14
Der Getroffene hielt sich den Kopf, taumelte,
schwankte und sackte auf dem Teppichboden des Pubs zusammen wie
eine alte Stoffpuppe. Er zuckte, stöhnte noch ein letztes Mal auf,
und dann rührte er sich nicht mehr.
Der Mörder blickte auf ihn herab, stieß ihn mit der
Schuhspitze an, einmal, zweimal, dann hob er die Arme mit dem
Knüppel in der rechten Hand über den Kopf und reckte triumphierend
die Fäuste in die Luft. Seine zerlumpten Kleider flatterten, als
er, das Gesicht immer noch von der Maske verhüllt, einen
improvisierten Freudentanz vollführte.
»Einen Arzt!«, rief jemand aus der Menge. »Holt
einen Arzt!«
Ein langer, knochendürrer Mann mit einem schwarzen
Zylinder schob sich durch die Reihen der Schaulustigen nach vorn,
kniete sich neben die Leiche und öffnete seine schwarze Tasche. Aus
ihren Tiefen holte er eine Flasche mit Medizin hervor, die
verdächtige Ähnlichkeit mit Apfelmost hatte, sowie eine Pille von
der Größe eines Tischtennisballs. Der Doktor hielt die Pille
zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, um sie der Menge zu zeigen.
Dann schob er sie zwischen die schlaffen Lippen des Toten.
Eine spannungsgeladene Pause trat ein, alle hielten
die Luft an – und dann begann der Tote sich plötzlich zu regen,
setzte sich auf und schüttelte sich mit übertriebener Heftigkeit.
Er spuckte die Pille aus, nahm einen Schluck aus dem Krug,
verdrehte die Augen und wischte sich mit dem Handrücken über
den Mund. Dann sprang er auf und begann den Mörder mit derselben
Keule zu attackieren, die zuvor gegen ihn eingesetzt worden
war.
Nach einer wilden Jagd über den kleinen freien
Platz in der Mitte des Pubs fiel der Mörder schließlich besiegt auf
die Knie, und die Menge brach in Jubel aus. Mörder, Opfer und
Doktor verbeugten sich, dann nahm der Doktor mit einer
schwungvollen Geste seinen Zylinder ab und ließ ihn herumgehen,
während ringsum die Gläser zu klirren begannen.
»Das ist ja barbarisch«, zischte Gemma Kincaid zu,
der neben ihr an der Theke lehnte. Sie hatten gerade in der
Schlange gestanden, um Getränke zu holen, als das Stück angefangen
hatte. Sofort waren alle Gespräche verstummt, und alle Augen hatten
sich auf die »Bühne« gerichtet.
Kincaid warf das Wechselgeld, das der Barmann ihm
in die Hand gedrückt hatte, in den Hut des Doktors, der gerade bei
ihnen vorbeikam, und meinte: »Der Mummenschanz am zweiten
Weihnachtstag ist eine altehrwürdige ländliche Tradition. Ich fand
die Vorführung eigentlich gar nicht so schlecht.«
Für Gemma bedeutete der zweite Weihnachtstag vor
allem Fußball im Fernsehen, und das fand sie dann doch noch etwas
zivilisierter als von Pantomimen gespielte Morde, Hooligans hin
oder her. Toby, der sich ängstlich an sie geklammert und das
Gesicht abgewandt hatte, als der Schurke zuschlug, zupfte an ihrem
Hosenbein. »Mami, ist der böse Mann jetzt weg?«
Gemma, die gar nicht gemerkt hatte, dass er echte
Angst gehabt hatte, kniete sich schuldbewusst neben ihn und strich
ihm durchs Haar. »Ja, mein Schatz. Das war alles nur gespielt –
genau wie im Fernsehen oder im Kino. Siehst du, jetzt sind sie
wieder Freunde.« Sie deutete auf die Schauspieler, die sich
inzwischen an einem Ecktisch angeregt unterhielten, und Toby
stellte sich auf die Zehenspitzen, um sie zu sehen.
»Das Stück ist aus dem Mittelalter, wenn nicht noch
älter«,
erklärte Kincaid, während er mit Gemma die Getränke einsammelte,
die sie besorgt hatten. »Vielleicht sogar heidnisch – das weiß
offenbar niemand so ganz genau. Wenigstens steinigen sie heutzutage
keine Zaunkönige mehr.«
»Zaunkönige steinigen?« Gemma schaute ihn fragend
von der Seite an. »Du meinst diese süßen kleinen Vögel?«
»Der 26. Dezember ist der Tag des heiligen
Stephanus, eines frühchristlichen Märtyrers, der zu Tode gesteinigt
wurde«, erklärte Kincaid, als sie sich hinter Toby durch die
vollbesetzte Kneipe schlängelten. »Der Legende nach war es der
Zaunkönig, der Stephanus an den Pöbel verriet, und deshalb sind die
jungen Burschen früher am zweiten Weihnachtstag losgezogen und
haben Zaunkönige mit Steinwürfen erlegt, als eine Art Vergeltung.
Dann haben sie den kleinen Vogelkörper an eine mit Bändern
geschmückte Stange gebunden und im Triumph durchs Dorf
getragen.«
»Puh.« Gemma verzog das Gesicht. »Du hast gewonnen.
Da ist mir der Mummenschanz wirklich noch lieber. Aber ihr
Provinzler habt wirklich alle einen kleinen Knall«, neckte sie ihn,
auch wenn sie dem Landleben trotz allem allmählich auch positive
Seiten abgewinnen konnte.
Sie hatte die Zeit mit den Kindern an diesem Morgen
sogar genossen – wenigstens mit den beiden Jüngeren. Sam hatte
erstaunlich viel Geduld mit Toby bewiesen, und Toby hatte mit
seinem unkomplizierten Enthusiasmus reagiert. Und die Ponys waren
auch ganz nett gewesen: zottige, freundliche Kreaturen, die sie
anstupsten und ihr die Möhren aus der Hand fraßen, während ihr Atem
sie in warme, nach fermentiertem Getreide riechende Wolken
hüllte.
Aber was ihr die Freude ein wenig verdorben hatte,
waren die Spannungen, die sie zwischen Kit und Lally wahrgenommen
hatte – obwohl die beiden einander die meiste Zeit offenbar bewusst
ignoriert hatten. Es beunruhigte Gemma, und
sie hätte darauf getippt, dass sie sich wegen irgendetwas
zerstritten hatten – doch dann wiederum hätte sie schwören können,
dass die beiden ein- oder zweimal vielsagende Blicke gewechselt
hatten. War da irgendetwas passiert, wovon sie nichts mitbekommen
hatte?
Als Kit am Abend zuvor von dem Spaziergang mit
Duncan zurückgekommen war, hatte er voller Begeisterung von dem
Boot erzählt, das er gesehen hatte, und von der Inhaberin, die ihn
und Duncan eingeladen hatte, sie noch einmal zu besuchen. War er
jetzt einfach nur verstimmt, weil der traditionelle Pub-Lunch am
zweiten Weihnachtstag seine Ausflugspläne durchkreuzt hatte?
Wenn dem so wäre, würde er das Barbridge Inn
vielleicht als einigermaßen passable Entschädigung empfinden,
dachte Gemma, als sie mit Duncan den Tisch in der Nähe des Kamins
erreichte, den die Familie sich rechtzeitig gesichert hatte. In
London bekamen die Jungen nur selten ein Pub von innen zu sehen,
aber das Barbridge gehörte zu jenen familienfreundlichen
Landgasthöfen, wo Kinder im Restaurantbereich willkommen
waren.
Es war wirklich ein einladendes Lokal, wie Gemma
zugeben musste: direkt am Kanal in dem kleinen Weiler Barbridge
gelegen, nur ein oder zwei Meilen vom Bauernhaus der Kincaids
entfernt. Die weitläufigen Gasträume waren mit alten Holztischen
und gemütlichen, abgewetzten Polsterbänken möbliert, in jedem
brannte ein Feuer im offenen Kamin, und an den Wänden hingen Drucke
mit Kanalmotiven. Es gab sogar ein Bücherregal, voll mit alten
Wälzern, die die Wirtsleute auch verkauften, und im großen Saal
bereitete sich eine Jazzband auf ihre Session vor.
Die Musiker waren nicht mehr die Jüngsten – alle
von hier und alles Freunde von Hugh, wie Rosemary erklärte, als
Gemma und Kincaid wieder Platz genommen hatten. Juliet
saß mit dem Rücken zum Kamin. Seit ihrer Rückkehr vom
Polizeirevier war sie sehr still gewesen, doch Gemma hatte den
Eindruck, dass sie sich in der gemütlichen Atmosphäre des belebten
Pubs allmählich zu entspannen begann. Ihre Züge wirkten weicher,
nicht mehr so gequält und verkniffen wie zuvor.
Die Kinder hatten sich an einen kleinen Tisch neben
dem der Erwachsenen gesetzt und ihre Stühle so gerückt, dass sie
die Band sehen konnten, aber Sam drehte sich immer wieder zu seiner
Mutter um, als wollte er sich vergewissern, dass sie nicht
plötzlich verschwunden war.
Gerade als das Essen serviert wurde, fing die Band
an zu spielen, und während sie die einfache, aber schmackhafte
Pub-Küche genossen, wippten sie alle unter dem Tisch im Takt mit
den Füßen. Nach ein paar Bissen ließ Toby schon sein Hühnchen mit
Pommes stehen, sprang auf und begann mit der vollkommen
unbefangenen Hingabe eines Fünfjährigen zu den Klängen der Band auf
und ab zu hüpfen. Es war eine fröhliche Musik, fand Gemma,
Dixieland-Jazz mit einem unwiderstehlichen, beschwingten Rhythmus,
und die Musiker waren nicht nur sehr gut, sondern schienen auch
großen Spaß an der Sache zu haben.
Als die Band eine Pause einlegte und die Musiker
sich mit ihren Taschentüchern den Schweiß von der Stirn wischten,
brach das Publikum in stürmischen Applaus und Jubelrufe aus. Gemma
hatte gerade ihren Stuhl zurückgeschoben, um mit Toby nach vorne zu
gehen und ihm die Instrumente zu zeigen, da bemerkte sie, wie
Juliets Miene plötzlich erstarrte. Als sie sich umdrehte, sah sie
Caspar Newcombe ein paar Schritte von ihnen entfernt stehen. Sie
wusste nicht, wie lange er sie alle schon unbemerkt beobachtet
hatte, doch jetzt trat er an den Tisch und stellte sich so hin,
dass Juliet sich nicht vom Fleck rühren konnte.
»Dachte ich mir’s doch, dass ich euch hier finden
würde«, sagte er erstaunlich freundlich und blickte mit einem
Lächeln in die Runde, das Gemmas Blut gefrieren ließ. Sie kannte
diese Art von Selbstbeherrschung, und sie war erschreckender als
jedes trunkene Gebrüll. »Ihr seid solche Gewohnheitstiere – zum
Glück für mich, da ihr euch ja nicht die Mühe gemacht habt, mich zu
eurem kleinen geselligen Beisammensein einzuladen.«
Aus dem Augenwinkel sah Gemma, dass Piers Dutton
und sein Sohn offenbar mit Caspar gekommen waren, doch sie
beobachteten die Szene von der Theke aus, als wollten sie nicht in
die heraufziehende Katastrophe hineingezogen werden.
»Ich dachte, wir könnten uns vielleicht mal ganz in
Ruhe unterhalten«, fuhr Caspar fort, der seine ganze Aufmerksamkeit
jetzt auf Juliet konzentrierte. »Du hast dich sehr
verantwortungslos verhalten, und du bist offensichtlich nicht in
der Lage, für die Kinder zu sorgen. Ich werde sie jetzt mit nach
Hause nehmen. Und du« – er zeigte mit dem Finger auf sie, und seine
sorgfältig gewahrte Selbstdisziplin geriet ins Wanken -, »du kannst
meinetwegen machen, was du willst, du dumme …«
»Caspar, mach bitte keine Szene«, ging Kincaid in
ruhigem, aber bestimmtem Ton dazwischen. Die Leute begannen sich
schon zu ihnen umzudrehen, und die Gespräche an den Nachbartischen
waren verstummt.
»Ich? Eine Szene machen?« Caspars Stimme triefte
vor Sarkasmus. »Und welchen Rat hast du deiner Schwester gegeben,
als sie sich ohne ein Wort aus dem Haus meiner Eltern gestohlen
hat? Hast du ihr etwa gesagt, es sei nicht weiter schlimm, dass sie
meine Eltern beleidigt und die Kinder völlig verstört hat?« Er
spielte die Rolle des zu Recht erzürnten Ehemanns mit Verve, doch
Gemma hatte das merkwürdige Gefühl, dass dieser Auftritt nicht
allein für Juliet und den Rest der Familie bestimmt war.
»Du bist es, der hier die Kinder verstört.« Hugh
stand auf, offenbar entschlossen, sich in die Bresche zu werfen,
und Gemma erinnerte sich an die Vorwürfe, die er sich gemacht
hatte, weil er seine Tochter am Heiligabend nicht gegen Caspars
verbale Attacke verteidigt hatte. »Das ist weder die Zeit noch der
Ort …«
»Sei still! Würdet ihr bitte alle ganz einfach den
Mund halten?« Juliet sprang auf und stieß dabei ihren Stuhl mit
einem so schrillen Quietschen zurück, dass alle Gäste, die noch
nicht fasziniert lauschten, auf sie aufmerksam wurden. »Niemand
muss für mich sprechen. Du nimmst die Kinder nicht mit, Caspar.«
Sie hatte die Hände erhoben und atmete schwer, und Gemma fürchtete,
dass die Situation jeden Moment in Handgreiflichkeiten ausarten
könnte.
»Sam! Lally!«, rief Caspar. »Kommt her. Auf der
Stelle.«
Einige Sekunden lang wagte niemand zu atmen. Dann
trat Sam langsam zu seiner Mutter. »Ich … ich will bei Mami
bleiben.« Er sah seinem Vater in die Augen, und nach einer Weile
wich Caspar seinem Blick aus.
»Lally.« Caspars Stimme klang jetzt drohend. Er
ging auf sie zu und streckte die Hand aus.
Verzweifelt starrte Lally zuerst ihn an, dann ihre
Mutter. Schließlich sprang sie von ihrem Stuhl auf und stürzte aus
dem Lokal.
In den nächsten Sekunden brach das Chaos aus, als
die ganze Familie instinktiv aufsprang und dem Mädchen nacheilen
wollte. Doch dann erhob sich Kits Stimme laut und klar über den
Tumult, mit einer Autorität, die Gemma von ihm nicht kannte. »Ich
gehe ihr nach. Lasst mich mit ihr reden.«
Kincaid zögerte, dann nickte er zustimmend. Kit
schnappte sich nur noch rasch Lallys Jacke, dann war er schon durch
die Seitentür verschwunden, durch die auch das Mädchen gegangen
war.
»So«, sagte Kincaid in einem Ton, der keine
Widerrede duldete. »Jules, du bleibst bei Sam.« Er legte die Hand
scheinbar ganz leicht auf die Schulter seines Schwagers, doch Gemma
sah, wie Caspar unter dem Druck zusammenzuckte. »Caspar, du kannst
die Kinder nicht zwingen, mit dir zu gehen«, fuhr er fort. »Wenn
sich alle ein bisschen beruhigt haben, werdet Juliet und du euch
sicher auf eine Besuchsregelung einigen können.
Und übrigens habe ich gerade gesehen, wie der
Barmann nach dem Telefonhörer gegriffen hat. Ich schätze mal, dass
er eine Ruhestörung melden will. Ich würde dir dringend raten zu
verschwinden, ehe die Polizei hier eintrifft – es sei denn, du
willst dich noch mehr blamieren. Komm, ich gehe mit dir nach
draußen, ja?«
Kit schob sich durch die Tür, die zu dem
Kinderspielplatz neben dem Pub führte, und blieb stehen, um sich zu
orientieren. Der bläulich graue Himmel hatte sich so tief
herabgesenkt, dass er mit dem Horizont zu verschmelzen schien, und
ein feiner Dunst hing in der frostigen Luft. Auf den
Klettergerüsten und den Zweigen der umstehenden Bäume begann sich
eine Reifschicht zu bilden. Hinter dem Grundstückszaun fiel die
Wiese sanft zum Kanal hin ab. In die Uferbefestigung aus Beton
waren Ringe zum Vertäuen der Leinen eingelassen. Sämtliche
Liegeplätze waren besetzt, doch die Boote lagen dunkel und
verlassen, die Vorhänge zugezogen, die Decks mit Planen
verhüllt.
Lally stand am Ufer, die Schultern hochgezogen, und
starrte auf den Kanal hinaus. Sie musste die Tür gehört haben, denn
jetzt machte sie eine Vierteldrehung und begann mit zögernden
Schritten die Uferbefestigung entlangzugehen, weg vom Pub.
»Lally, warte!«, rief Kit. »Ich bin’s!«
Sie blieb stehen und stieß mit der Spitze ihres
Turnschuhs einen der Eisenringe an, ohne sich zu ihm umzublicken.
»Hau ab, Kit. Lass mich in Ruhe.«
Kit schlüpfte durch das Tor im Spielplatzzaun und
rannte über den Rasen hinunter zum Ufer. »Wir können reden«, sagte
er, als er außer Atem neben ihr anhielt. »Hier.« Er gab ihr ihre
Jacke. »Ich dachte, die brauchst du vielleicht.«
»Ich will nicht reden«, sagte sie, doch die Jacke
zog sie gleich an.
»Hör mal, ich …« Er hatte sagen wollen, dass er
wisse, wie sie sich fühlte, doch dann wurde ihm klar, dass das
nicht ganz stimmte. Wie konnte er das wissen? Es waren schließlich
nicht seine Eltern gewesen, die sich gerade eben vor allen Leuten
im Pub gestritten hatten.
Zum ersten Mal begriff er, wie es anderen Menschen
gehen musste, wenn sie mit ihm über seine Mutter zu reden
versuchten. Wenn sie ihm sichtlich verlegen versicherten, dass sie
ihn verstünden, machte ihn das nur wütend – sie konnten
einfach nicht wissen, wie es war, wie er sich fühlte. Doch jetzt
erkannte er, dass es gar nicht darauf ankam, ob sie ihn verstanden
– was sie tatsächlich nicht konnten. Aber sie wollten ihm wirklich
helfen und gaben sich alle Mühe.
Und seine eigene Erfahrung sagte ihm auch, dass
Lally in Wirklichkeit gar nicht allein gelassen werden wollte, so
deutlich sie auch gesagt hatte, dass sie nicht reden wolle. Sie war
ein paar Schritte weitergegangen, bis zum Rand der
Betonbefestigung, und stand nun gefährlich nahe an der Wasserkante.
Hinter ihr spannte sich eine Steinbrücke über den Kanal, über die
man zum Leinpfad auf der anderen Seite gelangte.
Kit blickte sich zum Pub um. Wenn er zurückginge,
um zu sagen, dass er mit Lally einen Spaziergang machen wolle, wäre
sie vielleicht hinterher nicht mehr da. Seine Eltern würden einfach
darauf vertrauen müssen, dass er sich um sie kümmerte.
»Komm«, sagte er und begann den Hang zum Spielplatz und der Straße
hinaufzugehen. »Wir schauen uns die Boote auf der anderen Seite
an.« Er drehte sich nicht um, gab ihr einfach keine Chance, sich zu
weigern, und nach einer Weile hörte er das patschende Geräusch
ihrer Schritte im nassen Gras. Oben auf der Straße ging er etwas
langsamer, bis sie ihn eingeholt hatte, sah sie aber immer noch
nicht an und schwieg weiter beharrlich.
Auf dem höchsten Punkt der Brücke blieben sie in
stummem Einverständnis stehen und blickten kanalabwärts. Am linken
Kanalufer hatten ein Dutzend Boote dicht hintereinander
festgemacht, wie bunt bemalte Eisenbahnwaggons auf einem
überfluteten Abstellgleis.
Rechts war eine Reihe von Häusern zu sehen, deren
Grundstücke an private Anlegestellen grenzten, und dahinter
zeichneten sich die Umrisse einer Gruppe von Nadelbäumen
gespenstisch im Nebel ab. Mit ihren blanken Stämmen und den vollen
Kronen sahen sie aus wie die Bäume, die Toby immer malte.
»Früher bin ich immer gerne mit Sam
hierhergekommen.« Lallys Stimme klang leise und geisterhaft. »Wir
haben auf dem Spielplatz geschaukelt, und im Sommer konnte man
abends in die Boote reinschauen. Ich habe den Familien zugesehen
und mir vorgestellt, dass ihr Leben einfach perfekt wäre.«
Kit kannte das Spiel. Als er ein kleiner Junge
gewesen war, hatte auch er den Nachbarn in die Fenster geschaut und
sich gefragt, wie es wohl wäre, Geschwister zu haben. Dann, nachdem
Ian ihn und seine Mutter verlassen hatte, hatte er Familien mit
Vätern beobachtet und sich gefragt, warum manche bei ihren Frauen
und Kindern blieben und andere nicht. Und wenn er heute nach
Einbruch der Dunkelheit in ein Fenster ohne Vorhang blickte,
bildete er sich oft ein, das Gesicht seiner Mutter zu sehen – nur
für einen kurzen Augenblick.
Seine Hände waren kalt, und er vergrub sie tiefer
in den Taschen seiner Jacke. »Kein Leben ist perfekt.«
Lally fuhr herum, und ihre Augen funkelten wütend.
»Also, meins ist jedenfalls total beschissen. Wie konnten meine
Eltern nur so blöd sein. Und mein Papa – du weißt ja nicht, wie er
ist. Er wird …«
»Na, hast dich wohl davongeschlichen, um deinem
kleinen Cousin dein Herz auszuschütten?« Die Stimme war aalglatt
und voller Hohn, und Kit erkannte sie, noch während er vor Schreck
unwillkürlich zusammenfuhr.
»Leo! Du Schwein!« Lally wirbelte herum und
trommelte mit den Fäusten auf die Brust des Jungen, doch Leo packte
ihre beiden Handgelenke mit einer Hand und drehte sie wieder um,
als wäre sie eine Marionette.
»Pssst«, machte er. »Ihr wollt doch nicht, dass
alle mitkriegen, was ihr euch zu sagen habt. Ich könnte mir
vorstellen, dass eure Familie davon vorläufig mehr als genug hat.«
Damit erreichte er nur, dass Lally sich umso heftiger wehrte, doch
als sie sah, dass Kit auf sie zutrat, um einzugreifen, entspannte
sie sich, und Leo ließ sie los.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte Leo so beiläufig, als
wäre er ihnen nur zufällig auf der Straße begegnet, anstatt sich
von hinten an sie heranzuschleichen und sie zu Tode zu
erschrecken.
»Wir gehen nur ein bisschen spazieren. Die Boote
anschauen«, antwortete Kit und hoffte, damit deutlich gemacht zu
haben, dass sie keinen Wert auf seine Gesellschaft legten. Er ging
weiter zum anderen Ende der Brücke, und Lally folgte ihm.
»Dann komme ich mit.« Leo schloss sich Lally an.
»Mein Alter ist mit deinem Papa losgezogen, Lally – sie wollen sich
in einem ›gastfreundlicheren‹ Pub die Hucke vollsaufen -, also
stehe ich euch für den Rest des Abends zur Verfügung.«
»Dein Vater hat dich einfach allein gelassen?«,
fragte Kit, dessen Neugier stärker war als seine Antipathie.
»Ich bin ja schließlich kein Baby mehr, im
Gegensatz zu manchen anderen«, giftete Leo. Dann lächelte er. »Ich
hab gesagt, ich würde zu Fuß nach Hause gehen. Es ist nicht weit.
Ihr könnt ja mitkommen, dann schauen wir uns die Stelle an, wo
Juliet diese berühmte Mumie gefunden hat.« Er zog eine Schachtel
Zigaretten aus der Tasche seiner Marinejacke, klopfte zwei heraus
und gab eine davon Lally, ohne zu fragen, ob sie sie überhaupt
wollte. Sie blieb stehen und berührte seine Hand, als sie das Ende
der Zigarette in die Flamme hielt, und die selbstverständliche
Intimität der Geste traf Kit wie eine Faust in den Magen.
»Du kannst nicht einfach so einen Tatort betreten«,
sagte er, als sie im Gänsemarsch den Leinpfad entlanggingen, Leo
voran. »Das weiß doch jedes Kind.«
»Wer soll uns denn dabei sehen?«, konterte Leo.
»Die Polizei hat schon alles eingesammelt, und da ist nur noch so
ein blödes Absperrband. Wen soll das denn bitte aufhalten?«
»Du könntest Spuren vernichten.«
»Ach, hör ihn dir an, den kleinen Kommissar!
Schlägst wohl ganz nach dem Papa, wie? Und überhaupt, was macht das
schon? Das Ding hat wahrscheinlich schon ewig dagelegen. Stell dir
bloß vor, Lally …«
»Halt’s Maul, Leo.« Lally blieb so abrupt stehen,
dass Kit in sie hineinlief. »Das ist echt fies von dir. Ich gehe
keinen Schritt weiter, wenn du nicht endlich still bist.« Die
Feuchtigkeit in der Luft hatte sich in glitzernden Perlen auf ihrem
dunklen Haar abgesetzt, und jetzt formte sich ein kleiner Tropfen
an ihrer Nasenspitze. Sie wischte ihn mit dem Jackenärmel ab, ohne
den Blick von Leo zu wenden.
»Okay, okay.« Leo hob abwehrend die Hände, dann zog
er an seiner Zigarette. »Vergiss es. Ich hab sowieso schon einen
neuen Platz gefunden.«
Er und Lally sahen sich noch einen Moment länger
an, in
einem wortlosen Zwiegespräch. Dann schob sich Lally an Leo vorbei
und trottete stumm und mit gesenktem Kopf weiter. Kit wollte schon
die Hand nach ihr ausstrecken und vorschlagen, dass sie umkehrten,
als wenige Meter vor ihnen die Umrisse eines Boots aus dem Nebel
auftauchten. Er erkannte es sofort wieder.
Zwar war die saphirblaue Farbe durch die
Feuchtigkeit getrübt, doch die eleganten Linien der Lost
Horizon waren unverkennbar. In der Kabine brannte Licht, und
eine Rauchwolke hing schwer über dem Schornstein, kaum
unterscheidbar von dem Nebel, der sie umgab. Annie Lebow war zu
Hause.
Im ersten Impuls wollte Kit sie schon rufen. Er
könnte Lally das Boot zeigen; sie könnten sich aufwärmen;
vielleicht würde Annie ihnen sogar etwas Warmes zu trinken
anbieten. Aber dann wurden ihm gleichzeitig zwei Dinge klar.
Erstens wollte er ein Erlebnis, das ihm so viel
bedeutete, nicht mit Leo teilen, und er sah momentan keine
Möglichkeit, ihn loszuwerden. Zweitens hatte er erwartet, die
Horizon oberhalb von Barbridge anzutreffen, auf dem
Middlewich-Arm, wo er sie gestern gesehen hatte. Hatte Annie sich
das mit der Einladung doch noch anders überlegt? Vielleicht hatte
sie es ja von Anfang an nicht ernst gemeint.
Er fand die Vorstellung, dass sie gar nicht
vorgehabt hatte, ihre Verabredung einzuhalten, so demütigend, dass
er abrupt stehen blieb und sich wünschte, er wäre weit weg auf
einem anderen Planeten. Die beiden anderen blieben ebenfalls stehen
und sahen ihn verblüfft an. Wenn niemand etwas sagte, wenn sie auf
der Stelle umkehrten, könnte er vielleicht …
Es war zu spät. Die Hecktür des Boots schwang auf,
und Annie Lebow kam heraus, in der Hand eine Stofftragetasche für
Brennholz. Während sie nach den Holzscheiten griff, die sauber
gestapelt auf dem Bootsdach lagen, fiel ihr Blick auf die drei
Jugendlichen, die auf dem Leinpfad standen. Sie lächelte
ein wenig zögerlich. Das Grün ihrer Augen hob sich klar gegen den
grauen Himmel und ihre ebenso graue Fleecejacke ab, und ihr kurzes
blondes Haar war zerzaust, als sei sie in Gedanken mit den Fingern
durchgefahren. »Hallo«, sagte sie. »Kit, nicht wahr?«, fügte sie
hinzu, während sie ein paar Holzscheite in die Tragetasche
legte.
»Sie sind weitergefahren!«, platzte Kit heraus, um
sich gleich darauf insgeheim einen Vollidioten zu schimpfen. Jetzt
musste sie denken, er hätte nach ihr gesucht – als wäre er einer
von diesen Stalkern.
»Oh … ja.« Sie klang verwirrt, als hätte sie sich
noch gar keine Gedanken darüber gemacht. »Das war ein
Tages-Liegeplatz, und in Barbridge war alles belegt. Das habe ich
gestern zu erwähnen vergessen. Tut mir leid, wenn du nach mir
gesucht und mich nicht gefunden hast.«
»Nein.« Kit sah eine Möglichkeit, sich aus der
Verlegenheit zu retten. »Nein, wir haben … etwas mit der Familie
unternommen.« Etwas verspätet fügte er hinzu: »Das ist meine
Cousine Lally. Und das ist Leo. Wir sind bloß hier spazieren
gegangen, und da haben wir Ihr Boot gesehen.«
Annie musterte die drei. »Ihr seid ja ganz nass.
Und es ist schrecklich kalt. – Wollt ihr nicht reinkommen?«, fügte
sie hinzu, doch Kit konnte hören, dass es sie ein wenig Überwindung
kostete.
Er stellte sich vor, wie sie alle drei mit ihren
feuchten, dampfenden Klamotten in der engen Kabine der
Horizon hockten, während er sich mühte, Konversation zu
machen, und schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Wir müssen zurück.
Aber …«
»Du könntest morgen vorbeikommen. Das Wetter soll
wieder besser werden. Ich werde entweder hier sein oder in
Barbridge. Ich muss noch … etwas erledigen.« Sie klang, als ob das
sie überraschte.
»Okay, alles klar.« Kit hob linkisch die Hand zum
Gruß.
»Also, bis dann.« Hastig packte er Lally am Jackenärmel und zog
sie in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Leo konnte
schauen, wo er blieb, dachte er sich.
Aber gleich darauf hörte er schon Schritte und das
Rascheln von Stoff hinter sich, und dann legte sich ein Arm schwer
um seine Schultern.
»Na, hast wohl’n geiles Date gehabt, wie?«,
flüsterte Leo. Kit spürte seinen warmen Atem im Ohr. »Bisschen alt
für dich, findest du nicht? Oder macht das die Sache noch
interessanter?« Als Kit ihn abzuschütteln versuchte, drückte Leo
noch fester zu. »Ich finde, du musst uns alles darüber
erzählen.«
Es läutete am anderen Ende. Der Ton klang blechern
und fern aus dem Handy an Annies Ohr. Sie stellte sich das Haus
vor, malte sich aus, wie Roger fluchend von seinem Laptop aufstand
und das schnurlose Telefon suchte, das er mal wieder verlegt hatte.
Aber vielleicht hatte er sich ja geändert: Vielleicht war er ja
nicht mehr so chaotisch, nicht mehr so besessen von seiner Arbeit,
seit sie nicht mehr im Hintergrund wirkte.
Aber nach einer Weile sprang der Anrufbeantworter
an, und sie legte auf. Sie wollte keine Nachricht hinterlassen –
Roger würde ihre Nummer auf dem Display sehen, und nur zu sagen
»Ruf mich an«, kam ihr irgendwie albern und überflüssig vor. Er
würde sie zurückrufen – das tat er immer, auch wenn sie sich
manchmal fragte, warum er das eigentlich tat.
Der trübe Tag war unmerklich in die Nacht
übergegangen, und Annie hatte sich nicht dazu aufraffen können,
irgendetwas Sinnvolles anzupacken. Unvermutet hatte sie den Wunsch
verspürt, mit ihrem Mann zu sprechen, als ob es ihr helfen könnte,
ihr Gefühlschaos zu ordnen. Jetzt aber merkte sie, dass sie gar
nicht recht wusste, was sie ihm eigentlich sagen wollte. Es war ihr
noch nie leicht gefallen, sich anderen anzuvertrauen
– das war einer der Gründe, weshalb sie sich getrennt hatten.
Wieso hatte sie geglaubt, das würde jetzt plötzlich anders
sein?
Sie schlenderte vom Salon in die Kombüse und nahm
eine angebrochene Flasche australischen Chardonnay aus dem
Kühlschrank. Doch als sie nach einem Glas griff, spürte sie, wie
das Boot sich ganz leicht bewegte, und hielt verwirrt inne. Sie
kannte alle Macken des Bootes, jedes Knarren und Quietschen, und
registrierte eine Bewegung nur, wenn sie nicht in das normale
Schema passte. Das war keine Bugwelle gewesen – sie hätte es auch
gehört, wenn ein anderes Boot vorbeigefahren wäre; und sie hatte
sich vergewissert, dass die Leinen fest vertäut waren. Vielleicht
hatte ja einer der Bodenanker sich in der feuchten Erde ein wenig
gelockert. Sie würde nachsehen, wenn sie das nächste Mal Holz holen
ging, sagte sie sich.
Die kurze Störung verstärkte jedoch die Unruhe, die
sie schon den ganzen Nachmittag über geplagt hatte, und sie
beschloss, auf den Wein zu verzichten. Sie wollte einen klaren Kopf
behalten – und sie wollte auch nicht wirr klingen, wenn Roger
zurückrief. Also schaltete sie stattdessen den Wasserkocher ein,
gab eine halbe Zitrone in Scheiben zusammen mit etwas Ingwer in
einen Teebecher und goss kochendes Wasser darüber. Der Duft dieses
hausgemachten Gebräus war immer besser als sein Geschmack, und sie
hielt sich den dampfenden Becher unter die Nase, als sie zurück in
den Salon ging.
Im Ofen brannte ein munteres Feuer, und das Buch
von Tom Rolt, das Roger ihr geschenkt hatte, lag aufgeschlagen auf
dem Couchtisch. Aber kaum hatte sie es sich auf dem Sofa bequem
gemacht und das Buch zur Hand genommen, da drifteten ihre Gedanken
wieder ab.
Sie hatte selbst zwar nie Kinder gehabt, hatte aber
jahrelang mit jungen Menschen gearbeitet und dabei ein feines
Gespür für ihre Probleme entwickelt. Gestern hatte sie sich zu Kit
hingezogen
gefühlt, wenngleich sie hinter all seiner Freundlichkeit eine
Reserviertheit gespürt hatte, die eher zu einem Erwachsenen als zu
einem Jungen seines Alters zu passen schien. Aber heute hatte sie
das deutliche Gefühl gehabt, dass da irgendetwas nicht stimmte –
eine sehr ungesunde Dynamik zwischen den drei Jugendlichen. War es
nur auf den pubertären Testosteron-Überschuss zurückzuführen? Das
Mädchen – Kits Cousine, wie er gesagt hatte – war von einer
puppenhaften Schönheit, und sie hatte jenen gehetzten Blick, den
Annie von traumatisierten Kindern kannte. Vielleicht wetteiferten
die Jungen ja um die Rolle ihres Beschützers – und da war die
Katastrophe natürlich schon vorprogrammiert.
Aber was immer es sein mochte, sagte sie sich, es
war nicht ihr Problem. Sie hatte genug zu tun mit dieser anderen
unmöglichen Situation, in die sie sich hineinmanövriert hatte. Für
die Wains hatte sie getan, was sie konnte; jetzt musste sie die
Sache endlich vergessen.
»Sind Sie sicher, dass sie sterben muss?«, hatte
sie Althea Elsworthy gefragt, als sie auf dem Parkplatz in
Barbridge gestanden hatten.
»So sicher, wie man sich nur sein kann ohne
adäquate Diagnosemethoden«, hatte die Rechtsmedizinerin barsch
erwidert. »Erst fragen Sie mich nach meiner Meinung, und dann
wollen Sie sie nicht akzeptieren?«
»Nein, ich …«
Dr. Elsworthy schüttelte den Kopf. »Nein, es tut
mir leid. Mir gefällt das ja auch nicht. Es besteht noch eine
geringe Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Herztransplantation
überleben könnte. Immer vorausgesetzt, dass sie trotz des
MSS-Eintrags in ihrer Patientenakte auf die Warteliste kommt und
dass sie so lange durchhält, bis ein Spenderherz zur Verfügung
steht. Und die Vorbedingung wäre natürlich, dass sie und ihr Mann
bereit sind, sich dem System anzuvertrauen. Wir können
niemanden zwingen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.«
Das nicht, dachte Annie jetzt; aber sollte sie
nicht doch noch ein letztes Mal versuchen, Rowan und Gabriel Wain
dazu zu überreden, sich in medizinische Betreuung zu begeben? Sie
hatte sich einzureden versucht, dass sie sich von allem frei machen
könne, dass der Rückzug in die Isolation sie gegen den Schmerz
immun machen würde, doch sie hatte den Frieden, den sie suchte,
nicht gefunden. Vielleicht musste sie ja zu der Erkenntnis
gelangen, dass es so etwas einfach nicht gab. Und wenn sie
aufhörte, nach Vollkommenheit zu streben, könnte sie dann
vielleicht einen Neustart wagen und wieder festen Boden unter die
Füße bekommen?
Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. Roger, der
Vollblut-Journalist, hätte ihr wahrscheinlich gesagt, dass man
Metaphern besser den Profis überlassen sollte. Sie nippte an ihrem
Getränk, das inzwischen abgekühlt war, und verzog das Gesicht, als
sie die saure Zitrone schmeckte. In diesem Moment klingelte ihr
Handy, und sie registrierte überrascht, wie ihr Herz vor banger
Erwartung pochte, als sie das Gespräch annahm.
»Zwei Anrufe in zwei Tagen?« Roger klang amüsiert.
»Womit habe ich diese intensive Zuwendung verdient?«
»Ich … ich wollte einfach nur reden.«
»Geht es dir gut?«, fragte er. Seine Heiterkeit war
sofort in Besorgnis umgeschlagen.
»Ja. Ich glaube schon«, antwortete Annie. Dann
musste sie selbst lachen, weil sie so überrascht geklungen hatte.
»Doch. Wirklich.«
»Also, wie sieht’s aus mit essen gehen? Ich könnte
dich mit dem Wagen abholen.«
Sie sah nach der Uhr und spähte dann durch die halb
geschlossene Jalousie des Kabinenfensters hinaus. Nebelschwaden
wallten gegen die Scheibe und wanden sich wie die Tentakel eines
weißen Ungetüms. »Der Nebel ist inzwischen sehr dicht. Ich glaube,
ich sollte es lieber nicht riskieren, mit dem Boot weiterzufahren,
und ich liege auf halbem Weg zwischen Barbridge und Hurleston
Junction. Da wärst du ziemlich lange unterwegs, und außerdem könnte
es auf den Straßen glatt werden.« Aber noch während sie diese
praktischen Einwände vorbrachte, spürte sie, wie die Enttäuschung
in ihr aufstieg. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so
schnell zurückrufen würde, und bis zu diesem Moment war ihr nicht
klar gewesen, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, mit ihm über
ihre Sorgen und Nöte sprechen zu können.
»Dann vielleicht morgen?«, fragte er, und sie hörte
die Hoffnung aus der vorsichtigen Frage heraus.
»Morgen«, sagte sie mit Bestimmtheit.
Kit erwachte mit einem Ruck und sog gierig die
Luft in seine Lungen, während das Hämmern seines Pulses ihm immer
noch in den Ohren dröhnte. Als er sich aufsetzte, sah er, dass er
die Decke auf den Boden geworfen und die arme Tess wieder ans
Fußende des Betts geschoben hatte. Es war still im Zimmer, bis auf
das Geräusch von Tobys Atem, und das Licht, das durch den Spalt im
Vorhang fiel, hatte den perlmuttartigen Schimmer des frühen
Morgens.
Einigermaßen beruhigt beugte Kit sich über den
Bettrand, um die Decke aufzuheben, und zog Tess zu sich heran. Die
kleine Hündin leckte ihm freudig das Kinn, und er drückte sie an
sich und rieb seine Wange an den rauen, elastischen Haaren auf
ihrem Kopf. Dann ließ er sich wieder auf das Kissen sinken, und
während Tess sich in seine Armbeuge kuschelte, zwang er sich, den
Albtraum unter die Lupe zu nehmen. Dieser hier war ganz anders
gewesen.
Er war am Fluss spazieren gegangen, hinter dem
Cottage in
Grantchester, wo er die ersten elf Jahre seines Lebens mit seiner
Mutter gewohnt hatte und die ersten zehn davon mit dem Mann, den er
als seinen Vater gekannt hatte, Ian McClellan. Es war die Zeit der
Abenddämmerung, und er konnte die kalte, feuchte Luft riechen, die
vom Fluss aufstieg … nur dass ihm im Traum plötzlich klar geworden
war, dass es gar kein Fluss war, sondern ein Kanal.
Dann hatte er Licht im Fenster des Cottage gesehen
und war darauf zugelaufen, war über den vertrauten Rasen geschwebt
wie ein Geist. Die ganze Zeit hatte er das Gefühl, dass das Fenster
sich von ihm entfernte, doch als er es endlich erreichte und
hineinschaute, war es nicht seine Mutter, die er erblickte, sondern
Lally. Sie drehte sich zu ihm um, doch ihr Gesicht war blass und
seltsam ausdruckslos, und Blut troff von ihren Händen und klatschte
auf den weißen Boden …
Nein, es war gar kein Fußboden, sondern Schnee, und
Blutflecken breiteten sich in dem weißen Pulver aus wie rote
Blüten, die vor seinen Augen aufgingen, und er rannte und rannte,
versuchte sie einzuholen, doch der Schnee blieb an seinen Füßen
hängen, und seine Beine wurden schwerer und schwerer. Dann
schlüpfte die dunkle Gestalt vor ihm durch eine Öffnung, und als
Kit ihr folgte, erkannte er plötzlich, wo er war – es war der
Eibentunnel im Garten seines Freundes Nathan.
Hoffnung regte sich in ihm: Hier war er zu Hause,
hier könnte er sie festhalten, hier wäre sie in Sicherheit. Doch
seine Füße blieben immer noch im tiefen Schnee stecken, und gerade
als er sich darüber wunderte, dass in einem Tunnel Schnee liegen
konnte, merkte er, dass es gar nicht die Eibenhecke war, sondern
ein Kanaltunnel, und es war nicht Schnee, was da über seinem Kopf
zusammenschlug, sondern Wasser …
Reflexartig war er zusammengezuckt und davon wach
geworden, doch noch die Erinnerung an den Traum ließ ihn
erschauern. Tess winselte, und er merkte, dass er sie so fest
gepackt
hatte, dass er ihr wehgetan hatte. »Entschuldigung, Mädchen, tut
mir echt leid«, flüsterte er und streichelte sie, während er mit
aller Kraft die Angst zu vertreiben suchte. Es war nur ein Traum,
und man musste nicht lange nach der Quelle suchen, aus der sein
Unbewusstes ihn geschöpft hatte. Seine Sorge um Lally hatte einfach
nur die Barriere zwischen Wachzustand und Schlaf
durchbrochen.
Auf dem Rückweg zum Pub gestern Abend war sie sehr
still gewesen. Sie hatte ihn ignoriert, wie sie auch Leos
Spötteleien über Annie ignoriert hatte, und als Leo sich
schließlich in Barbridge von ihnen getrennt hatte, da hatte sie ihm
noch nicht einmal auf Wiedersehen gesagt.
Sie hatten alle auf sie gewartet: Duncan und Gemma,
seine Großeltern, Juliet und Sam, aber niemand hatte irgendwelche
Fragen gestellt oder ihn und Lally kritisiert. Doch auf dem
Nachhauseweg, und auch später, als sie die Putensandwiches aßen,
die Rosemary zum Abendessen gemacht hatte, hatten die Erwachsenen
sich über alles Mögliche unterhalten, als ob gar nichts passiert
wäre. Kit begriff, dass sie damit die Kinder beruhigen wollten,
aber es hatte ihm nicht geholfen und Lally, wie er annahm, auch
nicht.
Nach dem Abendessen war ein Freund von Hugh
vorbeigekommen und mit Juliet in die Küche gegangen, um mit ihr zu
sprechen, und obwohl niemand es gesagt hatte, vermutete Kit, dass
der Mann Anwalt war.
Rosemary scheuchte alle anderen ins Wohnzimmer, wo
sie sich vor dem Kamin zu einem Scrabble-Turnier versammelten, aber
nach einer Weile begann Lallys Blick vom Brett abzuschweifen, wenn
sie nicht an der Reihe war, und schließlich verschwand sie und kam
nicht mehr zurück. Kit konnte sich auch nicht mehr auf das Spiel
konzentrieren, und nachdem Hugh ihn und Gemma haushoch geschlagen
hatte, entschuldigte er sich und schlich ebenfalls aus dem
Zimmer.
Aus der Küche war immer noch das Gemurmel der
Stimmen zu hören; die des Mannes tief und ruhig, die seiner Tante
Juliet auf- und abschwellend wie die Brandung am Strand. Leise war
er die Treppe hinaufgeschlichen und hatte gesehen, dass die Tür von
Hughs Arbeitszimmer, wo Lally letzte Nacht mit ihrer Mutter
geschlafen hatte, halb offen stand.
Er hatte sich nicht überlegt, was er sagen wollte,
sondern einfach nur die Tür aufgestoßen. Lally saß auf dem
Fußboden, mit dem Rücken zum Bettsofa, den linken Ärmel ihres
Sweatshirts bis über den Ellbogen hochgekrempelt. Sie zog gerade
ein Pflaster von der Innenseite ihres Unterarms ab, und unter der
weißen Gaze quoll hellrotes Blut hervor.
Dann entdeckte er oberhalb des Pflasters einen
schorfig verheilten Schnitt – einen horizontalen Schlitz in der
weißen Haut, und darüber noch einen, und noch einen, violette
Narben, schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen.
»Lally, was tust du da?«, schrie er, seine Stimme
schrill vor Entsetzen.
Sie zog den Ärmel des Sweatshirts mit einem Ruck
herunter. »Nichts. Klopft man bei euch nicht an?«
»Ich hab ja nicht gewusst …« Er schüttelte den
Kopf. »Das spielt doch keine Rolle. Lass mich sehen, was du mit
deinem Arm gemacht hast.«
»Das ist nur ein Kratzer. Das geht dich nichts an,
Kit.« Sie verschränkte die Arme fest unter ihren kleinen
Brüsten.
»Von wegen, nur ein Kratzer. Ich hab’s doch
gesehen«, beharrte er. »Du hast dich geschnitten, und zwar mehr als
einmal.«
Sie funkelten einander böse an, keiner wollte
nachgeben, bis sie schließlich beiläufig mit den Schultern zuckte.
»Na und?«
Kit, der auf dieses ungeheuerliche Geständnis nicht
vorbereitet war, konnte sie nur ungläubig anstarren. »Aber das
kannst du doch nicht machen. Du kannst dir doch nicht selbst
wehtun.«
»Wieso nicht?« Sie lächelte, schwang sich nach vorn
auf die Knie und reckte trotzig das Kinn in die Höhe. »Wehe, du
erzählst es weiter.«
»Davon kannst du mich nicht abhalten«, erwiderte
er. Seine Wut und seine Angst machten ihn unbesonnen.
»O doch, das kann ich.« Ihre dunklen Augen
fixierten ihn drohend. »Denn wenn du mich verrätst, werde ich noch
etwas viel, viel Schlimmeres tun, und es wird deine Schuld
sein.«
Die Erinnerung trieb Kit aus dem Bett, doch er
bewegte sich leise, um Toby nicht zu wecken, als er in seine
Kleider schlüpfte. Der Reisewecker auf dem Schreibtisch war zwar am
Tag zuvor stehen geblieben, weil die Batterie leer war, doch die
Qualität des Lichts und die absolute Stille im Haus verrieten ihm,
dass es noch früh war, vielleicht erst kurz nach
Tagesanbruch.
Er wusste, dass er die anderen jetzt nicht ertragen
könnte, dass er Lally nicht am Frühstückstisch gegenübersitzen und
so tun könnte, als sei alles in Ordnung. Als er angezogen war,
kramte er ein Blatt Papier und einen Stift aus seinem Rucksack und
schrieb: »Bin mit Tess spazieren gegangen. Komme bald wieder.« Dann
nahm er den Hund auf den Arm und schlich aus dem Zimmer. Den Zettel
legte er vor der Zimmertür auf den Boden.
Niemand begegnete ihm, als er die Treppe
hinunterging und zur Haustür hinausschlüpfte. Er hatte Tess’ Leine
vergessen, aber das war nicht weiter schlimm; er hatte nicht vor,
in die Nähe einer Straße zu gehen. Die Sonne war noch nicht
aufgegangen, aber der Nebel hatte sich über Nacht gelichtet, und
der Himmel leuchtete blassgolden, mit einem rosigen Schimmer im
Osten.
Die Luft war kalt und frisch, wie durch den Nebel
gereinigt, und als der Bogen der Sonne über den Horizont stieg,
glitzerte
das Eis an Bäumen und Hecken wie Kristall. Kit hielt inne, um den
herrlichen Anblick zu genießen. Lange stand er da und schaute, als
könne er die Vollkommenheit festhalten.
Dann begann sein Magen zu knurren und erinnerte ihn
daran, wie die Zeit verging. Er wusste, dass er umkehren sollte –
er wollte ja nicht, dass sie sich Sorgen um ihn machten -, doch als
Tess vorauslief, folgte er ihr. Nicht einmal der herrliche
Sonnenaufgang hatte das Unbehagen, das von seinem Traum
zurückgeblieben war, ganz vertreiben können. Und er hatte sich auch
noch nicht überlegt, was er wegen Lally unternehmen sollte.
An der Middlewich Junction angelangt, wandte er
sich nach Süden und passierte das schlafende Barbridge Inn auf der
anderen Seite des Kanals. Wenn er immer weiterginge, dachte er,
würde er auf die Horizon stoßen, und wenn Annie schon auf
wäre, könnte er sich für gestern entschuldigen. Er war furchtbar
unhöflich gewesen, und sie sollte nicht denken, dass er nicht
wiederkommen wollte. Vielleicht könnten sie sogar für später etwas
ausmachen.
Er fürchtete schon, dass der gestrige Nebel seine
Wahrnehmung der Entfernungen verzerrt haben könnte, doch bald
darauf bog er um eine Kurve und sah die Horizon genau da
liegen, wo er sie vermutet hatte. Die blaue Farbe glänzte in der
Morgensonne, doch vom Schornstein stieg kein Rauch auf. Er
schluckte seine Enttäuschung hinunter und ging weiter – vielleicht
war sie ja doch schon auf und hatte nur noch kein Feuer im Ofen
gemacht. Tess war ein paar Schritte zurückgeblieben und buddelte am
Rand der Hecke in der Erde, aber er ließ sie gewähren und vertraute
darauf, dass sie ihn schon einholen würde.
Kein Geräusch kam vom Boot, keine Bewegung war zu
sehen, und er hatte sich gerade entschlossen, kehrtzumachen, als er
neben dem Leinpfad auf Höhe des Bugs eine zusammengesunkene
Gestalt erblickte. Seine Schritte wurden langsamer, merkwürdig
gehemmt wie in seinem Traum, doch er zwang sich weiterzugehen. Das
Blut rauschte in seinen Ohren, er rang nach Luft, während sein
Gehirn zu verarbeiten suchte, was jeden Albtraum weit in den
Schatten stellte.
Annie Lebow lag zwischen dem Fußpfad und der Hecke.
Einer ihrer Schuhe lag einen knappen Meter von ihrem ausgestreckten
Bein entfernt, und er musste gegen die Versuchung ankämpfen, ihn
aufzuheben und ihn ihr wieder anzuziehen. Sie lag auf der Seite,
einen Arm über das Gesicht geworfen, wie um ihre Augen vor der
aufgehenden Sonne zu schützen.
Kit erstarrte und schluckte krampfhaft, um die
aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen. Das Blut, das sich in einer
Lache unter ihrem blonden, in Spitzen abstehenden Haar gesammelt
hatte, war nicht leuchtend rot wie in seinem Traum, sondern schwarz
wie Teer.