrelang in irgendeinem Schrank gelegen, ehe sie bei der unkonventionellen Beisetzung Verwendung gefunden hatten. »Bei der Herstellerfirma werden wir frühestens am 27. jemanden erreichen.« Es würde Rasanskys Job sein, diese Informationen einzuholen.
Die Pathologin ignorierte sein Gegrummel und sagte nachdenklich: »Wie Sie sehen, war das Kind zwar mit einem Strampelanzug bekleidet und in eine Decke gehüllt, trug aber keine Windel. Das ist ziemlich seltsam, finden Sie nicht? Es deutet darauf hin, dass das Kind erst nach seinem Tod angekleidet – oder wieder angekleidet – wurde. Das wiederum mag ein Hinweis auf die Fürsorge der Person sein, die es beigesetzt hat, könnte aber andererseits auch Teil eines Rituals sein, das der Täter zur Steigerung seiner Befriedigung braucht.«
»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass wir es mit einem Serien-Babymörder zu tun haben?«
Elsworthy zuckte mit den Achseln. »Angesichts des Fehlens schwerer Verletzungen eher unwahrscheinlich, aber man sollte immer für alle Möglichkeiten offen sein, Chief Inspector. Ich nehme an, Ihre Suche nach den früheren Grundstückseigentümern war bisher erfolglos?«, fragte sie mit einer leisen Andeutung von Mitgefühl. »Es ist doch zu vermuten, dass die Mörtelarbeiten von einem der Eigentümer ausgeführt wurden, oder wenigstens mit dessen Wissen.«
Babcock schüttelte den Kopf. »Die Smiths, bei denen es sich angeblich um ein höchst ehrbares älteres Ehepaar handelt, sind spurlos verschwunden.«
 
Als Annie das Boot aus dem Hafenbecken von Nantwich Richtung Norden steuerte, hatte sie das Gefühl, eine Oase der Ruhe zu verlassen. Nicht, dass auf dem Kanal sehr viel mehr los gewesen wäre, doch während ihres kurzen Aufenthalts im Canal Centre war sie mit sich und der Welt im Einklang gewesen wie schon lange nicht mehr. Sie hatte Roger angerufen und ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass sie sich gerne mit ihm zum Weihnachtsessen treffen würde. Wie sie Roger kannte, hatte er wohl gerade Jazz ausgeführt, den Schäferhund, den er sich gekauft hatte, nachdem sie ausgezogen war – sein Trostpreis, wie er ihr erklärt hatte. Sie nahm an, dass der Hund sich als der unkompliziertere Hausgenosse erwiesen hatte.
Und sie hatte sich entschlossen, den Besuch tatsächlich zu machen, auch wenn es wahrscheinlich vergebliche Liebesmüh wäre. Sie konnte nicht damit rechnen, das Boot der Wains noch dort zu finden, wo sie es gestern gesehen hatte, oder dass Rowan Wain überhaupt mit ihr reden würde, wenn sie es tatsächlich fände, aber nachdem sie ihren Entschluss gefasst hatte, ergriff eine merkwürdige Euphorie von ihr Besitz. Das Stottern des Motors hatte von selbst wieder aufgehört – vielleicht ein Zeichen, dass sie den richtigen Kurs eingeschlagen hatte.
In ihre dickste Jacke gehüllt, mit ihrem wärmsten Schal um den Hals, stand sie an der Ruderpinne und lenkte das Boot den Weg zurück, den sie erst am Tag zuvor gekommen war. Der Rauch aus der Kabine wehte ihr ins Gesicht und brannte in ihren Augen, doch sie liebte den Geruch – er war wie die Quintessenz von Wärme und Behaglichkeit in der klaren, kalten Luft. Im Lauf der letzten Jahre hatte sie gelernt, instinktiv zu steuern und durch die leisesten Verlagerungen ihres Gewichts minimale Kurskorrekturen auf das Ruder zu übertragen.
Sie musste lächeln, wenn sie an ihre ersten unbeholfenen Fahrversuche mit dem Boot zurückdachte. Wie ein Ping-Pong-Ball war sie von einer Ufermauer an die andere geworfen worden. Am schlimmsten war es in den Tunnels gewesen, wo die ungewohnte Dunkelheit die Perspektiven verzerrte, sodass sie ständig überkorrigiert hatte und gegen die feuchten, glitschigen Wände gekracht war.
Obwohl sie die Tunnels immer noch nicht mochte, hatte sie gelernt, solche Situationen zu meistern, und inzwischen war sie mit der Horizon zu einer Einheit verschmolzen. Das Boot war wie eine Verlängerung ihres Körpers. Es hatte seine eigene Persönlichkeit, seine Stimmungen, und Annie hatte gelernt, sie zu erspüren. Heute war ein guter Tag, dachte sie; das Ruder reagierte auf ihre Bewegungen wie ein lebendiges Wesen, und der Motor schnurrte wie eine dicke, zufriedene Katze.
Alle ihre Sinne schienen geschärft. Vielleicht war es nur die alle Geräusche dämpfende Schneedecke, die sie jeden Laut bewusst wahrnehmen ließ, das gleißende Blau des Himmels, das jede Szene vor ihren Augen in kristallklarer Schärfe hervortreten ließ. Der Schnee verwandelte die Landschaft; er verhüllte die vertrauten Konturen und das auch im Winter allgegenwärtige Grün der englischen Wiesen und Felder. Und selbst das, was sie sehen konnte – die Stoppeln auf den Äckern, die verdrehten Äste eines toten Baums, das feine Gitterwerk der kahlen Sträucher, die den Leinpfad säumten -, schien strahlender, intensiver als sonst.
Sie passierte Hurleston Junction und die reizvolle Aussicht des Llangollen-Kanals, der sich hinunter nach Wales wand, doch ausnahmsweise fand sie den Gedanken an Flucht weniger verlockend als den Kurs, den sie eingeschlagen hatte. Als sie sich Barbridge näherte, kamen die Boote in ihr Blickfeld, die entlang des Leinpfads festgemacht hatten, und ihr Herz schlug schneller, als sie das eine, das sie suchte, am Ende der Reihe entdeckte.
Sie drosselte die Geschwindigkeit, ließ die Horizon auf einen freien Liegeplatz driften und sprang ans Ufer, um sie zu vertäuen. Nachdem sie die Bug- und die Heckleine an den Pollern festgemacht hatte, klopfte sie sich den Schnee von den Knien und studierte die Daphne.
Der Holzrumpf des Boots der Wains war unverwechselbar, doch es kam Annie vor, als seien die bunten Farben ein wenig verblasst, das Messing der Schornsteinbänder nicht mehr ganz so glänzend, wie sie es in Erinnerung hatte. Gabriel hatte ihr einmal erzählt, dass die Daphne eines des letzten Boote sei, die in Nursers Werft in Braunston gebaut worden waren.
Damals, als Annie mit den Wains zu tun gehabt hatte, hatte Rowan das Familieneinkommen aufgebessert, indem sie Boote mit den traditionellen Diamantmustern und Rosenund Burgenmotiven bemalt hatte, und die Daphne war eine schwimmende Reklame für ihre Arbeit gewesen. Rowan hatte auch die als Canalware bekannten Wasserkannen, Schüsseln und Schöpflöffel mit ihren fröhlichen Rosenmotiven verziert.
Bei ihrem letzten Treffen hatte Rowan Annie einen Schöpflöffel geschenkt, den sie eigens für sie bemalt hatte, und so ihre Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht – etwas, wofür ihr Mann schlicht zu wütend und zu stolz gewesen war.
Nicht, dass Annie Dank erwartet hätte. Sie hatte doch nur getan, was sie konnte, um das Unrecht wiedergutzumachen, das die Wains bereits erlitten hatten: den skrupellosen Vertrauensbruch durch das System, das sie eigentlich beschützen sollte.
Zuerst glaubte Annie, die Daphne sei verlassen. Die Vorhänge waren geschlossen, und nichts rührte sich auf dem Boot. Doch dann sah sie ein winziges Rauchfähnchen aus dem Schornstein aufsteigen, und im nächsten Moment erschien Gabriel Wain auf dem Hinterdeck.
Er setzte zu einem Nicken an, einem beiläufigen Gruß unter Schiffern, und erstarrte dann. Seine Miene verschloss sich, jeder Ausdruck wich aus seinen Zügen, bis nur der Argwohn in seinen Augen verblieb. Sein dichtes dunkles Haar war jetzt mit Grau gesprenkelt, wie Granit, doch sein Körper war immer noch kräftig. Als Annie Gabriel Wain zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr viel zu massig erschienen für jemanden, der auf einem so schmalen Boot lebte und arbeitete, doch an Bord bewegte er sich so flink und geschmeidig, dass man glauben konnte, er hätte nie einen Fuß an Land gesetzt.
Jetzt stand er da, ein wenig breitbeinig, um das leichte Schaukeln auszugleichen, das seine eigenen Schritte ausgelöst hatten, und beobachtete sie. Als er sprach, klang es wie eine Kampfansage. »Mrs. Constantine. Sie nach so langer Zeit ein Mal wieder zu sehen, könnte man noch als Zufall durchgehen lassen. Aber zwei Mal in nur zwei Tagen? Was wollen Sie von uns?«
Annie wischte sich einen letzten Rest Schnee von der Hose und richtete sich zu voller Größe auf. »Ich heiße nicht mehr Constantine, Gabriel. Ich heiße jetzt Lebow. Ich habe wieder meinen Mädchennamen angenommen. Und ich bin auch nicht mehr beim Jugendamt. Ich habe gekündigt, nicht lange, nachdem ich mit Ihnen gearbeitet habe. Und habe das Boot gekauft«, fügte sie hinzu und deutete auf die Horizon. Als er lediglich eine Augenbraue hochzog, fuhr sie stockend fort: »Es war eine schöne Überraschung, Sie gestern zu sehen. Die Kinder sehen gut aus. Das freut mich. Aber Rowan – ich dachte mir, ob ich vielleicht mal mit Rowan sprechen könnte. Gestern dachte ich … sie schien mir nicht …«
»Sie muss sich ausruhen. Sie braucht Ihre Einmischung nicht.«
Annie trat einen Schritt näher ans Boot. »Hören Sie, Gabriel, ich verstehe ja Ihre Gefühle. Aber wenn sie krank ist, könnte ich vielleicht helfen. Ich …«
»Sie können überhaupt nicht wissen, was ich fühle«, fiel er ihr ins Wort. Trotz all der aufgestauten Wut war seine Stimme ruhig. »Und sie ist nicht krank. Sie ist nur … sie ist nur müde, sonst nichts.« Da war sie wieder, die Angst, ein Abgrund, der sich hinter seinen Augen auftat; aber diesmal dachte Annie, dass sie nicht der Grund war.
»Sie wissen, dass ich Ihnen schon einmal geholfen habe«, sagte sie etwas bestimmter. »Sie wissen, dass ich auf Ihrer Seite war. Ich wäre vielleicht in der Lage …«
»Auf unserer Seite? Sie – mit Ihrem aufgedonnerten Boot«, er warf einen verächtlichen Blick auf die Horizon und spuckte in den Kanal, »Sie haben doch keinen blassen Schimmer von unserem Leben. Und jetzt lassen Sie uns in Frieden.«
»Sie können mich nicht einfach vom Leinpfad stoßen, Gabriel.« Sie erkannte die Absurdität ihrer Position, kaum dass die Worte ihr über die Lippen gekommen waren. Was wollte Sie tun? Das Jugendamt anrufen?
»Nein.« Zum ersten Mal spielte ein Anflug von bitterem Humor um seine Mundwinkel. »Aber ich kann einen guten Liegeplatz aufgeben, wenn Sie nicht aufhören, uns auf den Wecker zu fallen.«
Und sie könnte die Horizon losmachen und ihnen folgen. Annie hatte das absurde Bild vor Augen, wie sie mit drei Meilen in der Stunde den Kanal entlangtuckerte und der Daphne nachsetzte, eine Zeitlupenversion der Verfolgungsjagden in amerikanischen Filmen. Sie seufzte, und während die Anspannung allmählich aus ihren Schultern wich, sagte sie: »Gabriel, ich weiß, dass es falsch war, was mit Ihrer Familie geschehen ist. Ich will nur … nun ja, ich will es nur irgendwie wieder gutmachen.«
»Es gibt nichts, was Sie tun könnten.« In seiner Miene lag eine so trostlose Endgültigkeit, dass sie sich seinen Zorn zurückgewünscht hätte. »Und jetzt …«
Die Kabinentür hatte sich einen Spalt breit geöffnet. Das kleine Mädchen schlüpfte heraus, und Gabriel drehte sich überrascht um, als sie an seinem Hosenbein zupfte. Sie war hellhäutiger, als Annie sie von gestern in Erinnerung hatte, und im klaren Licht des Tages waren ihre Augen strahlend blau. »Papi«, flüsterte sie. »Mami will die Frau sehen.«
 
Entgegen Gemmas Befürchtungen war es doch noch ein nahezu perfektes Weihnachtsfest geworden. Sie hatte sich ein wenig für ihre Erleichterung geschämt, als sie erfahren hatte, dass Juliet und Caspar mit ihren Kindern bei Caspars Eltern essen würden. Sie empfand tiefes Mitleid mit Juliet – wie hielt sie das alles aus, nach Caspars unmöglichem Verhalten gestern Abend? -, doch sie wollte auch nicht, dass der Ehekrach der beiden ihren eigenen Kindern den Tag verdarb.
Kit und Toby hatten lange geschlafen. Hugh hatte schon den Speck in die Pfanne gehauen, während Geordie, der Cockerspaniel, und Jack, der Border Collie, in der Küche ein wildes Gerangel veranstalteten, da kamen die beiden erst mit Tess die Treppe heruntergetappt. Kit hatte sich rasch eine Jeans und ein Sweatshirt übergezogen, aber Toby war noch in Schlafanzug und Bademantel und hielt seinen Weihnachtsstrumpf fest umklammert, als fürchtete er, jemand könne ihm seinen Schatz wegnehmen.
Als Rosemary verkündete, dass es die Geschenke erst nach dem Frühstück geben würde, hatte nicht einmal Toby protestiert. Dabei wusste Gemma genau, dass er zu Hause einen Aufstand gemacht und am Frühstückstisch ununterbrochen gequengelt hätte.
Eine halbe Stunde später waren sie alle ins Wohnzimmer gepilgert, die Bäuche voll mit Eiern, Speck und Würstchen, die Erwachsenen mit ihrer zweiten Tasse Kaffee in der Hand, die Hunde nass vom Tollen im Schnee. Hugh hatte im Kamin ein loderndes Feuer entfacht und die Baumbeleuchtung eingeschaltet, und der Schnee, der vor dem Fenster in der Sonne glitzerte, machte die märchenhafte Szenerie perfekt.
An Duncans warme Schulter geschmiegt, saß Gemma auf der Sofalehne und beobachtete die Kinder. Rosemary hatte Kit gebeten, seinem kleinen Bruder beim Verteilen der Geschenke zu helfen, doch kaum hatte Toby die ersten Pakete mit seinem Namen darauf entdeckt, fiel er darüber her und warf mit Papierfetzen um sich, als wolle er Konfetti für Silvester machen. Kit dagegen wartete ab, bis alle mit Geschenken versorgt waren, und erst dann begann er auf Drängen seiner Großmutter, vorsichtig das Papier von einem seiner eigenen Päckchen zu entfernen. Zuerst zog er den Tesafilm ab, dann faltete er das Papier, und schließlich rollte er auch noch das Geschenkband sorgfältig zusammen.
Wie unterschiedlich die beiden doch waren, dachte Gemma – Toby, der sich wie ein kleiner Plünderer gleich auf seine Beute stürzte, und Kit, der seine Geschenke hortete und dabei alle anderen beobachtete, als wolle er sich das Vergnügen so lange wie möglich aufsparen. Würde er jemals irgendetwas ganz selbstvergessen genießen können, ohne Angst zu haben, dass es ihm gleich wieder weggenommen würde?
Aber bei all seiner gewohnheitsmäßigen Zurückhaltung und trotz der leichten Schatten, die sie um seine Augen bemerkte, fand Gemma, dass er so glücklich und entspannt aussah wie schon seit Wochen nicht mehr. Und er hatte den ganzen Vormittag über Duncans Nähe gesucht – die Spannungen nach der gestrigen Auseinandersetzung waren offenbar vergessen.
Jetzt weiteten sich seine Augen vor Begeisterung, als er das Geschenk seiner Großeltern endlich ausgepackt hatte – ein Quizspiel, dass er schon seit Monaten in den Schaufenstern bewundert hatte.
»Woher habt ihr das gewusst?«, fragte Gemma Rosemary lachend, während Kit auf seine Großmutter zuging, um sie zu umarmen.
»Einfach nur geraten«, meinte Rosemary leichthin, doch sie schien geschmeichelt.
»Oohh«, hauchte Toby und vergaß tatsächlich für einen Moment das Zappeln, als er sein Geschenk von Rosemary und Hugh vom Papier befreit hatte – einen großen Kasten mit bunten Pastellstiften samt Malblock. »Was ist denn das?«, fragte er und fuhr mit dem Zeigefinger über die Stifte. »So was Ähnliches wie Buntstifte?«
»Ein bisschen«, antwortete Hugh. »Und ein bisschen wie Kreide. Wir haben gehört, dass du ein richtiger kleiner Künstler bist. Nachher zeig ich dir, wie man damit malt.«
Duncan stand auf und tätschelte flüchtig Gemmas Schulter, um dann das Geschenk für seinen Vater unter dem Baum hervorzukramen. »Ich weiß, es ist ein bisschen wie Eulen nach Athen tragen«, sagte er, während er Hugh mit betonter Beiläufigkeit das Päckchen in die Hand drückte, doch Gemma konnte die gespannte Erwartung aus seiner Stimme heraushören.
Hugh wog das Geschenk in der Hand und grinste. »Fühlt sich an wie ein Buch.« Doch als er es ausgepackt hatte, saß er einen Moment lang nur da und starrte das kleine Bändchen an, ehe er zu seinem Sohn aufblickte. »Wo hast du das gefunden?«, flüsterte er.
Kincaid war inzwischen zum Sofa zurückgegangen und hatte den Arm um Gemma gelegt. »An einem Bücherstand auf dem Portobello Market. Hab mir gedacht, das könnte dir gefallen.« Es handelte sich, wie er Gemma in aller Ausführlichkeit erklärt hatte, um eine Ausgabe von Dylan Thomas’ Gespräche über Weihnachten, eines von nur zweitausend Exemplaren, die 1954 für Freunde und Bekannte des Verlegers J. Laughlin gedruckt worden und nie in den Verkauf gelangt waren. Der Text war ein Ausschnitt aus Thomas’ Weihnachtserzählung, vom Dichter selbst in Dialogform umgearbeitet.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Hugh presste die Lippen zusammen, konnte aber ein leichtes Zittern nicht unterdrücken.
Kincaid räusperte sich und sagte ein wenig zu forsch: »Na, dann lies es uns halt vor.«
»Jetzt?«, fragte Hugh und sah seine Frau an.
Rosemary nickte. »Warum nicht? Die Pute ist im Ofen. Wir haben keine Eile.«
Und so stellte Hugh sich mit dem Rücken zum Kamin, die Lesebrille auf der Nase, und begann mit einem passablen walisischen Akzent die Verse zu deklamieren, die Gemma augenblicklich in ihr eigenes Wohnzimmer zurückversetzten, wo sie im Jahr zuvor Weihnachten gefeiert hatten. Damals hatte Duncan ihr und den Kindern dieses Gedicht vorgelesen, und sie hatte vor ihrem geistigen Auge die Weihnachtsfeste der Zukunft vorbeiziehen sehen, mit den Jungen und dem Kind, das sie erwartete, an ihrer Seite.
Ein Schauer überlief sie, und Duncan drückte sie ein wenig fester an sich. »Ist dir kalt?«, murmelte er ihr ins Ohr.
Sie schüttelte den Kopf und legte einen Finger an die Lippen. Dann lauschte sie wieder gebannt den Worten des Dichters, und die Bilder, die sie malten, waren lebhafter als jede Erinnerung. Sogar Toby saß mucksmäuschenstill da, den Malkasten auf seinem Schoß fest umklammert.
Duncan hatte sich selbst übertroffen, dachte Gemma. Dieses Weihnachtsfest im Haus seiner Kindheit schien eine ganz besondere Bedeutung für ihn zu haben. An diesem Morgen hatte er sie geweckt, indem er ihr ein Paket neben das Kopfkissen gelegt hatte.
»Was?«, hatte sie gemurmelt und schläfrig geblinzelt, um sich dann am Kopfbrett hochzuziehen, während Duncan sich auf die Bettkante setzte.
»Mach’s auf.« Sie sah, dass er angezogen war, aber noch unrasiert und mit wirren Haaren, und sie vermutete, dass er sich auf Zehenspitzen nach unten geschlichen hatte, um das Paket zu holen.
»Jetzt? Aber was ist mit den Kin…«
»Das ist nicht für die Kinder, sondern für dich. Na los, mach’s auf.«
Sie war jetzt hellwach, und ihr Herz machte vor Aufregung einen kleinen Satz. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und hielt ihn noch ein wenig hin. »Es ist größer als ein Brotkasten.«
»Wenn du das verdammte Ding nicht endlich aufmachst, kannst du froh sein, wenn du noch einen Kanten Brot kriegst, geschweige denn einen Brotkasten«, hatte er mit gespielter Strenge erwidert, worauf sie das Paket ebenso behutsam vom Papier befreite, wie Kit es mit seinen Geschenken getan hatte. »Und es ist übrigens kein Toaster«, fügte Duncan hinzu, als sie das Etikett des Haushaltswarenladens auf dem Karton entdeckte.
Als sie den Karton geöffnet und in dem Nest aus Seidenpapier gewühlt hatte, war zuerst eine Keramik-Zuckerdose zum Vorschein gekommen, dann ein Sahnekännchen, beides im gleichen lebhaften Clarice-Cliff-Design wie die Teekanne, die eine Freundin ihr nach ihrer Fehlgeburt geschenkt hatte.
»Oh«, hatte sie gehaucht, »das wäre doch nicht … wo hast du denn die bloß … die sind wunderschön.« Die Stücke waren selten und verdammt teuer, und sie vermutete, dass er – zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Alex – monatelang danach gesucht hatte.
»Gefallen sie dir?« Er schien plötzlich unsicher.
»Natürlich gefallen sie mir!« Sie zog ihn an sich und berührte seine stopplige Wange leicht mit den Lippen. Seine Haut war angenehm warm in dem kühlen Zimmer und roch nach Schlaf.
Einen klitzekleinen Moment lang hatte sie gehofft, er hätte ein etwas romantischeres Geschenk ausgesucht, etwas, was für ihre gemeinsame Zukunft stand …
Und dann hätte sie sich am liebsten in den Hintern gebissen für ihre Albernheit. Wenn sie so etwas Gewöhnliches wie einen Ring wollte, musste sie ihn nur fragen, und er würde mit ihr ins nächste Juweliergeschäft gehen. Stattdessen hatte er viel Zeit und Geld investiert, um etwas zu finden, das für sie eine ganz persönliche Bedeutung hatte und zudem ein Symbol für ihren Neuanfang nach dem Schock des Verlusts war – und was konnte romantischer sein als das?
Du lieber Gott, glaubte sie vielleicht, ein Ring wäre eine Versicherung gegen emotionale Katastrophen? Ihre Gedanken schweiften zu Caspar und Juliet ab, und sie erschauerte und schämte sich für ihren momentanen Rückfall in derart kleinkarierte, traditionelle Erwartungen.
Nein, vielen Dank – da war es ihr doch zehnmal lieber, wenn alles so blieb, wie es war. Zum Beweis hatte sie sich bei Duncan ausgesprochen leidenschaftlich bedankt, und als sie nun an die aufregende halbe Stunde zurückdachte, schmiegte sie sich gleich noch ein wenig fester in seinen Arm.
Nachdem sämtliche Geschenke ausgepackt waren und Hugh seine Lesung beendet hatte, hatten sie rasch das Wohnzimmer aufgeräumt und sich an den langen Küchentisch gesetzt, um die Pute mit allem köstlichen Drum und Dran zu verspeisen. Begleitet vom Bellen der Hunde hatten sie Knallbonbons aufgezogen und sich – sehr zu Tobys Vergnügen – ihre albernen Papierhüte aufgesetzt. Gemma konnte sich denken, dass Rosemary und Hugh sich Sorgen um Juliet machten, aber sie hatten dennoch ihr Bestes getan, um den Kindern ein gelungenes Fest zu bieten.
Als sie so viel von der Pute gegessen hatten, wie nur hineinpasste, schoben sie alle stöhnend ihre Stühle zurück und beschlossen einstimmig, mit dem Plumpudding bis zum Tee zu warten. Gemma bestand darauf, Rosemary beim Abwasch zu helfen, während die männlichen Familienmitglieder das Quiz auspackten. Sie beobachtete Hugh, Duncan und Kit, wie sie über das Brett gebeugt dasaßen, ihre schmalen Kincaid-Gesichter voller Konzentration. Und dann war da Toby, das »Kuckucksei« im Nest. Was für ein Glück für ihn, dachte Gemma, dass er nie auch nur auf den Gedanken zu kommen schien, er könnte nicht dazugehören.
Sie war froh, dass sie gekommen waren, dachte sie, während sie die Teller mit einem Geschirrtuch abtrocknete. Erst nachdem sie aufgebrochen waren, war ihr so richtig klar geworden, wie sehr sie den Tapetenwechsel brauchten – wie dringend sie und Duncan eine Pause von der Arbeit nötig hatten und Kit eine Pause von der Schule.
Als das Telefon klingelte, hatte Rosemary die Arme bis zu den Ellbogen im Spülwasser. »Ich geh dran, okay?«, sagte Gemma, und als Rosemary nickte, griff sie nach dem Hörer.
»Gemma?« Die Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch Gemma hatte Lally erkannt. »Du, ich will nicht, dass mein Vater was mitkriegt«, fuhr das Mädchen hastig fort. »Ich bin hier bei meiner anderen Oma. Ich bin auf dem Klo und rufe mit dem Handy an. Hast du meine Mutter gesehen?«
»Hier?«, fragte Gemma überrascht. »Nein. Wieso?« Rosemary hatte den Kopf gedreht, um mitzuhören. Die Hände noch immer im Spülwasser, verharrte sie mit sorgenvoller Miene.
»Sie ist vor einer halben Ewigkeit weggegangen, noch vor dem Essen«, sagte Lally mit einem panischen Kiekser in der Stimme. »Sie sagte, sie hätte was vergessen und wär in ein paar Minuten wieder da, aber sie ist immer noch nicht zurück.«
 
An einem stürmischen Tag im Vorfrühling schlenderte er nach der Schule müßig durch die Markthallen in der Stadt, gelangweilt von den viel zu leichten Schulaufgaben, von den Lehrern, die auf seine Entschuldigungen hereinfielen, von seinen Klassenkameraden, die sich nur allzu leicht manipulieren ließen.
Er ging von Stand zu Stand, begutachtete die Waren unter den argwöhnischen Blicken der Verkäufer und genoss das Wissen, dass er mit Leichtigkeit etwas mitgehen lassen könnte, wenn er nur wollte. Aber es war alles wertloser Schrott, der die Mühe nicht lohnte.
Dann fiel sein Blick auf einen Korb direkt neben dem Obst- und Gemüsestand. Hatte sich da etwas bewegt? Als er sich darüberbeugte, hörte er ein hohes Miauen, und was er anfangs für einen Ballen Garn gehalten hatte, entpuppte sich als wuselndes Knäuel winziger Kätzchen.
»Na, hättest du gern ein Kätzchen, Kleiner?«, fragte die Marktfrau in jenem übertrieben munteren Ton, in den Erwachsene gerne verfielen, wenn sie mit Kindern redeten – als ob jeder, der noch nicht im fortpflanzungsfähigen Alter war, notwendigerweise beschränkt sei. »Kosten aber fünf Pfund das Stück«, setzte sie mit einem Lächeln hinzu, das ihre unteren Schneidezähne sehen ließ, schief wie alte Grabsteine. »Will ja bloß sichergehen, dass sie in gute Hände kommen.«
»Wie alt sind die?«, fragte er und stieß eins der Fellbündel mit dem Finger an. Eine Zunge kam zum Vorschein und leckte raspelnd seine nackte Haut. Er sah, dass die Augen des Kätzchens blau waren und noch ein wenig trüb, als ob es noch nicht richtig sehen gelernt hätte.
»Sechs Wochen, auf den Tag genau. Sie können schon Trockenfutter fressen, wenn du’s ihnen unter die Milch mischst. Erlauben deine Eltern dir denn, eine Katze zu halten?«
Er lächelte, als er sich die Reaktion seiner Mutter vorstellte, wenn er mit einem Kätzchen nach Hause käme. Seine Eltern konnten beide nichts mit Tieren anfangen, und seine Mutter hatte sogar eine regelrechte Katzenphobie.
»O ja«, antwortete er. Er griff in die Hosentasche und kramte eine Handvoll Münzen hervor. »Ich glaube, ich habe fünf Pfund. Ich könnte meine Mama überraschen.« Er zählte drei der schweren Pfundmünzen ab, verzog das Gesicht und begann in dem Häufchen Kupfergeld zu kramen.
Die Frau fiel ihm in den Arm und sagte: »Nee, lass mal, Kleiner. Das passt schon. Dir überlass ich’s für drei. Musst ja nicht dein ganzes Taschengeld ausgeben. Das Graue hat’s dir angetan, was?« Sie griff in den Korb und fischte das graue Flaumbällchen heraus, das er angestupst hatte. »Ist’n hübsches Kerlchen. Kannst du es so mitnehmen, oder soll deine Mutter es für dich abholen?«
Er ließ die Frau sein charmantestes Lächeln sehen, nahm das Kätzchen, steckte es in den Anorak, den er über seiner Schuluniform trug, und zog den Reißverschluss hoch. »Ich komme schon zurecht. Ich bin mit dem Rad da und wohne hier ganz in der Nähe.«
Er stützte den kleinen Körper mit einer Hand, während er sich durch die Menge schlängelte. Das Kätzchen wand sich zuerst noch, dann wurde es still; seine Körperwärme schien es zu beruhigen. »Viel Glück, Kleiner!«, rief die Frau ihm nach, doch er tat so, als hätte er sie nicht gehört.
Einhändig zu fahren war nicht das Problem, aber anstatt nach Hause zu radeln, schlug er den Weg zum westlichen Stadtrand und zum Leinpfad am Kanal ein. Die Tage wurden allmählich länger, und so hatte er noch ein wenig Zeit, ehe es dunkel wurde. Der Boden war einigermaßen trocken, sodass er nicht befürchten musste, seine Schuluniform zu verdrecken. Er fuhr Richtung Norden, und als er die Stadt hinter sich nicht mehr sehen konnte, hielt er an und lehnte das Rad an eine knospende Weißdornhecke. Direkt vor ihm beschrieb der Kanal eine Kurve, und ein Stück der Uferbefestigung war abgebröckelt, sodass das Schilf an dieser Stelle fruchtbaren Boden gefunden hatte.
Hierher kam er manchmal, wenn er nachdenken wollte. Wenn er auf dem kleinen Hügel mitten im Schilf hockte, war er praktisch unsichtbar, konnte selbst jedoch ein Boot oder einen Fußgänger schon von weitem kommen hören. Von der Landstraße nach Chester drang gedämpfter Verkehrslärm an sein Ohr, und der Wind rauschte in den Schilfspitzen, doch er suchte sich ein geschütztes Plätzchen und setzte sich im Schneidersitz hin. Drei Schwäne, durch die Bewegung angelockt, kamen herangeglitten und begannen an den Grasbüscheln zu rupfen, die an der Wasserkante wuchsen.
Die Bewegungen beim Radfahren hatten das Kätzchen eingelullt, doch jetzt regte es sich und begann zu zappeln, und die winzigen Krallen bohrten sich wie Nadeln durch Jacke und Hemd in seine Haut. Verärgert zog er es heraus und hielt es am Genick hoch, um es zu betrachten. Es hing wie gelähmt in seiner Hand, die blauen Augen weit aufgerissen.
Was sollte er mit dem Ding anfangen? Der Gedanke an das Entsetzen seiner Mutter hatte schon etwas von seinem Reiz verloren. Das Vergnügen würde nur von kurzer Dauer sein. Sie würde vielleicht kreischen, aber dann würde sie sich in ihr Zimmer zurückziehen, und er würde ein neues Zuhause für die Katze finden müssen – etwas, wozu er nicht die geringste Lust verspürte.
Das Wasser schlug kleine Wellen, als die Schwäne davonschwammen. Als die Oberfläche wieder glatt war, hielt er das Kätzchen über den Kanal und betrachtete das Spiegelbild im Wasser. Es schien unwirklich, wie ein Produkt seiner Einbildung.
Ohne bewusst darüber nachzudenken, ließ er die Hand langsam sinken. Das Kätzchen begann zu zappeln, als es das Wasser berührte, es wand sich und kratzte ihn am Handgelenk. Dann schloss sich das kalte Nass über dem kleinen grauen Körper. Er lockerte seinen Griff nicht.